Antwort auf: Ich höre gerade … Jazz!

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gypsy-tail-wind
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redbeansandriceGypsy, nie gesehen aber das Johnsonalbum sieht gut aus… Tommy Whittle ist doch ein vergleichsweise bekannter Tenorist? Louis Stewart fand ich zuletzt mit Tubby Hayes zweimal ziemlich gut

Stimmt, Whittle hatte ich übersehen bzw. in dem Kontext nicht erkannt … Willox wäre wohl der Kandidat für Alt-Schnörkel, aber die hörte ich nicht. Eine prominenten Rhythmusgitarre gibt es dann mal noch, aber das ist wirklich alles klassisch vom Gestus her (und ja, auf der Tubby Hayes-Session ist Stewart gut!)

Bin inzwischen bei der Fortsetzung, die sehr viel jazziger geraten ist:

Hier lesen sich die Line-Ups fast wie ein Who-Is-Who. Kernzelle ist das damalige Johnson Quintet mit Dan Faulk, Renee Rosnes, Rufus Reid und Victor Lewis, arrangiert haben neben dem Leader und Farnon (einmal) auch Robin Eubanks (einmal) und Slide Hampton (zweimal), es gibt nur einen alten Song („Wild Is the Wind“ – auf „Tangence“ gibt es da „The Very Thought of You“, „Malagueña“, „The End of a Love Affair“, zudem Bobby Troups „The Meaning of the Blues“, Johnsons „Lament“, das Thema aus „Dinner for One“ und „Amazing Grace“), ein paar Jazz-Klassiker (ein tolles Johnson-Arrangement von „Gingerbread Boy“ und am Ende – so weit bin ich noch nicht – „Swing Spring“ von Miles Davis, auch arr. Johnson), ein Filmthema („Wild Is the Wind“), zwei Sätze aus der tollen Johnson-Suite „Perceptions“ (im Original mit Dizzy Gillespie, hier übernimmt Jon Faddis), zudem einige Originals von Johnson und je eines von Eubanks und Hampton. Zu den Solisten gehören neben dem Leader, Faulk, Rosnes und Faddis auch Eddie Henderson (er spielt alle Trompetensoli ausser in „Perceptions“), Joe Wilder (er spielt übrigens sonst überall auch in den Sections mit – im Stück soliert er neben Henderson) und Eubanks (er darf im Hampton-Stück und in seinem eigenen das Posaunensolo spielen, Johnson hören wir da gar nicht). Das ist auch wieder hervorragend gemacht, aber mich erschlägt es gerade ein wenig auf Dauer, egal wie schön und zart vieles dann doch ist. Es gibt aber tolle Effekte, z.B. in „Comfort Zone“ (dem Hampton-Stück) einen Orgel-Effekt, der u.a. von zwei Tubas (natürlich Howard Johnson, zudem Andy Rodgers, sie sind fast immer zu zweit) erzeugt wird. Johnsons „If I Hit the Lottery“ ist dann eine Art Variante über „Blues March“ von den Jazz Messengers, „Ballad for Joe“ (von Johnson und eben mit Wilder und Henderson sowie dem Leader) ist wahnsinnig shcön, nicht nur hier kommt die Harfe (Francesca Corsi) prominent zum Einsatz. Und wie es sich für ein echtes Brass-Album gehört, sind neben Trompeten und Posaunen sowie den erwähnten Tuben auch Hörner und Euphonien dabei.

Sonst sind u.a. Lew Soloff, Earl Gardner, Byron Stripling, John Clark, Steve Turre, Douglas Pruviance und Dave Taylor dabei. Einer der Euphonium-Spieler (Euphonisten, Euphemisten?) ist Alan Raph, der üblicherweise Posaune spielt und hie und da bei Jazz-Sessions auftaucht (z.B. in der Concert Jazz Band von Gerry Mulligan, aber auch auf CTI-Sessions von Stanley Turrentine oder in der Band von Gatos „Chapter Three“) und eine ziemlich breit gestreute Karriere gehabt hat (immer noch hat? *1933), von Stokowski über Diana Ross zum Bolschoi-Theater. Und klar, auch das eine Produktion, die mit grosser Umsicht gemacht wurde (nicht Allard, der „Tangence“ zusammen mit John Snyder produzierte, sondern Johnson, Don Sickler und Richard Seidel). 16seitiges Booklet, davon die Hälfte Liner Notes von Stanley Crouch plus eine Seite, auf der Quincy Jones und Benny Carter (von ihm stammt der Opener des Albums, der war ja 1996 noch quicklebendig!) sich über Johnson äussern.

Irgendwie ist das schon krass – das hier entstand ca. Parallel zum Durchbruch von Brad Mehldau oder Joshua Redman, haben wir alle (?) in Echtzeit erlebt … hält einem mal schön vor Augen, dass auch die selbst erlebte Zeit grössten Wandlungen unterworfen ist. Einerseits sind die fast alle tot, andererseits produzieren Majorlabel seit 20 Jahren keine solchen Alben mehr (auch nicht die Quintett-Fassung davon) … aber klar, es tat sich ja – zum Glück – neben Mehldau und Redman dann doch noch einiges mehr … und wo ich vorhin meine Third Stream-Bemerkung tippte, dachte ich z.B. an Tyshawn Sorey, andere Namen wären Ingrid Laubrock (das feine aktuelle Doppelalbum auf Intakt ist eine schöne neue Erinnerung daran) oder Cory Smythe, die in der Verschmelzung von „klassischen“ Formen und Jazz, die vollkommen anders funktionieren – und für mein Empfinden sehr viel interessanter sind, organischer, als fast alles, was in den Fünfzigern und Sechzigern geschah (was wiederum natürlich die Basis für die Johnson-Alben ist, wobei ich das bei Farnon nicht einschätzen kann).

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