Antwort auf: Miles Davis und Karlheinz Stockhausen – wechselseitige Beeinflussungen?

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So, und gerade auch den Aufsatz von Bergstein gelesen – verstehe ich das richtig @mr-badlands, dass dieser den Ausgangspunkt der Überlegungen darstellt, die Du oben umreisst? Das war mir zunächst nicht klar geworden.

Ich finde das alles, wie soll ich sagen, sehr unterkomplex. Und ich meine damit Sätze wie die folgenden:

Thus, Davis’s apprenticeship with Charlie Parker is doubly significant because of Parker’s „enduring innovation of precisely splitting the four beats in a bar into eight,“ just as an African musician would use the eighth note as his basic rhythmic unit.[4] The quarter-note division common in European music was replaced by the innovations of the bebop movement and internalized by the young Miles Davis. Amiri Baraka states that „the re-establishment of the hegemony of polyrhythms (in the Bop movement) and the actual subjugation of melody to these rhythms are much closer to a purely African way of making music.“[5] It can be argued that these African derivations were fused with American and European concepts (S. 504f.)

Der erste Satz … bitte? Okay, das ist ein Zitat von Gunther Schuller (Fussnote 4), macht es aber nicht bedeutsamer im Kontext, der dann ja im nächsten Satz in eine völlig andere Richtung geht. „Gleichmässige“ Achtel spielt ja Parker eh nicht gerade, er spielt sie gleichmässiger als im Swing davor üblich, aber es geht da dann um Akzente, um Gewichtung usw., die den Swing ja eher noch verblüffender machen (und diese rhythmische Dimension macht doch Jazzmusik – nicht den elektrischen Miles sondern den „klassischen“ Jazz davor, bis und mit dem Hard Bop und dem nebenher laufenden Soul Jazz – so mitreissend). Dann kommt Baraka als Gewährsmann, und ein „it can be argued“ – dann tu das, bitte, ich höre zu! – und schon haben wir die universelle Vermischung, die der Autor für sein eigenes Gebräu brauchen wird. Sorry, das ist mir sehr viel zu schlampig argumentiert.

The greatest impact on the development of African and Indian influences in jazz came from John Coltrane, who was twice a member of Miles Davis’s band. Letters to Alice Coltrane document that Coltrane’s interest in African music dates from early 1960, just after his second stint with Davis. Coltrane’s study of Eastern music had already combined with Davis’s method of using uncommon modes; the addition of new African techniques first appears in Coltrane’s „Africa“ from the album Africa Brass (1961). During the same year, he also composed „India.“ Although the presence of Indian influences in this piece is controversial, conversations and letters between Ravi Shankar and Coltrane have been documented, and even though there was never a recording session, Coltrane did name his first son Ravi, after the Indian master. (S. 505)

Die grösste Wirkung betreffend Entwicklungen afrikanischer und indischer Einflüsse im Jazz? Klar, Coltrane, die Lichtgestalt und Überfigur, der Heilige des modernen Jazz – da bin ich bei allem voll dabei (also bei dieser ironischen Auflistung), aber „the presence of Indian influences in this piece is controversial“ – ja, wo ist sie denn? Ach so, auf den Sohn Ravi projiziert mit viel tiefem Denken vermutlich ;-)

Dann wieder Davis, der da (ja, wo jetzt?) zugehört habe:

In the late 1960s and early 1970s, he integrated Indian instruments, such as the sitar and tabla, directly into his ensemble. (S. 505)

Hat er denn die Sitar integriert? Hat es sich drum geschert, wie die Sitar in der indischen Musik funktioniert, kann da von einer echten Integration gesprochen werden? Ich glaube nicht, aber ich lasse mich gerne von @vorgarten eines besseren belehren. Für mich kommt das wie eine Klangfarbe rüber, ein weiteres Stück in der immer dichter verwobenen Textur – was ja gleich auch kommt bei Bergstein, aber das ist dann der „afrikanische“ Einfluss: „African concepts became apparent not only in his use of drum choirs, but also in the multilayering of electric keyboards and guitars…“ (S. 505f.).

Und dann lapidar: „Hindu rhythms were also important in the development of Stockhausen’s music.“ – Und als Beleg führt Bergstein dann Messiaen an (S. 506). Hmmmm. Okay, Stockhausen hat gemäss eigener Aussage diese Rhythmen von diesem gelernt … auch davor wird schon Secondhand-Wissen (via Bartók) aufgeführt. Ich hätte dazu gerne etwas mehr, ein paar eigene Beobachtungen von Bergstein, nicht nur referieren von Dingen, die andere mal gesagt oder geschrieben haben.

Das Kapitel über das Nutzen des Studios und der Technik als Instrument oder Mittel der Komposition – da habe ich nichts zu kritteln. Aber wenn es um die „Process Composition“ geht, habe ich wieder Mühe – aber die habe ich gestern bereits artikuliert. Um es nochmal auf den Punkt zu bringen: im wirklich spontanen Jazz (das Fass, was das ist, müssen wir hier nicht öffnen, es gibt Soli die klingen nach Autopilot und verlassen sich auf die wie am Schnürchen perlende Rhythmusgruppe; oder die Momente, in denen einer aufsteht und über die Big Band sein Statement abgibt, während die ganze Begleitung mehr oder weniger jeden Abend gleich abgespult wird … aber klar, selbst da kann es spontane Reaktionen geben, der Gitarrist spielt einen anderen Akkord als üblich, der Barisaxer oder die Bassposaune ist in den Riffs richtig präsent, der Drummer spielt immer wieder andere Fills usw. > der Solist reagiert drauf) ist das ja das normalste der Welt! Aber für klassisch geschulte Musiker*innen, selbst für welche aus der Neuen Musik, ist Improvisation offenbar auch heute noch oftmals ein Buch mit sieben Siegeln, eine Schwelle, die enorm hoch und nahezu unüberschreitbar scheint. Also: Spielanweisungen umsetzen geht, aber vor dem leeren Blatt zu sitzen und dennoch was zu spielen ist praktisch unmöglich. Angesichts dessen ist natürlich auch rasch die Frage im Raum, ob in solchen Settings (Werke mit Spielanweisungen aber ohne eigentlichen Notentext) nicht sehr schnell ebenfalls sich verfestigende Muster sich bilden (was man ja den Jazzmusikern gerne vorwirft, eben: sooo spontan ist das ja auch nicht, Patterns, Riffs, einstudierte Passagen, Blabla). Aber nochmal: Soli, wie sie Davis für den Soundtrack von „L’Ascenseur pour l’échafaud“ einspielte, verkörpern doch auf geradezu idealtypische Weise das, was da unter „process composition“ beschrieben wird?

Den Anfang des folgenden Kapitels über die „Intuition“ finde ich auch interessant, aus aktuellem Anlass, Corona: (Orchester)Musiker*innen, meint Stockhausen, seien „living tape recorders“ (S. 512). Jetzt gab es ja die Situation, dass zumindest in der Schweiz so ab Juni Orchester wieder spielen durften, wenn sie auf der Bühne Abstand halten konnten. Orchester sitzen in der Regel relativ nah, was die Wahrnehmung des eigenen Klanges im Verhältnis mit dem Rundherum prägt. Mit plötzlich viel weiteren Abständen (und zudem verkleinerten Besetzungen) veränderte sich dieses Gefüge und die Musiker*innen mussten sich quasi neu austarieren … worauf ich hinaus will: auch wenn zum 358. Mal die Jupiter-Symphonie von Mozart aufgeführt wird: es bleibt ein lebendiger Organismus, in dem laufend reagiert wird, auch wenn ein Notentext feststeht. Mir ist das einfach wieder etwas zu schnell gedacht – in diesem Fall vielleicht also auch von Stockhausen selbst, nicht nur von Bergstein. Aber klar, das war damals auch Polemik, es geht (auch bei Davis, dem Name-Dropping usw.) immer auch darum, seine Identität in Abgrenzung und im Konstruieren von Einflüssen oder von Herkunft zu definieren. Und Stockhausen – ähnlich wie Nono, Boulez etc. – hatte es nicht leicht auf dem Weg, der ihn inzwischen ja ebenfalls zum Klassiker werden liess (in die Bresche haut übrigens die steile These von Tingen, die ich gestern nicht wiedergeben mochte, dass halt nur wenige etwas bewirken konnten, was sie dann zu wichtigen Figuren werden liess, er nennt auf jeden Fall neben Stockhausen noch Boulez, aber der hat ja nach wie vor seine „distractors“ und ich kann auch nachvollziehen, weshalb … die These von Tingen, die halt quasi eine des Qualitätsunterschieds sein will, also die besten setzen sich dann schon durch, scheint mir reichlich schlecht begründet/durchdacht zu sein).

Aber gut, was Stockhausen dann – vermutlich darf ich sagen: wider besseres Wissen? – in Anspruch nimmt ist, dass seine intuitive Musik keinen Rahmen mehr hat, keine Regelwerke mehr zugrunde liegt, wie er sei beim Free Jazz oder der indischen Musik (zu Recht) annimmt/voraussetzt. Wie soll das gehen? Hat er seine Musiker*innen durch Computer ersetzt, die ihre Zufallsalgoritmen gleich selbst schrieben, damit sie voraussetzungsfrei und ohne möglicherweise nicht gänzlich „intuitive“ Entscheide von menschlicher Hand funktionieren? Wenn Bergstein schreibt: „Specific works became dependent on intuitive players capable of working as a group.“ (S. 512), läuft das dann nicht gerade darauf hinaus, dass die Leute auch erst wieder eine Art von Regeln lernen müssen, bis das klappt? Natürlich haben diese Regeln einen andere Qualität als die Vorgaben in der karnatischen Musik oder auch im Free Jazz – aber braucht es da nicht auch wieder Erfahrung und Gewöhnung, um nicht zu sagen: Routine? Und werden damit durch die Hintertür nicht auch wieder Verhaltensmuster eingeführt, die dann das rein „intuitive“ Agieren wieder erschweren oder verunmöglichen? Schwierige Frage! Und ich denke, hier trägt der Vergleich zur European Free Improvisation (mangels besseren Etiketts) weiter als der zum Free Jazz – wobei erstere ohne let“zteren auch undenkbar wäre, klar … ich denke besonders an die Engländer (Derek Bailey, Evan Parker, Tony Oxley …)

Die folgenden Aussagen von Dave Liebman sind schon interessant, klar – aber das sind Verfahren der Findung, auf deren Basis dann im Konzert agiert wurde. Und was Stockhausen selbst sagt: „You first absorb and then transform it, and this is very important“ (S. 513), das geht für mich in Sachen Jazz auch wieder in Richtung Binsenweisheit (lerne von Deinen Vorbildern – ob das Bird oder ein Vogel ist, ist dann nicht sooo zentral, und Vorbilder gibt es immer, neue, andere, wechselnde, Vögel hört man ja auch immer wieder zwitschern).

Die folgenden Absätze über „Sonic and timbral similarities“ (S. 513f.) finde ich dann wieder interessanter, weil sie mit konkreten Beispielen operieren. Aber ich verstehe hier Bergsteins Argumentation nicht bzw. verstehe nicht, weshalb das im selben Kapitel seht wie das mit der „intuition“, denn wir sind da ja wieder bei den Texturen und bei der Nutzung der technischen Mittel im Rahmen einer Aufführung.

Weiter geht’s, und ich möchte inzwischen sehr gerne diese Stockhausen-Stücke hören! Wir kommen wieder zu „On the Corner“ und Paul Buckmaster, der auf S. 515 zitiert wird:

I would write out a whole tune, but what actually happened in the studio was that the keyboard players related to these phrases and transformed them. They played them more or less accurately to begin with and transformed them in the Stockhausian sense making them more unrecognizable until they became something else. . .

Das ist so linkisch, dass es fast schon wieder süss ist … Jazzmusiker nehmen ein Riff als Ausgangsmaterial und verändern es … und das ist dann „in the Stockhausian sense“? Nein, verdammt, es ist Jazz, und ich denke, das kann man nun wirklich schon bei Louis Armstrong hören! Es sind dann solche Passagen, wo mich die Sache mit dem Framing stört, denn ist dermassen schief, dass ich mich echt frage, wie gestern schon, wieviel Buckmaster (und Bergstein, und ja, auch Stockhausen selbst) denn über Jazz wussten und wissen – nicht sehr viel, dünkt mich? Oder: gerade auf der intuitiven Ebene begreifen sie Jazz nicht wirklich – im Fall von Stockhausen selbst wüsste ich gerne Näheres!
„Colon Wolcott“, S. 514, mag wieder unterirdisches Lektorat sein, oder aber ein weiterer Hinweis auf – mit halbwegs geschwellter Brust – vor sich her getragener Ignoranz. (Danach folgt nur Gunter Hempel, das ist für einmal ein lustiger Verschreiber.)
Und „Instead of continuously playing the trumpet, Davis devoted long segments of the recording session to directing the ensemble“ (S. 516) – so what? Zeig mir, nach dem Dixieland, die Aufnahme, auf der ein Jazzbläser auf einem ganzen Album ohne Pause spielt. Klar, Davis gab Anweisungen, lenkte die Band – da sind wir aber bei James Brown, nicht in Indien oder bei Stockhausen, und auch das ist doch irgendwie ganz normal in einer Musik, die wie Jazz nicht auf völlig vorgefertigten Formen basiert (simpler ausgeführt gibt es das auch bei den Big Bands: wer spielt jetzt das Solo, wenn Gonsalves mal wieder pennte, forderte Ellington vielleicht auch mal spontan einen anderen Solisten auf, oder einer hing noch eine Runde an, vielleicht nach, vielleicht gegen den Willen des Bandleaders, wer weiss … oder es entstanden spontane Riffs als Begleitung der Solisten, vielleicht auch getriggert durch einen Fingerzeig des Bandleaders … woher all die Aufregung?).
Noch ein Punkt dazu: (afrikanische) Poly-Rhythmen: die gab es doch längst bei Art Blakey, Max Roach usw., und zwar schon in den Fünfzigern.

Und dann die „found sounds“ – das klingt bei „Kurzwellen“ sehr faszinierend …. wie gesagt, das (sehr!) Gute an diesem Faden ist, dass er meine Neugierde auf Stockhausen wieder mal anspornt! Aber dass Davis quasi über Hendix, Sly Stone und James Brown stolpert, wie die Performer auf der Bühne mit ihren Kurzwellenempfängern irgendwas suchen und einen Moment laufen lassen? Das ist eine völlig absurde Vorstellung, die wieder nur einem Denksilo der E-Kultur erwachsen kann.

Aber gut, ich mache mich dann wohl mal auf die Suche nach Stockhausen-Aufnahmen. „Gruppen“ hab ich da, etwas Kammermusik, v.a. aber die Klavierstücke I-XI, die ich in Luzern ja im Konzert mit Pierre-Laurent Aimard hören konnte – enorm beeindruckend!

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