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Anonym
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Zur neuen Platte möchte ich einige Zeilen loswerden đ
Dreams – Gedanken zu âLetter to youâ
Die Anfangsjahre des Musikers Bruce Springsteen waren geprĂ€gt von Romantik, einer Suche nach (romantischer) Erlösung von den ZwĂ€ngen des Daseins. âOh-Oh come take my hand, we`re riding out tonight to case the promised landâ. Springsteen hatte eine klare Vision, einen Glauben. âDas gelobte Landâ, es schien zum Greifen nah. Springsteen schien genau zu wissen, dass und wo es zu finden sei. Keine StraĂe, kein Weg schien zu weit. Und jedes Mal, wenn ich Songs wie âThunder Roadâ höre, dann kommen die Bilder wieder: âAnd in the lonely cool before the dawn, you hear their engines roaring onâ, oder die Anfangszene, wie die HaustĂŒre zufĂ€llt, der Wind, wie Mary ĂŒber die Terrasse tanzt. Ja, es gibt den Weg, die Strasse der Erlösung. Das habe ich Springsteen sofort abgekauft.
1978 markierte den Umbruch in Springsteens kĂŒnstlerischer Darstellung, Ă€uĂerlich wie auch musikalisch. Der oft ungestĂŒme Romantiker der ersten Platten verschwand und auf dem Cover von âDarkness on the edge of townâ blickte uns ein ernsterer Springsteen an. Irgendwie spĂŒrte man, der Traum war eben doch nur ein Traum. Und auch der Amerikanische Traum, das Gelobte Land, das existierte im Grunde oft nur in der Vorstellung. Der amerikanische Mythos, oder besser ausgedrĂŒckt, die Idee von Amerika, war schon immer gröĂer als das Land selbst bzw. dessen menschliche RealitĂ€t.
Die euphorischen StraĂen der Erlösung waren plötzlich einer Verzweiflung gewichen, einer letzten Fahrt zum Meer und einem letzten Versuch, sich von den SĂŒnden frei zu waschen. Springsteen offenbart in âRacing in the streetsâ verlorene TrĂ€ume (âall her pretty dreams were goneâ). Aus âto case the promised landâ wird âI believe in a promised landâ (aus dem gleichnamigen Song. Ja, man trĂ€umt noch, der Glaube noch ist da, doch die Lasten werden schwerer.
Dieser Wandlungsprozess vom ungestĂŒmen, romantischen Impetus hin zu einem subtilen oder stampfend-donnernden Nachhall dessen, wurde von Springsteen in Verbindung mit seiner E-Street Band umgesetzt. Roy Bittan’s Piano, Danny Frederici’s Orgel, das Saxophon des „Big Man“ Clarence Clemons, Glockenspiel, Akkordeon, die mĂ€chtigen Drums von Max Weinberg und noch viel mehr Gitarren.
Damit war nach 1984 erst einmal Schluss und es dauerte bis 1999, bis die E-Street Band wieder Springsteen begleiten durfte, in einem neuen, typischen âE-Street Band Songâ. Und somit kehrte auch ein Teil der Anfangsromantik wieder zurĂŒck, mit allem was auch musikalisch dazu gehört, natĂŒrlich gereifter. âMeet me in a Land of Hopes and Dreamsâ. Vom âGelobten Landâ ist keine Rede mehr, doch die Hoffnung und die TrĂ€ume dĂŒrfen wieder zum Leben erweckt werden. Es bleibt allerdings vage: âmeet me in a land…â. Roy Bittans perlendes Piano wirkt leicht dunkler, Danny Frederici`s Orgel bringt den Gospel hinein. Das Saxophon des âBig Manâ erweckt am Ende wieder die junge Erinnerung.
Im Jahre 2020 darf die âE-Street Bandâ endlich wieder auf PlattenlĂ€nge Springsteens TrĂ€ume veredeln. Die Band ist nicht mehr dieselbe, die Zeit hat ihren Tribut gefordert. Und Springsteen weiĂ genau, dass auch ihm vielleicht nicht mehr viel Zeit bleibt ein solches Album in dieser Konstellation aufzunehmen.
Ganz unscheinbar lĂ€dt er zur neuen Platte ein: Der leiseste Song eröffnet. âOne Minute you`re hereâ. Der Gesang wirkt ungewohnt tief und diese inhaltliche Tiefe spigelt sich wider in den beiden Hauptthemen der Platte: VergĂ€nglichkeit und Tod. Ein Nachhall von seinem Solo Werk âWestern Starsâ? Nicht ganz. Im Laufe des Songs singt Springsteen wieder von einem vertrauten Fluss und von âthe edge of townâ. Das trifft mich bis ins Mark, so unvermittelt und direkt wirkt es. Diesmal ist der Fluss rot gefĂ€rbt, der am Rand der Stadt entlang flieĂt.
Ein mĂŒder, erschöpfter Hauptcharakter legt sich am Ufer nieder, auch er wurde vertrieben in die Peripherie. Dorthin, wo die Gesetze der Natur erbarmungsloser sind. Man meint, dass Frederici die dunklen Orgelakkorde ĂŒber diesen ruhigen Song legt und Clarence Clemons im Hintergrund lĂ€chelnd das Tamburin spielt. Ein Glockenspiel gesellt sich dazu. Ungewöhnlich, sehr emotional und intensiv. Ein perfekte Rahmen fĂŒr die nĂ€chsten Songs ist abgesteckt.
Auf âLetter to youâ darf die âE-Street Bandâ fast wieder in alter BlĂŒte scheinen. Doch die Perspektive hat sich geĂ€ndert. âBig wheels roll through fields where sunlight streamsâ hieĂ es noch 1999. Die in Sonnenlicht erstrahlte Weite der Felder ist einem weiĂen Blatt Papier gewichen. Springsteen singt von âfears and doubtsâ und von der teils bitteren Wahrheit, die er im Laufe des Lebens erst lernen musste. Musikalisch klingt das sehr passend mit einer toll eingespielten Band. Ab jetzt kommt der Live Charakter den Songs zu Gute.
Der Geist oder Spirit von Frederici oder Clemons ist am stĂ€rksten in den beiden groĂen Songs âLast Man Standingâ und âGhostsâ zu spĂŒren. âCome inâ my dreams and I rejoiceâ, heiĂt es im zweiteren. Springsteen weiĂ, dass es jetzt andere TrĂ€ume sind, die ihn aufbauen und dass auch ihm die Zeit davon lĂ€uft. Selbst wenn die „verlorenen“ Freunde nicht mehr einer Session beiwohnen können, bleibt die Gewissheit, dass ihr Spirit in seinen TrĂ€umen und der Musik wieder aufblĂŒhen.
Manchmal springt der alte Funke von ĂŒber brodelnder Energie ĂŒber, wenn z.B. Springsteen zu einem wilden Mundharmonika-Solo ansetzt und es scheint kurz, als wenn die ZĂŒgel nun vollstĂ€ndig losgelöst werden. Wir sind mitten im âStone Ponyâ in Ashbury Park, auf der BĂŒhne…natĂŒrlich nicht. Springsteens âstone-washedâ Stimme holt uns wieder zurĂŒck. Doch das Wiederaufflammen der jugendlichen Energie funktioniert in âJaney needs a shooterâ recht gut. Gleiches gilt nur bedingt fĂŒr âSong for Orphansâ das, von der Wortdichte und Melodie her betrachtet, an Dylan (ca. âDesireâ) erinnert. Hier kommt auch Nils Lofgren zu seinem verdienten Solo, das leider zu frĂŒh ausgeblendet wird.
âIf I were a Priestâ will leider zuviel, obwohl die Komposition durchaus vielversprechend ist. Doch Springsteen`s Gesangslininen sind ĂŒber ambitioniert. Seine Stimme muss im Laufe der Platte manchmal recht stark gegen die Band ankĂ€mpfen. Insgesamt gefĂ€llt mir sein Gesang jedoch und man darf nicht vergessen, es wurde âliveâ eingespielt.
âBurnin` trainâ soll nicht unerwĂ€hnt bleiben. Ein grandios, treibender Stadion Stampfer. Max Weinberg ist der Herr des Songs. Springsteen und Van Zandt doppeln die Gitarren wĂ€hrend der Soli, was eine tolle Live AtmosphĂ€re aufkommen lĂ€sst. Der „Boss“ höchstpersönlich kann seine Stimme um ca. 20 Jahre verjĂŒngen. So hĂ€tte die E-Street Band seine Songs Anfang der 90ern veredeln können.
NĂ€hern wir uns dem Höhepunkt des Albums, âHouse of a thousand guitarsâ. Ein Titel ganz in der Tradition der letzten groĂen âE-Street Bandâ Hymne: âLand of Hopes and Dreamsâ. Springsteen singt diesmal von dem ewigen Bund, der alles zusammenhĂ€lt. Jenseits von Zeit und Raum. Denn die Platte umspannt das gesamte Musikerleben Springsteens, vom 22-jĂ€hrigen, der Bob Dylan auf den Fersen ist, bis ins Jetzt und auch darĂŒber hinaus. Die Essenz dessen heraus zu arbeiten, gelingt ihm hervorragend: „That will bend us together as long as there are stars, in the house of a thousand guitarsâ.
Eingebettet in das sich wellenartig wiederholende und nachdenkliche Pianomotiv von Roy Bittan, das nicht enden möchte, steigen die anderen Instrumente ein und man sieht sie noch einmal alle zusammenstehen auf der groĂen BĂŒhne, im Takt hin- und herschaukelnd. Und die Worte Springsteen`s verströmen dieses wohl vertraute GefĂŒhl, dass es doch irgendwie gut ist/wird: „Well it’s alright, yeah it’s alright, meet me Darlin‘ come Saturday night“. Wie lange habe ich auf solch eine Textzeile gewartet? Eingepackt in diese umwerfende Melodie. Und es geht weiter „So wake and shake off your trouble my friend, we’ll go, where the music never ends“. NatĂŒrlich komme ich mit…und dann setzt das Saxophon ein!
Zwischenzeitlich kommt der ein oder andere Song zu Tage, der das Niveau nicht ganz halten kann, wie z.B. âThe Power of Prayerâ oder âRainmakerâ.
Zum Abschlusstrack bin ich wieder voll im Album, âI`ll see you in my dreamsâ. Springsteens Traum geht in ein neues Kapitel. Nur sind es diesmal, wie bereits erwĂ€hnt, andere TrĂ€ume, die Erlösung bringen. TrĂ€ume in Form all derer, die frĂŒher gehen mussten als er. Sie treffen sich dort wieder, vereint, jenseit von Zeit und Raum. Und damit endet die Platte mit dem Thema VergĂ€nglichkeit und Tod. Was bleibt ist die versöhnliche Gewissheit, dass der Tod nicht das Ende ist
„I’ll see you in my dreams, yeah ‚round the river bend,
for death is not the end,
and I’ll see you in my dreams“
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