Antwort auf: BRUCE SPRINGSTEEN – "Letter To You" (VÖ: 23.10.2020)

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Zur neuen Platte möchte ich einige Zeilen loswerden 😊

Dreams – Gedanken zu “Letter to you”

Die Anfangsjahre des Musikers Bruce Springsteen waren geprĂ€gt von Romantik, einer Suche nach (romantischer) Erlösung von den ZwĂ€ngen des Daseins. “Oh-Oh come take my hand, we`re riding out tonight to case the promised land”. Springsteen hatte eine klare Vision, einen Glauben. “Das gelobte Land”, es schien zum Greifen nah. Springsteen schien genau zu wissen, dass und wo es zu finden sei. Keine Straße, kein Weg schien zu weit. Und jedes Mal, wenn ich Songs wie “Thunder Road” höre, dann kommen die Bilder wieder: “And in the lonely cool before the dawn, you hear their engines roaring on”, oder die Anfangszene, wie die HaustĂŒre zufĂ€llt, der Wind, wie Mary ĂŒber die Terrasse tanzt. Ja, es gibt den Weg, die Strasse der Erlösung. Das habe ich Springsteen sofort abgekauft.

1978 markierte den Umbruch in Springsteens kĂŒnstlerischer Darstellung, Ă€ußerlich wie auch musikalisch. Der oft ungestĂŒme Romantiker der ersten Platten verschwand und auf dem Cover von “Darkness on the edge of town” blickte uns ein ernsterer Springsteen an. Irgendwie spĂŒrte man, der Traum war eben doch nur ein Traum. Und auch der Amerikanische Traum, das Gelobte Land, das existierte im Grunde oft nur in der Vorstellung. Der amerikanische Mythos, oder besser ausgedrĂŒckt, die Idee von Amerika, war schon immer grĂ¶ĂŸer als das Land selbst bzw. dessen menschliche RealitĂ€t.

Die euphorischen Straßen der Erlösung waren plötzlich einer Verzweiflung gewichen, einer letzten Fahrt zum Meer und einem letzten Versuch, sich von den SĂŒnden frei zu waschen. Springsteen offenbart in “Racing in the streets” verlorene TrĂ€ume (“all her pretty dreams were gone”). Aus “to case the promised land” wird “I believe in a promised land” (aus dem gleichnamigen Song. Ja, man trĂ€umt noch, der Glaube noch ist da, doch die Lasten werden schwerer.

Dieser Wandlungsprozess vom ungestĂŒmen, romantischen Impetus hin zu einem subtilen oder stampfend-donnernden Nachhall dessen, wurde von Springsteen in Verbindung mit seiner E-Street Band umgesetzt. Roy Bittan’s Piano, Danny Frederici’s Orgel, das Saxophon des „Big Man“ Clarence Clemons, Glockenspiel, Akkordeon, die mĂ€chtigen Drums von Max Weinberg und noch viel mehr Gitarren.

Damit war nach 1984 erst einmal Schluss und es dauerte bis 1999, bis die E-Street Band wieder Springsteen begleiten durfte, in einem neuen, typischen “E-Street Band Song”. Und somit kehrte auch ein Teil der Anfangsromantik wieder zurĂŒck, mit allem was auch musikalisch dazu gehört, natĂŒrlich gereifter. “Meet me in a Land of Hopes and Dreams”. Vom “Gelobten Land” ist keine Rede mehr, doch die Hoffnung und die TrĂ€ume dĂŒrfen wieder zum Leben erweckt werden. Es bleibt allerdings vage: “meet me in a land…”. Roy Bittans perlendes Piano wirkt leicht dunkler, Danny Frederici`s Orgel bringt den Gospel hinein. Das Saxophon des “Big Man” erweckt am Ende wieder die junge Erinnerung.

Im Jahre 2020 darf die “E-Street Band” endlich wieder auf PlattenlĂ€nge Springsteens TrĂ€ume veredeln. Die Band ist nicht mehr dieselbe, die Zeit hat ihren Tribut gefordert. Und Springsteen weiß genau, dass auch ihm vielleicht nicht mehr viel Zeit bleibt ein solches Album in dieser Konstellation aufzunehmen.

Ganz unscheinbar lĂ€dt er zur neuen Platte ein: Der leiseste Song eröffnet. “One Minute you`re here”. Der Gesang wirkt ungewohnt tief und diese inhaltliche Tiefe spigelt sich wider in den beiden Hauptthemen der Platte: VergĂ€nglichkeit und Tod. Ein Nachhall von seinem Solo Werk “Western Stars”? Nicht ganz. Im Laufe des Songs singt Springsteen wieder von einem vertrauten Fluss und von “the edge of town”. Das trifft mich bis ins Mark, so unvermittelt und direkt wirkt es. Diesmal ist der Fluss rot gefĂ€rbt, der am Rand der Stadt entlang fließt.

Ein mĂŒder, erschöpfter Hauptcharakter legt sich am Ufer nieder, auch er wurde vertrieben in die Peripherie. Dorthin, wo die Gesetze der Natur erbarmungsloser sind. Man meint, dass Frederici die dunklen Orgelakkorde ĂŒber diesen ruhigen Song legt und Clarence Clemons im Hintergrund lĂ€chelnd das Tamburin spielt. Ein Glockenspiel gesellt sich dazu. Ungewöhnlich, sehr emotional und intensiv. Ein perfekte Rahmen fĂŒr die nĂ€chsten Songs ist abgesteckt.

Auf “Letter to you” darf die “E-Street Band” fast wieder in alter BlĂŒte scheinen. Doch die Perspektive hat sich geĂ€ndert. “Big wheels roll through fields where sunlight streams” hieß es noch 1999. Die in Sonnenlicht erstrahlte Weite der Felder ist einem weißen Blatt Papier gewichen. Springsteen singt von “fears and doubts” und von der teils bitteren Wahrheit, die er im Laufe des Lebens erst lernen musste. Musikalisch klingt das sehr passend mit einer toll eingespielten Band. Ab jetzt kommt der Live Charakter den Songs zu Gute.

Der Geist oder Spirit von Frederici oder Clemons ist am stĂ€rksten in den beiden großen Songs “Last Man Standing” und “Ghosts” zu spĂŒren. “Come in my dreams and I rejoice”, heißt es im zweiteren. Springsteen weiß, dass es jetzt andere TrĂ€ume sind, die ihn aufbauen und dass auch ihm die Zeit davon lĂ€uft. Selbst wenn die „verlorenen“ Freunde nicht mehr einer Session beiwohnen können, bleibt die Gewissheit, dass ihr Spirit in seinen TrĂ€umen und der Musik wieder aufblĂŒhen.

Manchmal springt der alte Funke von ĂŒber brodelnder Energie ĂŒber, wenn z.B. Springsteen zu einem wilden Mundharmonika-Solo ansetzt und es scheint kurz, als wenn die ZĂŒgel nun vollstĂ€ndig losgelöst werden. Wir sind mitten im “Stone Pony” in Ashbury Park, auf der BĂŒhne…natĂŒrlich nicht. Springsteens “stone-washed” Stimme holt uns wieder zurĂŒck. Doch das Wiederaufflammen der jugendlichen Energie funktioniert in “Janey needs a shooter” recht gut. Gleiches gilt nur bedingt fĂŒr “Song for Orphans” das, von der Wortdichte und Melodie her betrachtet, an Dylan (ca. “Desire”) erinnert. Hier kommt auch Nils Lofgren zu seinem verdienten Solo, das leider zu frĂŒh ausgeblendet wird.

“If I were a Priest” will leider zuviel, obwohl die Komposition durchaus vielversprechend ist. Doch Springsteen`s Gesangslininen sind ĂŒber ambitioniert. Seine Stimme muss im Laufe der Platte manchmal recht stark gegen die Band ankĂ€mpfen. Insgesamt gefĂ€llt mir sein Gesang jedoch und man darf nicht vergessen, es wurde “live” eingespielt.

“Burnin` train” soll nicht unerwĂ€hnt bleiben. Ein grandios, treibender Stadion Stampfer. Max Weinberg ist der Herr des Songs. Springsteen und Van Zandt doppeln die Gitarren wĂ€hrend der Soli, was eine tolle Live AtmosphĂ€re aufkommen lĂ€sst. Der „Boss“ höchstpersönlich kann seine Stimme um ca. 20 Jahre verjĂŒngen. So hĂ€tte die E-Street Band seine Songs Anfang der 90ern veredeln können.

NĂ€hern wir uns dem Höhepunkt des Albums, “House of a thousand guitars”. Ein Titel ganz in der Tradition der letzten großen “E-Street Band” Hymne: “Land of Hopes and Dreams”. Springsteen singt diesmal von dem ewigen Bund, der alles zusammenhĂ€lt. Jenseits von Zeit und Raum. Denn die Platte umspannt das gesamte Musikerleben Springsteens, vom 22-jĂ€hrigen, der Bob Dylan auf den Fersen ist, bis ins Jetzt und auch darĂŒber hinaus. Die Essenz dessen heraus zu arbeiten, gelingt ihm hervorragend: „That will bend us together as long as there are stars, in the house of a thousand guitars”.

Eingebettet in das sich wellenartig wiederholende und nachdenkliche Pianomotiv von Roy Bittan, das nicht enden möchte, steigen die anderen Instrumente ein und man sieht sie noch einmal alle zusammenstehen auf der großen BĂŒhne, im Takt hin- und herschaukelnd. Und die Worte Springsteen`s verströmen dieses wohl vertraute GefĂŒhl, dass es doch irgendwie gut ist/wird: „Well it’s alright, yeah it’s alright, meet me Darlin‘ come Saturday night“. Wie lange habe ich auf solch eine Textzeile gewartet? Eingepackt in diese umwerfende Melodie. Und es geht weiter „So wake and shake off your trouble my friend, we’ll go, where the music never ends“. NatĂŒrlich komme ich mit…und dann setzt das Saxophon ein!

Zwischenzeitlich kommt der ein oder andere Song zu Tage, der das Niveau nicht ganz halten kann, wie z.B. “The Power of Prayer” oder “Rainmaker”.

Zum Abschlusstrack bin ich wieder voll im Album, “I`ll see you in my dreams”. Springsteens Traum geht in ein neues Kapitel. Nur sind es diesmal, wie bereits erwĂ€hnt, andere TrĂ€ume, die Erlösung bringen. TrĂ€ume in Form all derer, die frĂŒher gehen mussten als er. Sie treffen sich dort wieder, vereint, jenseit von Zeit und Raum. Und damit endet die Platte mit dem Thema VergĂ€nglichkeit und Tod. Was bleibt ist die versöhnliche Gewissheit, dass der Tod nicht das Ende ist

„I’ll see you in my dreams, yeah ‚round the river bend,
for death is not the end,
and I’ll see you in my dreams“

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