Antwort auf: Kendrick Lamar

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Anonym
Inaktiv

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Sokrates Ich bin selbst Anhänger der These, dass die Kunst (hier: die Musik) für sich selbst sprechen muss. Und dass man sie daher auch ohne Vorkenntnisse gut finden kann (oder auch nicht, wie ich im Fall Kendrick Lamar.)

Da widerspreche ich Dir gar nicht grundsätzlich! Ich finde es bei der Aneignung von Kunst (Malerei, Musik, Literatur, was auch immer) grundsätzlich einen ganz guten Ansatz, zunächst einfach mal gründlich zu hören, zu sehen, zu lesen und dann nochmal aufmerksam hinzuhören, hinzusehen, nachzulesen, was es da eben so alles wahrzunehmen gibt und wie es auf mich wirkt.

Widersprechen würde ich erst, wenn jemand das als den einzig sinnvollen, einzig freien, einzig richtigen Ansatz betrachten würde, bei dem man unbedingt immer stehen bleiben sollte. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Du das tust. Manchmal habe ich den Eindruck, Du neigst diesem Kurzschluss zu, wenn Du mal wieder in allen, die es anders machen, nur fremdgesteuerte Lemminge zu sehen scheinst, die eben nicht in der Lage seien, selber zu sehen, zu hören, zu denken. Aber vielleicht tue ich Dir da auch überinterpretierend Unrecht. Falls ja – ich bitte um Entschuldigung.

Das aber wurde ja gerade für falsch gehalten: Man müsse sich damit beschäftigen, hieß es, damit man verstehe.

Was mich betrifft: Muss man nicht. Ich habe aber oft die Erfahrung gemacht, dass es tiefe emotionale Erlebnisse bringt, sich intensiver damit zu beschäftigen. Es ist ein bisschen wie mit der Liebe. Wenn jemand sagt, er verknalle sich halt in jemanden, und das sei halt, wie es sei – okay! Aber mit der Zeit lernt man diesen Menschen womöglich besser kennen und tiefer verstehen, indem man miteinander redet, mehr übereinander erfährt – und dann wird manchmal aus Verliebtheit Liebe. Sich mit etwas oder jemandem intensiv zu beschäftigen, führt eben oft zu vertieftem Verständnis. Wissen, Denken, Fühlen: Das steht ja alles nicht gegeneinander, sondern ergänzt und erweitert einander.

Und bei Kunst hilft es meiner Erfahrung nach, wenn man über sein eigenes Wahrnehmen mit anderen kommuniziert – indem man zum Beispiel mit ihnen redet oder ihre Artikel oder Bücher liest.

Und da jedes Kunstwerk grundsätzlich immer in einem kulturellen Kontext steht, auf den es irgendwie reagiert (indem es sich daran anlehnt, davon abgrenzt, Bewährtes übernimmt oder nach Neuem sucht), schult es zumindest mein Begreifen-, Verstehen-, Fühlen-Können, wenn ich über diese Hallräume Bescheid weiß, wenn ich die feinen Echos und Schwingungen wahrnehmen kann, die das Kunstwerk aussendet, wenn ich die Anspielungen auf Traditionen bemerke, die das Kunstwerk macht.

Es wurde mir oben entgegengehalten, wie tief und komplex in Sachen schwarzer Kultur KLs Musik sei – also das komplette Narrativ aufgefahren, das man nicht hört, sondern das nur im Hintergrund ist und herhalten muss, um die wahre Größe und Bedeutung der Musik zu begründen.

Da liegst Du, glaube ich, falsch. Man kann das hören. Ich kann es zumindest. Und ich vermute fast, Du kannst das auch.

Die Jazztönungen sind in vielen Stücken doch für jeden wahrnehmbar, der mal, sagen wir, Coltrane gehört hat. Im letzten Stück, vor dem Dialog mit 2Pac, ist doch der smoothe Marvin-Gaye-Groove fast gar nicht zu überhören. In King Kunta hört man James Brown – und indem Lamar textlich auf Kunta Kinte anspielt und dessen Selbstbehauptungswillen und die Verletzungen, die ihm angetan wurden, in einen neuen Kontext einordnet, dann macht er doch seine Suche nach Traditionen, Vorbildern, Role Models hörbar.

Bei der Gelegenheit: Ich hoffe, wir können uns zumindest so einigermaßen darauf einigen, dass bei Kunstwerken, in denen Menschen singend oder sprechend Texte von sich geben, diese Texte ein integraler Teil der Kunst sind und nicht irgendwas Ignorierenswertes, nicht wirklich Dazugehörendes. Wir beschränken uns bei Picasso ja auch nicht auf die Formen, während wir die Farben ignorieren, und bei Filmen sagen wir  auch nicht, es komme bloß auf die Bilder an, die Dialoge seien unerheblich. In diesem Sinne: Die Texte sind natürlich ein wichtiger Teil von Lamars Kunst.

Musikalische wie historische Role Models und Bezugsgrößen durchziehen also sehr deutlich hörbar die gesamte Platte, vom Sklavenaufstand-Anführer Nat Turner bis zu 2Pac, von Jazz über Soul bis zu Rap-Vorgängern. Das alles ist nichts, was man in Form eines Narrativs dazudichten müsste, das alles ist schlichtweg sinnlich wahrnehmbar DA, in der Musik wie in den Texten. Und wenn man sein Ohr schult, um derlei noch etwas deutlicher wahrnehmen zu können, wird eben alles viel interessanter, tiefer, vielschichtiger, faszinierender, bewegender, ergreifender.

Und dieses Narrativ können wir nicht verstehen, da uns der kulturgeschichtliche und hautfarbenklassenspezifische Erfahrung fehlt.

Das glaube ich nun überhaupt nicht. Wenn es so wäre, müsste jede Kultur in ihrem Saft schmoren, unerreichbar abgeschottet gegen jede andere. Das ist doch das Tolle an uns Menschen, dass wir Fremde kennenlernen können! Und es ist das Tolle an Kunst, dass sie uns auf ganz erregende, fesselnde Weise dabei hilft!

Das meinte ich, und hoffe, ich konnte es nun verständlicher machen.

Danke, dass Du versucht hast, Dich verständlich zu machen. Ich schätze den Austausch mit Dir – auch oder gerade, weil ich viele Deiner Standpunkte nicht teile.

die gewaltigen kulturellen Unterschiede […] sind doch Realität.

Ja, das stimmt. Aber ein kultureller Abgrund klafft auch zwischen mir und Walter von der Vogelweide – vollkommen andere Zeit, vollkommen andere Alltagsumstände, vollkommen andere Erfahrungen, Denkweisen, Traditionen. Und doch kann ich mich seinen Gedichten zunächst mal unbefangen annähern, indem ich sie einfach lese; und kann sie mit der Zeit besser verstehen und tiefer schätzen lernen, wenn ich mich mit den Hintergründen seiner Gedankenwelt und seiner Schreibrealität befasst habe. Und so ähnlich ist es mit Ralf Ellison oder Grimmelshausen, Mozart oder Fela Kuti, Chagall oder Hieronymus Bosch.

Ich glaube auch in vielen Kunstwerken so eine Art universellen humanen Kern feststellen zu können, der über alle Unterschiede hinweg zu mir spricht – bei Kendrick Lamar jedenfalls ganz unbedingt! Und wenn ich dann noch mehr erfahre über die Kultur – in dem Fall die black culture – und die Lebensumstände, in denen dieses Werk entstanden ist, dann rückt mir eben auch das Spezifische, vielleicht nicht ganz so unmittelbar universell Verständliche dieser Kunst mit der Zeit näher.

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