Antwort auf: The Rolling Stones – Exile On Main Street

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paul-westerberg

Registriert seit: 27.09.2010

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Das Doppelalbum gehört auch für mich zu den besten und wichtigsten Alben aller Zeiten, und mit diesem Album begann damals meine musikalische Sozialisation.

Die von mir in dieser Zeit gelesene Zeitschrift „Sounds“ sah das aber vollständig anders. Die Plattenkritik von Hans-Jürgen Günther (schrieb auch für „Tip Berlin“ und evtl. auch für den Rolling Stone) war dermaßen vernichtend, dass ich sie hier einmal abbilden möchte:

“ Für die Stones dürfte dieses Doppelalbum einem Tanz am Abgrund gleichkommen. Verlieren sie das Übergewicht, sprich sinken sie im Publikumsinteresse, so wird EXILE ON MAIN STREET nicht nur daran schuld sein, sondern sich auch als nach unten ziehendes Bleigewicht erweisen. Schaffen sie es dagegen, trotz dieses Albums noch einmal davon zu kommen, haben sie indes nicht mehr als eine Galgenfrist gewonnen.

Ich will hier bewusst nicht die Frage anschneiden, ob es die Stones mit der politischen Aussage ihrer Texte ernst meinen. Die rein musikalische Situation der Gruppe ist nämlich schon traurig genug. Und das erscheint mir bei einer band, deren Musik – trotz des textlichen Inhalts – immer von ihrem Sound lebte, am wichtigsten.

Fast wäre es zu wünschen, dass sie sich zur Ruhe setzten, denn dieses Werk ist eine Katastrophe, gegen die selbst das weiße Doppelalbum der Beatles völlig verblasst. Mick Jagger und seine Mannen präsentieren sich als total abschlaffende und selbst abgeschlaffte Mannschaft von Endzwanzigern und Anfang-Dreißigern, die einmal eine aufwühlende R&B-Musik zu spielen verstanden, nun aber reich, fett und substanzlos geworden sind. Alles, was früher ihren Sound so überzeugend aggressiv machte, erscheint jetzt deutlich als gewollt. Da ist nichts mehr von ehrlicher Schärfe und echtem Engagement zu spüren, dafür aber viel von tödlicher Studioroutine und dem Wissen, wie man eine Gitarre schmerzlich heulen lässt – nur dass den Schmerz keiner mehr so recht glauben kann.

Sie sind schon ein trauriger Haufen, der, unterstützt durch sich chamäleonartig wandelnde Studiomusiker, wie Nicky Hopkins (er ist noch am besten), Jim Price und Bobby Keys, sich vergebens abmüht, eine gehaltvolle Musik zu fabrizieren.

Indes beginnt das Dilemma bereits bei den Kompositionen. Jagger und Richards wirken ausgebrannt und vollkommen ideenlos. Ihren Songs fehlt fast durchweg die innere Überzeugungskraft. Sie wirken routiniert und automatenhaft zusammengesetzt aus allerlei mehr oder minder brauchbaren Einzelheiten. So kommt es bestenfalls zu Songs, die für Diskotheken geeignet sind, aber nicht einmal das sind die meisten.

Den zahlreichen kompositorischen Mängeln gesellen sich interpretatorische Fehlleistungen eines Ausmaßes hinzu, wie sie bei den Stones bislang unbekannt waren. Das fängt an bei Mick Jaggers Gesang, der ideenlos und oft sogar verkrampft wirkt. Jagger scheint eine gehörige Portion seines Feelings und seines Phrasierungsvermögensverloren zu haben. Wie sollte diese Gesangsvorstellung anders zu erklären sein. Aber auch instrumental mangelt es an  Gestaltungsvermögen. Zwar ist nicht zu verkennen, dass sich Charlie Watts Mühe gibt, einen kräftigen Rhythmus durchzuhalten, zwar gibt es bei verschiedenen Songs wenigstens teilweise interessante Gitarrensounds, aber das bleibt – eben weil die Songs „von Natur aus“ schon so schwachbrüstig sind – bei weitem zu wenig, um ein ganzes Doppelalbum zu füllen.

Insbesondere bei den schnelleren, rockigeren Titeln fällt die erschreckende Substanzlosigkeit der Musik auf. In den langsameren Stücken, die mehr in Richtung des orthodoxen Blues liegen, gelingen den Stones bessere Leistungen, ohne dass sie aber früheres Niveau erreichen. An Meisterwerke wie „Tell me“, „No Expectations“ oder „Lady Jane“ darf man jedenfalls überhaupt nicht denken.

Zum Ausgleich für all das verfallen die Stones in die Manie, mit aufgedrehten Verstärkern, schlampigen Arrangements (die wohl echt bluesig klingen sollen?) und hektischer Betriebsamkeit ihre Musik retten. Beim besten Willen hätten sie aus den besseren Songs auf diese Weise ein Album zusammenstellen können, um bis zur Fertigstellung neuer, besserer Werke nicht in Vergessenheit zu geraten. Aber ein Doppelalbum entlarvt ihre Krise überdeutlich und schadet viel mehr, als es nutzen könnte. War denn niemand da, der ihnen diesen Wahnsinnsplan ausreden konnte?“

Tja, so kann man sich irren! Es wäre sicher einmal interessant, zu erfahren, ob der Autor (dürfte mit dem allseits hier geschätzten WB gut bekannt sein) das heute immer noch so sieht.

 

zuletzt geändert von paul-westerberg

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