Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Life Is Live – Lucerne Festival 2020 – 22./23. August 2020

Viele Worte will ich gar nicht machen – aber es war einfach nur wunderbar, wieder einmal ausgiebig im Konzert Musik zu erleben. Dass das Ereignis auch von hoher Qualität sein würde, war ja eigentlich gewiss, denn die zwei „grossen“ Konzerte, für die ich Karten gekauft hatte, waren Igor Levits Beethoven-Programme #5 und #6. Zwei der ersten vier hörte ich bereits, und wenn alles gut geht bin ich bei #7 und #8 – mit den letzten sechs Sonaten – auch wieder an Bord, für das Beethoven Farewell-Wochenende habe ich gleich für alle Konzerte Karten gekauft und im selben Hotel, wo ich dieses Mal übernachtete, auch gleich für drei Nächte gebucht … hoffe, die Lage wird das zulassen.

Rezital Igor Levit 1 – 22. August 2020 – KKL, Luzern

Igor Levit Klavier

Ludwig van Beethoven
Klaviersonate d-Moll Op. 31/2 „Der Sturm“
Klaviersonate B-Dur Op. 22
Klaviersonate C-Dur Op. 2/3
Klaviersonate c-Moll Op. 13 „Grande Sonate pathétique“

Das erste Programm öffnete mit der Sturmsonate und schloss mit der Pathétique. Zwischen diesen beiden dreisätzigen Sonaten standen zwei viersätzige: Op. 22, von der Beethoven selbst sagte, das Werk „habe sich gewaschen“, und die dritte von den ersten Sonaten Op. 2 – eine Art „Konzert ohne Orchester“ und wie die anderen beiden Sonaten von Op. 2 ein Zeichen, dass Beethoven schon zum Einstieg über das Schaffen seines Lehrers (und Widmungsträgers von Op. 2) Joseph Haydn hinaus ging.

Ich bin total aus der Übung im Schreiben über Konzerte – aber mir schienen Levits Darbietungen zutiefst menschlich, ohne jeglichen Tastenlöwengestus, auch da, wo selbst dem Laien völlig klar war, wie unglaublich schwierig diese Werke zu spielen sein müssen, wie halsbrecherisch das Tempo, wie hoch die Anforderung in Sachen Konzentration und Fokus. Menschlich, nicht titanenhaft, aber auch nicht bürgerlich-falschbescheiden sondern, dabei ohne grosse Gesten und aufrichtig im Dienst der Musik – und das geht natürlich wiederum nur ohne ein Selbstverleugnungstheater aufzuführen, denn die Musik braucht ja den Interpreten, um überhaupt zum Leben erweckt zu werden.

Auf dem Weg zum Hotel, nach dem Konzert, guckte ich noch eine Weile durch den Bretterzaun dem Saison-Auftakt des Luzerner Theaters zu – dieses kann im Sommer den Vorplatz bespielen (es gibt gegenüber vom Eingang auch noch eine „Box“, in der ich im Rahmen des Lucerne Festivals auch schon mal im kleinen Rahmen Zeitgenössisches/Improvisiertes hörte), und so fand die Eröffnung draussen statt, die Box diente als Bühne, das kleine Publikum sass mit Abstand auf Stühlen, hinten eingerahmt von einer Reihe von Chorsänger*innen. Konzertant geboten wurde Piazzollas María de Buenos Aires – gerne hätte ich mehr als eine knappe Viertelstunde davon gehört, aber ich kam ja gerade erfüllt aus einem hervorragenden Konzert … und wollte später noch bei sparch auf StoneFM mithören, wo das tolle Label Analog Africa vorgestellt wurde. Ein höchst musikhaltiger Tag also, natürlich mit Igor Levit als Höhepunkt. Als Zugabe spielte dieser übrigens an diesem ersten Abend „Nun komm der Heiden Heiland“, das Bach/Busoni-Arrangement, das auch auf seiner kommenden CD zu hören sein wird, wenn mich nicht alles täuscht.

Lucerne Festival Alumni – 23. August 2020 – KKL, Luzern

Ensemble der Lucerne Festival Alumni
Baldur Brönnimann
Dirigent
Valentine Michaud Saxophon
Matteo Cesari Flöte
Chloë Abbott Kornett

Barblina Meierhans Auf Distanz, für Bassflöte und kleines Ensemble, Kornett ad libitum (2020, UA)
Nadir Vassena materia oscura, für Saxophon und Ensemlbe (2006)
Oscar Bianchi Contingency, für Ensemble (2017)

Für das Matinéekonnzert am Sonntag stieg ich nicht die Treppen hoch (bei Levit sass ich beide Male auf demselben Platz), da gelangte nur das Parkett in den Verkauf, ich hatte mir aber auch hier einen Randplatz gesichert – und das war eine gute Idee, denn Corona war während dieser Konzerte tatsächlich fast ganz vergessen. Los ging es mit einem neuen Stück der Komponistin Barblina Meierhans (*1981 in Burgau/St. Gallen – im Foto unten ganz links), das aus fünf (bzw. vier) Sätzen besteht: I. schnalzen, II. kichern, III./IV. lauschen und singen, V. atmen – Meierhans griff damit die Erfahrung des Social Distancing der letzten Monate auf – und sie nimmt in ihrem Text fürs Programmheft auf die Mimesis Bezug: den „Kern der Sache, um die es geht“ bei der „konzertanten Realisierung von Musik“, die ja in den letzten Monaten komplett ausfiel. Mit sich selbst, ihre Stimme als Klangmaterial, „n der Feedbackschlaufe meiner selbst versuche ich mich an der Unmöglichkeit, fiktiv meinen Mund zu verdoppeln und ihn einmal als Klangquelle in unmittelbarer Nähe, einmal als Resonanzkörper massiv vergrössert auf einer imaginierten Bühne vor mir zu denken.“ Die Bassflöte war in den hintersten Parkettreihen platziert, das Kornett stand auf der Orgelemmpore, das Ensemble auf der Bühne umfasste je vier Bläser*innen (Klarinette, Fagott, Sopran-/Tenorsaxophpon, Posaune) und drei Streicher*innen (Bratsche, Cello, Kontrabass). Das ca. zehnminütige Werk überzeugte mich sehr, die Satzbezeichnungen gaben natürlich eine Richtung vor, es wurde tatsächlich geschnalzt, gekichert und geatmet in diesem Werk.

Sehr gut gefiel mir auch das Stück für Altsaxophon-Solo – gespielt von Valentine Michaud – und Ensemble von Nadir Vassena (*1970 in Lugano – im Bild zwischen Meierhans und Brönnimann). Hier gab es Piccolo/Bassflöte, Oboe, Klarinette/Bassklarinette, Violine, Viola, Cello, Klavier und Schlagzeug. Das knapp zwanzigminütige Stück entstand 2007 für Marcus Weiss und das ensemble recherche und wurde in Freiburg uraufgeführt (und wenige Tage später auch in Basel gespielt). Vassena schreibt im Programmheft: „Die Annäherung an das Saxophon, die ich in meinem Stück unternehme, ist sich bewusst, dass der ‚Klang‘ des Instruments von seinem eigenen Idiom aus un in ihm gedacht werden muss, und versucht sogar eine Neudefinition des Territoriums (auch im Verhältnis zum Ensemble. Der ‚dunkle‘ Teil ist in dieser Perspektive überhaupt nicht geheimnisvoll, man kann ihn einer nur nicht sehen (aber man hört ihn!).“ Geheimnisvoll wollte auch das erste Stück nicht sein, bei beiden konnte quasi beobachtet, erhört werden, wie die Musik sich zusammensetzte – und das gefiel mir auch beim zweiten Stück mit seiner überzeugenden Solistin sehr gut.

Das dritte Stück, wieder um die 20 Minuten lang, entstand 2017 im Auftrag des Collegium Novum Zürich, das es auch uraufführte. Oscar Bianchi (*1975 in Mailand – im Bild unten ganz rechts) hatte bei seinem Werk viel mehr Überbau und Beigemüse im Kopf, scheint mir. Im Programmheft greift er auf den Umgang der alten Griechen mit Zeit zurück, den Mythos als „Antwort der Griechen auf die Zeit bzw. auf die tatsächliche Nichtexistenz der Zeit“, darauf, wie sie „das Erzählen als einen Raum im Chaos“ etablierten, wie das Erzählen „die Zeit bezeugen“ soll. Hier war nun das ganze 15köpfige Ensemble auf der Bühne: Piccolo/Bassflöte, Oboe/Englischhorn, Klarinetten (auch eine Kontrabassklarinette oder sowas ähnliches), Sopran-/Tenor- und (vermutlich) Basssaxophon, Fagott/Kontrafagott, Trompete, Posaune, Violine, Viola, Cello, Kontrabass, Klavier und zwei Schlagzeuger*innen (mit Vibraphon, Gongs etc.). Das war klanglich zwar erneut ansprechend, aber überzeugte mich eher etwas weniger als die zwei sehr schönen Werke davor. Dennoch ein tolles Konzert, das mit den Umbaupausen etwas über eine Stunde dauerte, engagiert gespielt und von Baldur Brönnimann äusserst kompetent geleitet.

Danach ging ich ins Kunstmuseum Luzern (mit Konzertkarte gratis, eine schöne Geste), zum Glück mit wenigen Leuten (nochmal zwei Stunden in geschlossenen Räumen …) – sehr lohnenswert. Die aktuelle Sammlungspräsentation läuft unter dem Titel „Alles echt!“ und präsentiert Kopien, Imitationen, Nachahmungen, Zitate, Objets trouvés, Ready-Mades usw., von Kopien der „Mona Lisa“ und „Las Meninas“ über Sonja Sekula und Ben Vautier bis zu Dieter Roth und Franz Gertsch. Für mich ziemlich sicher die beste bisher gesehene Sammlungspräsentation (es gibt da keine feste Hängung sondern immer wieder andere Bilder zu sehen, und klar, wenn das zum Konzept wird, ist das nicht immer gleichermassen gelungen). Zudem gibt es eine Werkschau von Marion Baruch (*1929), die das lange Leben und Schaffen der Künstlerin zwischen Rumänien, Israel, Italien, Grossbritannien und Frankreich dokumentiert. In ihrem Werk werden die Zäsuren des 20. Jahrhunderts sichtbar, sie bezieht Sprache als zentrales Element mit ein, reflektiert Räume, Innen- und Ausswenwelten, wie die Überschrift der Retrospektive nahelegt: „innenausseninnen“. Ein sehr faszinierenden Durchgang durch ein vielschichtiges Werk, das mit textilen Arbeiten den Produktionsprozess der Mode in der Gegend um Mailand kommentiert, dem Kunstmarkt und den Kunstmessen einen Spiegel vorhält usw. Die kleine aktuelle Ausstellung ist dem Ostschweizer Andreas Züst (1947-2000) gewidmet und lapidar mit *Eis“ überschrieben. Zu sehen sind Fotos von Forschungsreisen in der Arktis, eine vierteilige Diainstallation in einem Kubus, sowie Peter Mettlers Dokumentarfilm „Picture of Light“, der leider nur auf einem kleinen TV-Bildschirm zu sehen war – sonst hätte ich den faszinierenden Film wohl in ganzer Länge angeschaut (ca. 90 Minuten), aber dazu war das zu unbequem (und Licht – mit einem Fenster über dem Bildschirm) und Ton zu schlecht. Dennoch: ich schreibe es nicht Corona zu sondern denke, dass das mein bisher lohnenswertester Besuch im Kunstmuseum Luzern war.

Rezital Igor Levit 1 – 22. August 2020 – KKL, Luzern

Igor Levit Klavier

Ludwig van Beethoven
Klaviersonate D-Dur Op. 28 „Pastorale“
Klaviersonate G-Dur Op. 31/1
Klaviersonate Es-Dur Op. 27/1 „Sonata quasi una fantasia“
Klaviersonate Es-Dur Op. 27/2 „Sonata quasi una fantasia“

Zum Abschluss gab es dann gestern am späten Nachmittag noch einmal Levit mit Beethoven-Sonaten aus den Jahren 1801/2, darunter die beiden „quasi una fantasia“, die ich vor zwei Jahren in Luzern auch mit András Schiff hörte (Kurtágs ebenfalls zweiteiligen Opus 27 gegenübergestellt – sehr faszinierend). Meine paar Zeilen zu Levit gelten auch hier wieder – wunderbar gespielt, ohne jegliches Theater, und wie mir schien tief aus den Werken hinaus gestaltet und zum Leben erweckt.

Die seltsame Engländerin, die nicht begriff, dass auch die Nase dem Atmen diente und ihre Maske nur überm Mund trug, hätte ich nicht als Sitznachbarin gebraucht … leider war ja beim Vorverkauf nicht ersichtlich, wo Plätze leergehalten wurden, ich hatte also keine bessere Wahl als „ganz am Rand“, aber bei diesem dritten Konzert war der nächste Platz dann halt doch besetzt – es sah so aus, als seien überall Einzel- und Zweierplätze belegt, aber wenn man beim Vorverkauf eben nichts sieht …

Ein ganz grosses Highlight war dann die Zugabe, nach wiederum sehr grossem Applaus (den Levit aber wie am Vorabend so gar nicht auskosten mochte – dreimal kurz raus und wieder rein, rasch wieder hingesetzt bzw. beim zweiten Mal länger die Zugabe angekündigt, diese gespielt, Verneigung und Abgang … die Leute hätten auch zehn Minuten stehend applaudiert). Es gab Alkan, die Prélude Op. 31/8 „Le chanson de la folle au bord de la mer“ – und Levit sprach ein paar Minuten über Alkan und dann über dieses sehr besondere Stück, das mich ziemlich verzaubert in den Abend entliess …

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