Antwort auf: Piano im 20. Jahrhundert – Die Liste

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gypsy-tail-wind
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Aus dem Hörthread rübergeholt – und hier zum Auftakt ein Schnappschuss, den ich vor einem Jahr in Parma im kleinen Museum, das in Toscaninis Geburtshaus eingerichtet, machte – aus einem der Alben mit Zeitungsausrissen:

Life Magazine, 27. Nov 1939 – auch hier in besserer Qualität und komplett zu finden:
https://books.google.ch/books?id=5kEEAAAAMBAJ&pg=PA65&lpg=PA65&dq=toscanini+sonia+mimicking+life+magazine#v=onepage&q&f=false

Da kann passend zum Schluss dieses Posts dann noch weiterlesen: „Germans in America“ … klar, man war sich im allgemeinen Antisemitismus ja auch einig (nicht, dass die USA dies nach dem Krieg noch gross herumerzählt hätten, klar …)

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Das ist dann der ganz späte Horowitz … die DG-Aufnahmen habe ich irgendwo weit hinten versorgt, sie sprechen mich bisher eher etwas weniger an, als die Aufnahmen aus den Sechzigern, wo er nach seinem Abtauchen eine Tiefe fand, die er davor ob der Brillianz seines Spiels wohl manchmal etwas missen liess.

Kurzfassung der Geschichte hinter der 12jährige Konzertlücke (die längste von mehreren), soweit sie bekannt ist: 1953 sprang Georg Szell – ein Rüpel – für Mitropoulos (der eine Herzattacke erlitten hatte) ein, als Horowitz das Tschaikowsky-Konzert aufführen sollte, die Begegnung löste gemäss Horowitz eine tiefe Depression aus. Dazu gehörte nicht nur, dass er das Konzert zwar nicht „a piece of chunk“ nannte, aber seine so lautende Meinung bemerkbar machte, und im Anschluss noch eine herablassende Bemerkung zum Picasso (Saltimbanque assis, les bras croisés), den die Horowitzens in ihrem Wohnzimmer hatten, wo die Szells nach dem Konzert auch auftauchten und Herr S. angeblich zu seiner Frau sagte: „Aha! You see what painting they have here? You see what painting they have here?! It’s just like the pianist!“). Im Buch der Comeback-Box (das ganze ist ein Buch, die CDs sind im Deckel und Rücken in Laschen gesteckt, aus denen sie dauernd herausfallen) ist ein Foto von 1962 zu sehen, als Horowitz seinen Vertrag mit Columbia unterzeichnete, das Bild noch im Hintergrund, zudem ein undatiertes mit Sonia, Wanda und Vladimir Horowitz auf dem Sofa vor dem Bild. Später haben sie es verkauft (angeblich aus versicherungstechnischen Gründen). Horowitz gab ein paar Wochen später noch ein letztes Solokonzert in der Carnegie Hall, dann zog er sich zurück. 1957 – nachdem ihn Toscaninis Tod im Januar erneut erschütterte – entstanden wieder Aufnahmen und die Rückkehr auf die Bühne wurde geplant, doch im Juni versuchte seine Tochter Sonia sich wohl, das Leben zu nehmen (ein Verkehrsunfall, bei dem ihre Schwester Wally zugegen war und einen Zufall/Unfall ausschloss: Sonia fuhr mit ihrem Roller in einen Bus). Horowitz erlitt einen Rückfall und unterzog sich 1958 einer Elektroschock-Therapie. 1959 machte er Aufnahmen, doch unterzog er sich noch einer zweiten, stärkeren Elektroschock-Therapie, die ihm zwar half, aber Nebenwirkungen hatte – v.a. Auswirkungen auf das Gedächtnis. So verzögerte sich die Rückkehr noch um ein paar weitere Jahre.

Sonia erholte sich von dem Unfall nie mehr ganz, Horowitz distanzierte sich von ihr, sie lebte fortan mehrheitlich in Europa und starb 1975 mit 40 in Genf an einer Medikamentenüberdosis. Horowitz selbst hat später gesagt, dass er noch bis 1974 an Depressionen gelitten hatte (die Geschichte fängt natürlich auch nicht erst 1953 an). Bernard Horowitz (nicht verwandt), dessen Essay in der Box ich das obige entnehme, verbindet die Reaktion Horowitz‘ auf Sonias Suizidversuch mit dem traumatischen Erlebnis um seinen Bruder Jacob. Dieser war 10 Jahre älter und Kriegsveteran und nach der Revolution (eine Zeit, die Horowitz anscheinend nicht mal mit seinem Psychiater besprechen mochte) hospitalisiert. Der jüngere Bruder besuchte ihn täglich, bis das nicht mehr ging – und Jacob sich erhängte.
Etwas mehr dazu kann man hier lesen, in einer Rezension der Comeback-Box, geschrieben vom Vater von Bernard Horowitz:
https://www.artsjournal.com/uq/2019/08/what-happened-between-vladimir-horowitz-and-george-szell.html

Ein früheres Comeback fand am 26. September 1938 in Zürich statt, da wurde ich gerade fündig – oben die Annonce in der NZZ vom 22. September 1938, hier die Konzertkritik aus der Ausgabe vom 28. (nach heutiger Zählung S. 16/17, damals Blatt 6, Abendausgabe Nr. 1707 und dort unterm Strich als Teil der „Zürcher Kunstchronik“ und nach dem Zwischentitel Konzerte als zweites von zwei solchen erwähnt):

-uh. Man muß sich nun also daran gewöhnen, nicht nur Sinfonie-, sonder» auch Solisten» und Kammermusikkonzerte im Zürcher Stadttheater zu hören, wenn mit einer großen Besucherzahl gerechnet wird. Den ersten, akustisch gut gelungenen Versuch machten an, 26. September Vladimir Horowitz und das mit Zuzügern auftretende Busch-Quartett im Rahmen eines Wohltätigkeitskonzertes. Horowitz hat sich entgegen dem zuerst mitgeteilten Programm schließlich für Chopin entschieden, was eigentlich ein wenig zu bedauern war, da man ihn als Chopinspieler jedenfalls besser kennt, denn als Interpreten Schumannscher Klaviermusik, die sich zudem zwischen den beiden Romantiker-Quintetten noch besser ausgenommen hätte. Anderseits bestand natürlich Anlaß, sich der Wahl der Polonaise-Fantasie, der Barcarolle und einiger Etuden aus op. 10 und 25 nicht zu freuen, weiß doch Horowitz durch sein eminentes Können und die Kultur seines Klavierspiels stets von neuem zur Begeisterung hinzureißen. Schien der Künstler bei Spielbeginn noch eine leichte Nervosität überwinden zu müssen, so gelangte er während des Vortrags der Polonaise-Fantasie, die er geistvoll-frei, aber mit untrüglichem Sensorium für die Empfindungssphären, die Chopin in diesem Werk durchmißt, zu gestalten wußte, schon auf die volle Höhe seiner pianistischen Meisterschaft. Der ins Grandiose und Triumphale vorstoßenden Fantasie / ließ Horowitz die in zeitlicher Nachbarschaft stehende Barcarolle in einer Interpretation folgen, die allen Klangfarbenzauber des Stückes im Dienste poetischen Ausdrucks aufleben ließ. Mit der vollen Intensität gewinnenden cis-Moll-Etude aus op. 25 und den beiden Ges-Dur-Etüden (op. 10 und 25), sowie einem Walzer rundete Horowitz die den Mittelteil des Abendprogrammes bildende Chopin-Gruppe ab und gab mit ihnen weitere Proben eines Spiels, das gleichweise durch die virtuose Eleganz der Technik, die Sensibilität des Anschlags wie durch die musische Noblesse besticht.

Da das noch in alter Schrift erschien und OCR da überhaupt nicht klappt, ich das obige mehr oder weniger abgetippt habe (Scharf-S gab’s damals noch, die NZZ hielt wohl auch länger daran fest als fast alle anderen Schweizer Zeitungen und Verlage), lasse ich den zweiten Teil der Rezension, der die Werke des Busch Quartetts (Mendelssohns erstes Streichquintett Op. 18 und Schuberts Streichquintett). Eine Zeitreferenz wird bei Schubert eingestreut: die Interpretation habe „in der schicksalsschweren Stunde, zu der das Konzert stattfand, für viele [in] sicher doppelt erhebende[r] Weise“ gezeigt, zu welcher „Verinnerlichung des Spiels“ das Ensemble fähig sei.

Der Leitartikel ruft zur „Geistigen Mobilmachung“ auf, daneben stellt eine Karte „Die territorialen Forderungen Hitlers“ dar, darunter wird die gestrige Rundfunkrede Chamberlains referiert und auf der Rückseite des Titelblattes steht auch der Satz, „die übrigen Kommentare der Morgenblätter“ seien bereits „durch die neueste diplomatische Entwicklung überholt“. Und eine andere Überschrift gibt auch schon den Ton der kommenden Jahre vor: „Der Papst schweigt“.

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