Antwort auf: Irrlichts Introducing

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Nihil

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HAYLEY WILLIAMS: Simmer

Auf Hayley Williams stieß ich im Forum vor einigen Wochen eher zufällig – einen Track ihrer Band Paramore habe ich bewusst nie gehört, sodass ich mich „Simmer“, der ersten Single ihres Debuts, völlig unvorbelastet nähern konnte. Mein Eindruck war vom ersten Moment an: Das ist einer der Tracks, die am Ende des Jahres für mich bleiben werden. Ein Song, der einer Treibjagd gleicht, rhythmusbetont und mit enormer Tiefe. Kurz: Ein absolutes Meisterwerk.

„Simmer“ beginnt mit verängstigten, aufgebrachten Atemstößen. Nach wenigen Sekunden setzen verschiedene Beatbox-Motive ein, dann Schlagzeug und Gitarre – alles fließt mit ihrem abschließenden, inbrünstigen Ausatmen zusammen; „Rage is a quiet thing/You think that you’ve tamed it/But it’s just lying in wait“ singt sie in den ersten Zeilen und der Lauf durch die Dunkelheit beginnt.

Es ist 2015 und Paramore kehren von ihrer Tour zurück. Die permanenten Wechsel in der Bandbesetzung, der Vorwurf, das Management konzentriere sich zu sehr auf Williams, während die sonstige Band im Hintergrund verblasse – all das entkräftet Williams zunehmend mehr. Sie kehrt zu dieser Zeit in das ambivalent empfundene Privatleben zurück. Eingekapselt als Hausfrau, eingepfercht in patriarchale Gefüge; Williams, die selbst streng gläubig aufwuchs, heiratet, die Monate ziehen ins Land, die Wut kommt und kehrt in der partnerschaftlichen Isolation immer häufiger zurück. Williams beschreibt im Gespräch, wie all die Frauen ihrer Familie in den Generationen zuvor den selben Lebens- und Leidensweg antraten – festgesetzt in konservativen Traditionen lebten sie stillschweigend dahin. Sie erzählt auch von ihrer Kindheit, die vom beständigen Streit der Eltern geprägt war; vom Wunsch nach Halt, nach Familie und Bindung, die sie nicht zuletzt im Bandgefüge von Paramore fand (“I think for a long time I wanted to create what my parents didn’t create for me.”). Erst später realisiert sie, dass auch die Punk-Szene von Männern geprägt ist und ihr Empfinden wächst, dass ein Teil ihres Wesens zunehmend verwelkt. Mit der Heirat beginnt der stete Verfall, die vorübergehende, inoffizielle Trennung von Paramore, die Abwendung Williams‘ von der Kunst.

Fünf Jahre später erscheint „Simmer“ – und es ist ein Befreiungsschlag nach ihrer Scheidung im Jahr 2017. Ein Song voller Wut, den Williams zu einer Zeit verfasst, in der auch enge Bindungen zu anderen Frauen gewachsen sind – zu Julien Baker, auch zu Musikerinnen wie Phoebe Bridgers und Lucy Dacus, die auf „Petals for amor“ ebenfalls zu hören sind. Der Song verarbeitet Williams‘ posttraumatische Belastungsstörung und ihre Depressionen, handelt von der Dunkelheit im Inneren, vielleicht auch von der Suizidalität, die sie an anderer Stelle anspricht – zunächst aber von Wut. Viele Jahre hatte sie diese unterdrückt und sich dafür geschämt. „Simmer“ ist ein Stück Selbstermächtigung, die Flucht nach vorn. Durch das Erlebte hindurch, durch die quälende Ehe und ihre Kindheit („And if my child needed protection/From a fucker like that man/I’d sooner gut him/’Cause nothing cuts like a mother“)

Oh, how to draw the line between wrath and mercy? Simmer, simmer, simmer, simmer, simmer down“ heißt es auch. Den Punkt zu finden, an dem Zorn und Barmherzigkeit gerade das richtige Maß annehmen. Der Song entwirft hierfür das Bild, sich selbst zu beruhigen, auch den Mut zu finden, sich selbst verletzlich zu zeigen. Dazu hüllt der Text die Flüchtende in Blütenblätter; ein vergleichbares Bild, das auch Björk schon verbildlichte (Williams Einflüsse in der Schaffensphase waren tatsächlich neben Björk auch Künstlerinnen wie Solange, SZA, Beyoncé und Erykah Badu). Das Bild wird auch im Albumtitel selbst aufgegriffen („Petals for amor“). Ein dünner Harnisch als Symbol, das bei Williams nach eigener Aussage während einer Cranio-Sacral-Massage entstand („I was laying on her table and I started having these weirdly creepy visions of flowers growing out of me. And not in a kind of beautiful way, it was kind of painful and very grotesque“).

Im zugehörigen Video durchquert Williams, verfolgt von roten Lichtstrahlen, völlig nackt einen Wald bei Nacht. An manchen Orten rastet sie und klammert sich an ihr inneres Licht; an anderen liegen die Gerippe derer, die bereits gefallen sind. Ein Haus taucht in der Ferne auf, die dunkle Präsenz verfolgt sie bis in die Gemächer hinein. Ein stiller Raum mit Kerzen taucht auf und sie beginnt ihre Kriegsbemalung auf die Haut aufzugeben. Zuletzt wird die schwarze Ritterin mit weißem Haar, die im Flur erscheint, erschlagen. Leblos liegt das eigene dunkle Selbst am Boden. Auf visueller Ebene duelliert sich Williams auf eine vergleichbare Weise, wie es schon Künstler*innen wie Madonna in „Die another day“ oder auch Bonnie ‚Prince‘ Billy in „Black“ (und sicher viele andere mehr) getan haben; der Umstand, dass die Erzählung im Haus endet und auch die christliche Prägung eventuell durch die symbolischen Kerzen verbildlicht wird, passt zu den biografischen Details.

Nicht zuletzt ist „Simmer“ ein brillanter Art-Pop-Song: Eingängig, intensiv, detailreich und treibend. Das präsente Schlagzeug, und die Bassmotive sind exzellent, auch Williams Gesang selbst. Ich mag, wie sie einzelne Silben dehnt und verkettet (das Auffälligste ist die Wiederholung des „simmer“ im Refrain, das zum „mer-si“ verbunden wird und damit die Kernzeile des Tracks erneut aufgreift) und ihren Gesang moduliert.

Und vor allem: Man hört die Zeitreise durch die Jahre. Durch Zerrissenheit, Apathie und Ausbruch. Mehr kann ein Song gar nicht leisten.

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Hold on Magnolia to that great highway moon