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vorgarten
dietmar_
Ich habe von den 3 neueren ECM-Alben nur die Trios, die mir neu erschienen sehr gut gefiel. Zeitnah gab es ein Konzert in Middelburg/NL was großartig war. Über dieses Album liest man überwiegend positives. Was gefällt dir nicht? Was fehlt dir?
Ich überlege derzeit, ob ich es erwerben möchte.wenn dir das trio ohnehin gefällt, wirst du auch mit LIFE GOES ON etwas anfangen können – ich finde jetzt nicht, soweit ich die vorherigen alben im ohr habe, dass hier etwas radikal anderes passiert. ich finde es nur sehr behäbig und arm an risiken, ohne feuer oder inneren drang. bei dem klischeeblues am anfang hatte ich auch ein ungutes gefühl von kultureller appropriation
als kenner der band hört man das bestimmt anders, sowieso mit großem respekt und verbeugung vor der lebensleistung. ich kriege das momentan aber nicht hin.
„Risikofreude“ wäre auch für mich kein passender Begriff für den Output des Trios. Unabhängig von dem Respekt vor dem Gesamtschaffen finde ich dennoch Zugang zu den letzten Alben. Denn „behäbig“ scheint mir ebenso wenig ein passender Begriff. Ich denke bei der Musik mehr an ‚Konzentration‘ – mein Ohr hört so ziemlich jeden der ja eher wenigen Töne als ausgesprochen stimmig artikuliert und platziert.
Ich habe das vor einiger Zeit auch live so gesehen. Als Bley reinkam, wirkte sie wie Haut und Knochen auf mich. Als ich ihre (gichtigen? arthritischen?) Hände sah, traute ich denen einen Livegig kaum zu. Und dann sah ich, wie sie das machte, wie sie ihre körperlichen Möglichkeiten ganz beeindruckend nutzte, um jeden Ton auf das Genaueste zu setzen. Das erforderte Bewegungsabläufe, die es ihr völlig unmöglich machen würden, perlende Läufe oder gar vollgriffige Sprünge oder sowas zu spielen. Stattdessen aber konzentrieren sie und ihre Mitspieler sich darauf, aus der Ruhe heraus Wesentliches zu bilden. Dazu gehörte zwar auch dieser eigenwillige Bley’sche Humor, den ich wohl nicht immer verstehe und womöglich auch manchmal überhöre, aber ebenso ein großer Ernst, der mir tiefsinnig und sprechend erschien.
Wenn ich den von dir monierten Blues höre, erscheint er mir respektvoll und respektabel anverwandelt (obwohl dieses Wort nicht ganz passt, es gab und gibt ja nicht DEN Blues, den man sich anverwandeln könnte), nicht aber wie etwas „Fremdes“ in Besitz genommen. Das Trio erspielt sich für mein Empfinden auch hier ein eigens abgestecktes Feld, auf dem sich alle Drei sehr überzeugend aufeinander bezogen bewegen und artikulieren.
Bei dem Begriff „Klischee“ werde ich unsicher. Mein ehemaliger Jazzlehrer hat mir des Öfteren gesagt, dass das konstruktive Spiel mit Klischees für ihn (nicht nur) zum Blues dazugehört. Ich selbst weiß auch gar nicht, wie das anders gehen sollte. Andererseits: Klar, dieser von dir angesprochene Blues artikuliert sich in recht tradiert wirkendem Idiom. Aber reicht das schon aus, um von einem negativen Klischee zu sprechen? Geht es im Jazz nicht auch wesentlich darum, seine eigene und damit unverwechselbare Stimme zu „finden“? Selbst ich als Wenig-Kenner würde vermuten, dass ich ihn nach dem ersten Hören ziemlich flott mit dem Bley-Trio in Verbindung brächte…
Edit: Ich bemerke gerade eine unschöne Häufung von ‚Artikulation’/’artikulieren‘ in meinem Geschreibsel. Das lasse ich aber mal so stehen, denn aus meiner Sicht gehört genau das zu den Stärken des Trios – in Verbindung mit dem Timing, welches ich bei allen wirklich toll fand.
zuletzt geändert von gruenschnabel--