Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Winterthur, Stadthaus – 04.03.2020

Musikkollegium Winterthur
Thomas Zehetmair
Leitung
Emmanuel Pahud Flöte (Artist in Resonance 2019/20)

Johannes Maria Staud „Terra pinguis“ (für Arthur) für Kammerorchester (2019), Schweizer Erstaufführung
Carl Nielsen Konzert für Flöte und Orchester
E: Nielsen Børnene spiller (Children Are Playing)

Jean Sibelius
Sinfonie Nr. 5 Es-Dur, op. 82

Gestern war ich beim Musikkollegium Winterthur – noch einmal mit Emmanuel Pahud, den ich bereits in zwei Kammermusikkonzerten in der ersten Saisonhälfte gesehen habe. Gestern nun also mit Orchester, geleitet vom Chefdirigenten Thomas Zehetmair. Ich ging schon zur Einführung, in deren Rahmen Johannes Maria Staud ein paar Worte über die Inspiration zu seinem neuen Stück sagte – es wurde neulich schon in München uraufgeführt, war aber eine gemeinsame Auftragsarbeit auch für das Musikkollegium. Staud lehnte sich zum zweiten mal an die barocke Alchemie des Universalgelehrten Johann Joachim Brecher (1635–1682). Dieser definierte drei Eigenschaften der Erde, die „jeweils für einen anderen Zustand von Materie stehen: Während die «terra vitrescibile» (die «glasartige Erde») das Prinzip der Schmelzbarkeit von Substanz repräsentiert, zeigt die «terra fluida» auf deren feine Flüssigkeit sowie Flüchtigkeit; die «terra pinguis» (die «fettige Erde») entspricht deren öliger Beschaffenheit.“ (Lion Gallusser, der auch die Einführung machte, im Programmheft). Die „terra pinguis“ beschreibt auch den Zustand der Erde nach ihrer Verbrennung, die Asche. Dazu weiters Staud selbst aus dem Programmheft: „Einige Grundelemente der passenderweise im Hochsommer entstandenen Komposition ‹verändern› fortwährend ihre Form, verklumpen, spalten sich ab oder verschmelzen zu neuen Gebilden, andere wiederum oxidieren, verbrennen oder verdampfen und lassen reizvolle Rückstände, ‹musikalische Asche› zurück.“

Stauds Stück dauerte etwa 13 Minuten und wurde in kleiner Besetzung gespielt, das Orchester wuchs danach für jedes Werk weiter. Es gab zehn Bläser (die Quintettbesetzung in Doppelung, inkl. Alt-/Bassflöte, Englischhorn, Bassklarinette) und etwa 20 Streicher, die ihre Instrumente teils mit besonderen Spielweisen traktierten, auch mal die Stimme einzusetzen hatten, für die Bläser gab es obendrein eim paar solistische Ausbrüche zu bewältigen, etwa eine rasende Fagottpassage, bei der ich mich fragte, ob das alles notiert ist (soweit ich den Geigen am ersten Pult in die Noten blicken konnte, verwendete Staud konventionelle Notation). Das Stück gefiel mir gut, es war für die Zuhörerschaft wohl wesentlich weniger anspruchsvoll (es gab denn auch kein Genörgel) als für das Orchester, das auf der Stuhlkante sass und mit höchster Konzentration spielte, passenderweise mit Rahel Cunz als Konzertmeisterin – sie ist in Sachen Neue Musik wohl eine der erfahrensten Geiger*innen in und um Zürich. Zehetmair dirigierte präzise und unaufgeregt, obwohl er zu grossen Bewegungen neigt.

Danach Auftritt Pahud, der Mann, der bis dahin die Bude füllte. Gestern war das wohl coronabedingt nicht der Fall, aber es waren doch ordentlich Leute da. Von Nielsen kannte ich bisher bloss das Violin- und das Klarinettenkonzert, letzteres das zweite und letzte von seinem Unterfangen, für die Mitglieder eines ihn begeisternden Bläserquintetts jeweils ein Konzert zu komponieren. Pahud war jedenfalls einmal mehr souverän und vertrat den Fall enorm überzeugend. Die Tonsprache Nielsens spricht mich ziemlich an, ich muss da auf jeden Fall weitermachen (die Aufnahmen von Blomstedt warren eh längst)! Pahud war über den Applaus wie es schien mehr als bloss routiniert-erfreut, meinte, er hätte gar nicht gewusst, dass Nielsen noch so beliebt sein könne. Klar war das kokett, aber der Flötenlehrerinnenschülerinnen- und Buntewollringelpulliträgerinnenanteil im Publikum war im Gegensatz zu den zwei Kammermusikkonzerten gestern gering, die Leute kamen wohl wirklich eher wegen des Programmes als wegen dem charmanten Emmanuel (der ja teils auch Schweizer Wurzeln hat – und wenn einer so gross/gut ist, zieht das natürlich zusätzlich). Konsequenterweise spielte er als Zugabe denn ein kleines Stück für Flöte solo aus Nielsens Feder.

Nach der Pause folgte dann die fünfte Symphonie von Sibelius – oder: wie man aus einer Viertelidee eine halbe Stunde Musik macht. Ich bleibe bei Sibelius zwiegespalten, die Aufführung war allerdings fein, engagiert gespielt, hochdynamisch, ja mitreissend. Neben Nielsen, der ja u.a. im Zwiegespräch der Flöte mit der Bassposaune kurz vor Ende launigen Humor zeigt, wirkte Sibelius aber fast beängstigend ernst. Der Zwiespalt hat vermutlich auch mit der Machart zu tun, dem Unterschwelligen (geh scheissen, Wagner! ;-) ), das vorbereitet, beeinflusst, auf das Unterbewusstsein abzielt. Dennoch ein feiner Abschluss eines sehr guten Konzertes!

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