Antwort auf: Ich höre gerade … klassische Musik!

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„Les Années de Pèlerinage“ schiebe ich hier auch regelmäßig ein …

Entscheidender allerdings für mich gestern:

Das „Officium Breve“, der kurze Dienst. In memoriam des ungarischen Komponisten Endre Szervánszky. 15 Sätze auf etwa 13 Minuten. Eine einzige Kompression der Verwandlungen, d. h. Aufgreifen und Aneignung, Hingabe und Weitergabe der Musik an – wen auch immer, zumindest an Szervánsky. Die Hauptbezüge liegen bei Anton von Webern und eben Szervánsky, der im Schlusssatz mit dessen Serenade für Streichorchester (ein frühes Werk) wörtlich zitiert wird. Aber mit dieser Wörtlichkeit steht es eigen. Ich kannte und kenne Szervánszky überhaupt nicht, habe mir die Serenade aber ausschnittsweise angehört – denn gut ertragen konnte ich sie nicht, obwohl das Zitierte bei Kurtág von größter Feinsinnigkeit oder Innigkeit ist. Und das ist das Eigenartige. Die Serenade ist mir viel zu einfach, viel zu „gerade“, und ich wäre von selbst nie darauf gekommen, dass Kurtág sie zitiert und das abschließende Arioso (bei Szervánszky der dritte Satz, nicht der Schlusssatz) nicht von ihm selbst ist. Was geht da vor sich? Die Anverwandlung eines anderen Komponisten (S.) durch hoch konzentrierte eigene (K.) Arbeit, sodass keiner von beiden verloren geht, sondern sie eher, eben verwandelt, gemeinsam weitergetragen werden? – Das ist dann wahrhaftig ein Dienst.

Heute abend die nächste Überraschung, gleichsam im Gebirge:

Die Werke sind so komplex, dass mir je nach Verfassung immer etwas anderes auffällt. Ugorskaja macht im dritten Satz der „Hammerklavier“ sehr schnell deutlich, dass es jetzt nicht mehr um Zeit geht, jedenfalls soll sie keine Macht mehr ausüben. Man kann dafür alle möglichen Vokabeln gebrauchen, Aufhebung, Versenkung und dergleichen. Frappierender finde ich, dass ja nach menschlichem Maßstab trotzdem irgendetwas übrig bleiben muss, und das ist nicht, wenn man nicht gerade Parsifalianer ist, der Raum. Für mich ist das bei Ugorskaja das völlige Gleichgewicht zwischen Zögern und Erfüllung, zwischen Zurücknahme und einem seltsamen Auf-etwas-zu-Laufen, das sich, noch seltsamer, durch eine stille Freude oder Feier – Betonung auf „still“ – auszeichnet.

Nach dem dritten Satz – was soll da kommen? Bekanntlich diese seltsame Einleitung zur großen stürmischen Fuge, und Ugorskaja, die Vielgewandte, hat sich mit ihrer Weise, den dritten Satz zu spielen, gleichsam alle feinen Stäbchen hingelegt, um in dieser Einleitung fast meditieren zu können, mal in die Richtung gespielt, mal in die andere, dies ausprobierend, dann das. So wie man spät nach Hause kommt und noch ein bisschen die Hände aufs Klavier legt. Schlüssig nach dem dritten Satz. Wenn man nicht aufpasst, könnte das noch lange so weitergehen. Umso größer die Wucht, mit der dann die Fuge einsetzt, und wie Ugorskaja da durch geht, ließ mich nur staunen.

Markant sind die ständigen, oft abrupten Wechsel in Dynamik und Tempo (Letzteres aber eher in op. 111), bei gleichzeitigen langen, sehr langen Phrasen. Der große Bogen ist klar, so wie man unten vor einem Felsgelände steht und zwar bereits weiß, dass man da oben auf die Spitze möchte und der Luftweg auch recht übersichtlich aussieht. Beim Los- und Weitergehen tun sich dann noch zig Nebentäler und Zwischenberge auf, durch und über die zu gehen ist – und zwar teilweise sogar zurück, wenn man weiterkommen möchte. Und dieses Irren oder Gehen gestaltet Ugorskaja so unbeirrt fein, als ob es klar sei, dass die Spitze zu erreichen sei, und sei es durch die Luft.

Dasselbe in der letzten Sonate, besonders im zweiten Satz. Mir fallen für die Arietta alle möglichen Worte ein – aber zum ersten Mal hier bei Ugorskaja habe ich den Eindruck von – Großherzigkeit. Ein langes Officium.

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