Antwort auf: 2020: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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gypsy-tail-wind
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Ich muss noch was zu Braxton selbst nachschieben, dünkt mich … es fällt mir schwer, sein Spiel in Worte zu fassen, wie ich merke. Seine seltsame Phrasierung erwähnte ich bereits, sie kann dazu führen, dass man denkt: Hier spielt ein Amateur! oder: Wollte er das wirklich so spielen? Auch bei den Konzerten in Wels war ich mir nicht immer zu 100% sicher, was letztere Frage angeht, aber wenn man sechs Sets – jedes wieder mit neuer Musik – hört, kann es auch den besten Leuten passieren, dass sich mal ein Fehler oder eine unsaubere Stelle einschleicht, das ist ja eh klar.

Sein Ton ist recht klein, nicht sehr kraftvoll, er war auch mit seiner abgewandte Position und der (wie ich hörte) gemieteten Soundanlage nicht immer richtig gut zu hören – es gab immer wieder Momente, in denen die Hawkins und die Rhythmusgruppe so eruptiv aufspielten, dass es eh jedem Bläser schwer gefallen wäre – und Braxton ist ja auch nicht mehr der jüngste. Andererseits schien er während der Abende überhaupt nicht zu ermüden oder so – der Mann ist schon in vielerlei Hinsicht rätselhaft.

Das Netz der Einflüsse auf sein klassisches Jazzspiel – Konitz, Desmond, aber auch die schwarzen Hardbopper, dort jedoch fast sicher eher die Poeten, eben: Gigi Gryce! – hatte ich schon aufgemacht, das ist ja auch nichts Neues, aber es ist eben auch nicht das, woran man sofort denkt, wenn man Braxtons Namen hört.

Mich beeindruckte er jedenfalls auch rein von seinem Saxophonspiel enorm. Er verweigert sich vollkommen dem Riff-Spiel, in der alten Tristano-Tradition erfindet er alles neu, aus dem Augenblick heraus. Natürlich verfügt er über einen (riesigen) Werkzeugkasten, der ein solches Unterfangen ermöglicht – und er fand im Trio dafür auch kongeniale Partner, schien mir, die ebensowenig wie Braxton auf Profilierung aus waren, aber sich auch keinesfalls davor scheuen, immer mal wieder ins Rampenlicht zu treten, starke Impulse zu geben, mal etwas in eine neue Richtung zu schubsen – oder sich auch mal verweigern können. Diese offene Spielhaltung habe ich oben ja schon beschrieben, aber sie gilt eben auch im kleinen, für Braxtons Spiel auf seinem Instrument. Und wenn Hawkins im Gespräch meinte – es drehte sich da eben um Monks „Eronel“, aber galt wohl gleichermassen ganz generell – dass er davon ausgehe, dass bei jede Phrase, jede Betonung exakt so rauskomme, wie er das geplant habe … ja, dann bin ich nach diesen drei Abenden vollkommen bereit, das zu glauben. Eine stille, aber ganz immense Meisterschaft.

Und dabei hat Braxton natürlich auch selbst kein Problem damit, im Zentrum zu stehen – auch wenn er dabei so tut, als sei er’s gar nicht, steht halt da und spielt, hält inne, hört zu, spielt wieder, sagt die Band an und geht ab – dass er keine Zugaben spielt (und sich ausser beim Foto vom Schluss oben auch nie mit den anderen vorn hinstellte, sie gingen einfach, einer nach dem anderen) fanden die Leute am zweiten und noch mehr am dritten Abend wohl etwas befremdlich, aber es war auch vollkommen richtig. Er gab am Ende die meisten Impulse, dirigierte – ohne Gesten, ein Blick zum Klavier oder manchmal ein Schlenker mit dem Saxophon oder dem Ellbogen reichte völlig – die Musik, steuerte, und lief auch selbst immer wieder zu grösster Form auf, blies beeindruckende Soli, ohne dabei jemals wild oder gar vulgär zu werden – was ich Hawkins jetzt auch niemals vorwerfen möchte – aber es gibt ja doch einen Zwiespalt: wenn die grossen Arpeggi, die gehämmerten Stakkato-Riffs, die Cluster ausgepackt werden – im Vergleich zu Braxton ist das dann schon der musikalische Zweihänder … der aber auch eine perfekte Folie für Braxton selbst bildete.

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