Antwort auf: Jahresrückblick 2019

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gypsy-tail-wind
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Und auch von mir: schön, Dich wieder mal zu lesen @vorgarten – auch wenn ich den grössten Teil ja schon wusste (oder – Iyer/Taborn, Lehman/Taborn – denken konnte). Ich möchte auf ein paar Punkte aber gerne eingehen …

vorgarten
meine live-erlebnisse beschränken sich leider fast ausschließlich auf das berliner jazzfest, wo ich offenbar ein recht ähnliches programm gesehen habe wie andere hier an anderen festivalorten (akinmusire origami harvest, eve risser solo, james brandon lewis unruly manifesto). stargast war aber natürlich anthony braxton, der sich mir dabei allerdings nicht ins herz gespielt hat. sein „sonic genome“-projekt (lauter wandernde musikalische kleingruppen, die sich im gropius-bau bewegten und dabei braxton-kompositionen spielten) habe ich im wesentlichen dazu verwendet, um mir die ausstellungen anzuschauen, hatte ansonsten den eindruck von räumlich undifferenzierter kakophonie, exzessivem weißweinkonsum und vorbeihör-angeboten durch eventisierung.

Zu Braxton ich selbstredend ganz andere Kommentare gehört (kenne ja ein paar riesige Fans und hab auch von Alexander Hawkins, der schon bei der ersten Aufführung von „Sonic Genome“ – in Bergamo glaub ich, schon ein paar Jahre her – mitwirkte, wieder davon gehört und auch bei ihm leuchten sofort die Augen, wenn er davon erzählt. Dass mir das Konzept nicht so sehr zusagt, wo ich doch bekanntlich immer alles und das auch bis zum Ende hören will ( ;-) ), dürfte auf der Hand liegen … aber ich kann es mir dennoch nicht so recht vorstellen. Auf das Standards Quartett in drei Wochen (Braxton und das Hawkins Trio) freue ich mich aber sehr, denn das ist dann ein Rahmen, in dem Braxton für mich funktionieren sollte (das Trio mit Taylor Ho Bynum und Gerry Hemingway bzw. das Quartet mit Taylor, Laubrock und Halvorson fand ich live auch hörenswert, aber bei beiden war ich nicht restlos begeistert, mit einer vollständigen Rhythmusgruppe kenne ich Braxton bisher erst ab Konserve …

Die Angleichung des Programmangebots scheint fortzuschreiten (und betrifft ja längst auch die Bühnen des deutschsprachigen Raums, sei es nun Sprech- und Rotztheater oder Oper) – vermutlich ist das ganze Beziehungsgeflecht (mit all den Abhängigkeiten, die sich aus geschuldeten Gefallen und Gegenleistungen so ergeben) inzwischen viel zu dicht gesponnen. Dennoch: in Zürich fehlt für die meisten dieser Leute der Rahmen, bei dem sie auftreten könnten, und das ist trotzdem bedauerlich.

vorgarten
unterirdisch fand ich die konzerte von angel bat dawid (die den jazz erst kürzlich für sich entdeckt hat, aber direkt in den missionierungsmodus geschaltet hat, während ihre musiker noch herauszufinden versuchten, wie mikrofone funktionieren) …. michelle mercer kennen gelernt (die u.a. das schöne buch mit/über wayne shorter geschrieben hat), die mir eine abgründige, wirklich zutiefst verstörende anekdote über kühn erzählt hat (die ich hier nicht weitergeben mag).
james brandon lewis, jaimie branch, eva mendoza, luke stewart und warren cudrup III spielten dann im kleinen quasimodo-club, das ging schön laut nach vorne, wobei ich branchs trompete tatsächlich 50 cm vor mit hatte und schon verstanden hab, warum ihr verspieler egal sind und ihre technischen limitierungen auch. dass sie aber offensichtlich keine gute trompeterin mehr sein möchte, sondern nur noch aktivistischer punk, vermag sich mir nach ihren ja doch sehr vielversprechenden anfängen nicht ganz zu vermitteln – es funktioniert aber so gerade (auch auf cd, wie ich finde, aber dazu gibt es ja schon eine diskussion hier).

Danke für die Beobachtungen zu Angel Bat Dawid und jaimie branch – bei ersterer hat mir ein Durchgang durchs Album im Stream gereicht, da würde ich nicht zu einem Konzert gehen (oder eben auch nur im Rahmen eines Festivals, wenn ich eh dort wäre), zu letzterer habe ich meine Meinung im erwähnten Thread ja kundgetan, im Wissen darum, dass sie hier im Forum alles andere als populär sein würde. Nunja. Die Geschichte von Mercer soll mir aber ein Ansporn sein, es irgendwann wieder mal bis Berlin zu schaffen!

vorgarten
alben
für mich ist CLOCKWISE von anna webber eindeutig das jazzalbum des jahres, einfach, weil da etwas ziemlich neues gewagt wurde, auch wenn sich die chefin dabei selbst ziemlich in die zweite reihe stellte. was man insofern 2019 wieder kompensieren konnte, indem man sich das neue dave-douglas-album (ENGAGE) besorgte, in dem webber neben jeff parker, tomeika reid und der tollen drummerin kate gentile sich als profilierteste solostimme präsentiert. das album meiner aktuelle lieblingspianistin kris davis (DIATOM RIBBONS) wurde mir leider durch den besetzungsmischmasch und insbesondere durch nels cline verleidet, aber toll fand ich sie als sidewoman auf rob mazureks live-album DESERT ENCRYPTS VOL.1 (im quartett mit chad taylor und ingebrigt haker flaten).

Das Album von Douglas hattest Du ja neulich erwähnt, hatte ich ebensowenig wie jenes von Mazurek auf dem Schirm … bei Douglas bin ich ja sehr zögerlich, bei Mazurek immer noch ziemlich am Anfang, aber bei beiden klingen die Bands wirklich gut (für Douglas‘ Verhältnisse sogar ziemlich überraschend – fast so, als hätte er mal wieder eine echte Herausforderung gesucht?).
Das Album von Davis werde ich dann wohl auslassen, die Band liest sich ja schon viel zu „dick“, und wenn sie dann auch so klingt … hmm.

vorgarten
ein album, das für mich aus dem nichts kam und das ich wirklich zu lieben gelernt habe, ist dieses hier:

ogjb sind oliver lake, graham haynes, joe fonda und barry altschul, und diese ältereherrenband ist alles andere als hüftsteif, sondern ziemlich gelenkig in ihren individuellen verrenkungen. macht unter playing-aspekten großen spaß, ist aber alles andere als mainstream.

Stimmt, das hattest Du vor Monaten mal erwähnt, ich hatte es auch mal irgendwo im Korb, aber das ging dann wieder vergessen, verdammt! Hole ich nach, danke für die Erinnerung!

Wäre jedenfalls schön, Dich 2020 hie und da wieder hier zu lesen – und zwar nicht nur mit älteren Beiträgen, das geschieht ja öfter!

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