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wahr
gruenschnabel
Oh – wusste ich gar nicht, dass du Ohren für sowas hast. Ist ja schon ein ziemlich spezieller Charme. Vielleicht schreibst du ja mal ein wenig dazu, was du an dieser Musik reizvoll findest. (Ich selbst könnte darüber seitenlang schwadronieren.)
Ich schreibe dazu bestimmt noch was, aber es wird etwas dauern. Gerne kannst du aber das seitenlange Schwadronieren schon starten. :)
Okay.
Allein die „Watcher of the skies“-Einleitung ist schon eine Besonderheit, auf die man mal näher eingehen könnte. Klar, Genesis waren nicht die Ersten, die das Mellotron auf markante Weise in Szene setzten. Dies taten zuvor z.B. schon die Beatles, The Moody Blues und King Crimson. Dass dem zukunftsweisenden Instrument (Quasi-Vorläufer des Samplers) aber eine recht lange Eröffnung nicht nur des einen Titels, sondern des ganzen „Foxtrot“-Albums anvertraut wurde, ihm also eine derart exponierte und exponierende Rolle zugeschanzt wurde, dürfte ein echtes Alleinstellungsmerkmal sein – oder gibt es noch weitere Mellotron-Passagen bis 1972 (und darüber hinaus?), die einen solch strukturell prominenten Platz einnehmen? Immerhin war die Wirkung der Einleitung wohl so überzeugend, dass die Band, die einen starken Sinn für die Dramaturgie ihrer Tonträger als auch Konzerte hatte, ebenfalls ihre Gigs seinerzeit damit eröffnete.
Zugleich liefert dieser für die ersten Jahre des Progs repräsentativ gewordene Opener allgemeinere Hinweise auf die ästhetische Entwicklung der Rockmusik. Denn ab ungefähr Mitte der 60er fand über die Herstellung neuer klanglicher Möglichkeiten eine Veränderung statt, die dann sämtliche musikalischen Parameter auf ziemlich massive Weise betraf. Bernward Halbscheffel prägte dafür den Begriff des „anhaltenden Tons“. Das hört sich zwar simpel an und ist es auch für sich genommen. Dennoch kann man die Faszination gerade der Progbands für das Mellotron vor allem vor dem Hintergrund verstehen, dass die Beatmusik der 60er im Wesentlichen zunächst vom Spaltklang und diesen mit recht schnell verklingenden Tönen produzierenden Instrumenten geprägt war. Fast synchron war dann aber zum Ende des Jahrzehnts der Trend zu beobachten, dass sowohl E-Gitarristen (mit Feedback und Verzerrung) als auch Keyboarder auf Equpiment zurückgriffen, das die Verlängerung des Tons erlaubte. Damit hielt u.a. das Prinzip orchestral anmutender Klangverschmelzung in die Rockmusik Einzug und bildete eine Erweiterung des Genres als Gegenpol zum Prinzip des Spaltklangs. Darauf fuhren ja gerade die Progger ab. Und dazu passt, dass ja auch klassische Orchesterinstrumente zu dieser Zeit verstärkt in die „progressive“ Rockmusik einbezogen wurden.
Das Mellotron hatte nun nicht nur den (ca. 8 Sek.) „anhaltenden Ton“ zu bieten, sondern im Unterschied zur Hammondorgel eben auch tradierte orchestrale Klangfarben – selbstverständlich deutlich verfremdet, aber das erschien im Sinne des „progressiven“ Klangbildes nicht als Nachteil, sondern schuf eher eine Art ästhetisch abgrenzbarer Klangidentität. Ich kenne ziemlich viele Leute, bei denen sich schon beim Wort ‚Mellotron‘ die Nackenhaare wohlig aufstellen und die natürlich sofort an den klassischen Prog denken. Das Instrument hat wirklich Charakter und Charisma, bei allen klanglichen und technischen Schwächen.
Zu Beginn von „Watcher of the skies“ ist dieses Charisma auf eine fast schon prototypische Weise in Szene gesetzt und zu spüren – dieses starke, von der Tonentwicklung eher statisch bleibende Reiben, dieses Wimmern… Gemäß den oben genannten Möglichkeiten des Mellotrons handelt es sich um eine sinfonisch anmutende Einleitung aus lang gehaltenen Akkorden, die mit großer Geste einen klangmächtigen Raum und damit auch die Ohren der Hörer öffnen.
Ohren öffnend ist sie allerdings auch auf Grund ihrer harmonischen Beschaffenheit. Nach der Mellotron-Einleitung beginnt der erste Gesangsteil in Fis-Dur, und deshalb wundert es kaum, dass sich ein fettes Fis sofort zu Beginn des Intros in tiefer Lage als Orgelpunkt breitmacht. Darüber jedoch liegt ein H-maj7 und darauf folgend ein Cis-Dur-Dreiklang: Statt der ersten Stufe also ihr „Vorrecht“ der tonalen Selbstetablierung einzuräumen, werden sofort komplexere und instabilere Bezüge geknüpft, was sich dann in dieser Einleitung auf sehr eigene Weise fortsetzt, obwohl das Fis durchaus weiterhin repräsentiert ist. Symptomatisch: In Takt 12 erscheint zwar das erste Mal ein lupenreiner Fis-Dur-Dreiklang (also eigentlich das tonale Zentrum), dieser aber wird nicht im Sinne einer Grundtonart wahrgenommen, weil er als Zwischendominante zum nachfolgenden h-Moll 7(mit hinzugefügter Sexte) fungiert. Erst kurz vor Einsatz der Singstimme wird dann unüberhörbar Fis-Dur als Tonika gefestigt – nach weit ausgreifenden und stark angereicherten Harmonien von Fis-Dur bis b-Moll mit Sexte, Septe, Trallala, verminderten Dreiklängen, ungewöhnlichen Quintfällen, überraschenden chromatischen Rückungen, Sekundvorhalten usw. Harmonisch bedienen sich Genesis hier einmal mehr einer Art Verschleierungstaktik und gewinnen dadurch Spannung und Originalität. Eine solche Verschleierungstaktik lässt sich auch hinsichtlich der Abschnittsbildung der Einleitung erkennen, die zwar als achttaktig angelegt betrachtet werden kann, eine klare Festlegung des Ohres darauf allerdings harmonisch nicht explizit unterstützt.
Ebenso verschleiert erscheint an mehreren Stellen auch das Metrum. Reizvoll ist für mich daran, dass der anfänglich noch recht „feste“ Vierer später unauffällig zum Sechser wechselt, in welchem dann ja das markante Rhythmus-Riff nach der Einleitung beginnt. Weniger gefällt mir aber eine doch ziemlich unorganisch und zerfasernd wirkende Tempoverschärfung davor.
Banks wird sich über viele dieser Dinge kaum Gedanken gemacht haben. Wenn ich ihn richtig einschätze, wird er einfach gedacht haben: „Wow, klingt geil! Und ungewöhnlich!“ Er stand voll auf den charismatischen Klang des Mellotrons, welchen er hier ja auch mit seiner Orgel verschmolz. Und ich stehe darauf auch. Digital-Fanatiker können das vielleicht nicht verstehen, aber ich nehme diesen Sound im Vergleich zu vielen anderen auf digitalen Tasteninstrumenten einfach als vergleichsweise lebendig wahr.
zuletzt geändert von gruenschnabel--