Antwort auf: 2019: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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Unerhört 2019

Das diesjährige Unerhört kollidierte leider mit zwei anderen Konzertterminen im Rahmen der mit den eh schon abgespeckten „Tagen für Neue Musik“ alternierenden Konzertreihe „Focus Contemporary“ (mein Bericht). So verpasste ich leider ein paar Konzerte, die ich sehr gerne auch noch gehört hätte, besonders das Solo von Tomeka Reid und die Band Triple Double um den Bassisten Tomas Fujiwara (da gibt es eineinhalb mal zwei und zweieinhalb mal eins: Taylor Ho Bynum-cor und Ralph Alessi-t, Mary Halvorson-g, Brandon Seabrock-b, Fujiwara & Gerald Cleaver-d), am Freitag spielte auch noch Orrin Evans solo und danach Craig Taborn mit der Rhythmusgruppe von The Bad Plus (die, mit Evans am Klavier, auch am vergangenen Wochenende schon zu hören gewesen wären), also Reid Anderson (b) und Dave King (d). Ebenfalls wäre am Freitag Jaimie Branch als Gast mit dem Trio des Gitarristen Dave Gisler zu hören gewesen, am Samstag zu dem Gianni Gebbia im Duo mit Heiner Goebbels, auch da wäre ich sehr neugierig gewesen. Aber momentan ist mal wieder viel zu viel los in der Limmatstadt.
 
Kaja Draksler – Zürich, Helferei – 27.11.2019

Kaja Draksler (p)

Das erste Konzert hörte ich letzten Mittwoch, direkt nach der Arbeit (Beginn 18:00). Die slowenische Pianistin Kaja Draksler spielte solo in der Helferei, einem an sich schönen, akustisch aber üblen Raum, in dem Intakt schon seit einer Weile Solo-Konzerte (co-)veranstaltet, jüngst hörte ich dort auch Alexander von Schlippenbach (siehe oben), beim letztjährigen Unerhört auch schon ein Duo von Alexander Hawkins mit Yves Theiler. Dieses Mal also Draksler, eine Pianistin, die ich sehr schätze, aber noch nie solo gehört habe (beim letztjährigen Unerhört spielte sie mit ihrem Trio ein tolles Eröffnungsset, davor hörte ich sie beim letzten richtigen Taktlos 2017 mit ihrem Oktett).

Sie fing mit einem kleinen Motiv in der hohen Lage an, repetierte es, verschob es, variierte es, mit hartem Anschlag, dass der Ton klirrte. Lange verharrte sie bei dieser Idee – ein kleines Notizheft, das eher wie ein kleiner Zeichenblock für Kinder aussah, lag auf dem Flügel und sie blätterte darin im Verlauf ihres Sets manchmal. Die linke Hand gesellte sich dazu, das Spiel verdichtete sich ganz langsam – und ich tauchte allmählich in die Musik ein. Das dauerte wohl eine Viertelstunde, und plötzlich (der Necks-Effekt quasi) war ich drin und begriff gar nicht, wie das denn nun passiert war. Draksler entwickelte ihr Set weiter aus wenigen Ideen heraus, baute dabei grosse Bögen von Verdichtung und Entspannung auf, Be- und Entschleunigung, griff zwischendurch ins Innere des Flügels, präparierte ein paar Töne, gegen Ende hin pfiff sie noch eine Melodie. Ich war verdammt müde, es schein mir aber auch für diesen Zustand passende Musik zu sein, eine Art konstantes Driften mit allmählichen Verschiebungen, Verschleppungen, ohne grosse Sprünge, aber dennoch keineswegs ohne Ecken und Kanten. Sie spielte dann auch noch eine kurze Zugabe und rundete damit eine schöne Stunde ab.
 

Wadada Leo Smith / Sarah Buechi-Franz Hellmüller-André Pousaz – Winterthur, Theater am Gleis – 28.11.2019

Wadada Leo Smith (t, p)

Grosse Hoffnungen hatte ich auch für den zweiten meiner diesjährigen Unerhört-Abende. Wenn Wadada Leo Smith sich die Ehre gibt, dann muss ich hingehen, soviel ist klar! Dass er ein Solo-Set spielen würde, machte die Sache noch besonderer, sein Monk-Album finde ich hervorragend, und Monk stand denn auch im Zentrum seines ebenfalls eine knappe Stunde dauernden Sets. Im Hintergrund war zunächst das auf dem Foto zu sehende Standbild von Monk projiziert, später gab es – stumm natürlich – auch bewegte Bilder von einem Auftritt im Quartett, mit Close-Ups von Monks Händen, eine Art irres Fingerballett auf Tasten inklusive der dicken Ringe, die Monk gerne trug. Smith sprach nach dem Set ein paar Worte und meinte, Monk – den er nie getroffen hat – sei einer seiner wichtigsten Mentoren, er hätte schon viele Jahre an Monks Musik gearbeitet, aber erst vor ein paar Jahren den Punkt erreicht, die Sicherheit, dass er eine Monk-CD herausbringen wollte. Der Titel der CD (2014 und 2015 aufgenommen, 2017 beim finnischen Label TUM erschienen), „Solo: Reflections and Meditations on Monk“, passte für das Set dann auch perfekt. Ich bin mir nicht sicher, aber ich vermute schwer, dass das Set mehr oder weniger der CD folgte, „Round Midnight“ machte jedenfalls den Abschluss, bei den anderen Stücken neige ich bei Monk total dazu, die Titel zu verwechseln, aber „Ruby My Dear“ und „Reflections“ müssten passen, „Crepuscule with Nellie“ wohl auch.

Das Set war, wieder direkt aus dem Büro kommend, mit etwas toter Zeit dazwischen und einem Bier immerhin, anfangs etwas herausfordernd. Die nötige Entschleunigung, nur ein paar Schritte von der Hektik des Winterthurer Hauptbahnhofs entfernt, stellt sich nicht auf Knopfdruck ein, schon gar nicht nach einem sonst schon vollen Tag. Aber eine solche Herausforderung tut ja gerade dann auch gut, und ich fand nach ein paar Minuten die Ruhe, die Smiths Musik verlangt. Sein Ton ist auch heute noch von einer unglaublichen Strahlkraft, mal rein und fast stechend in seiner Klarheit, dann aufgerauht, reich an Obertönen, dann wieder zwischen die Halbton-Intervalle greifend. Zwei- oder dreimal ging Smith nach hinten, setzt sich ans Klavier, drückte ein paar Tonfolgen, ein paar Akkorde. Er erklärte das später auch: Klavierspielen könne er nicht, aber diese Intermezzi dienten dazu, die verschiedenen Segmente abzuteilen, das Ohr neu zu kalibrieren, die Aufmerksamkeit wieder zu bündeln – und gerade so funktionierte das auch. Ein wunderbares Set von einem alten Meister, den noch einmal zu sehen (nach zwei Auftritten beim Jazzfest Berlin vor drei Jahren)

Sarah Buechi (voc), Franz Hellmüller (g), André Pousaz (b)

Das zweite Set war dann nicht so richtig mein Fall – und ich sehe gerade, was ich über das Buechi-Projekt schrieb, das ich im April 2017 beim Intakt in London-Festival hörte: „Ihre Performance schien mir eine Spur zu selbst=bewusst, eine Spur mehr Rampensau als nötig […]. Leider waren die Texte oftmals auf Poesiealbum-Niveau“ – für die Originals, die es dieses Mal gab, stimmt leider die Beobachtung zu den Texten weiterhin, für den Auftritt eine Spur weniger, aber etwas gar zu selbstbewusst kam mir Buechi auch dieses Mal hie und da vor. Los ging es mit dem Westschweizer Volkslied „Le haut sur la montagne“, es folgte „Afro Blue“, dann ein erstes Original, gefolgt vom Standard „Here’s That Rainy Day“ und einem zweiten Original, als Zugabe folgte dann noch ein hübsches Pseudo-Volksliedchen (eher ein Schlager, dessen Text leider total schief in der Landschaft steht – als Elina Duni das Lied bei einem Solo-Aufrtitt sang, fand ich das ob ihres leichten Akzentes noch irgendwie passend/charmant, aber bei Buechi eigentlich nur noch doof und nach anderen textlichen Entgleisungen irgendwie sinnentleert. Aber gut, die beiden Begleiter boten eine attraktive Mischung aus behutsamem Kammerjazz und, wenn angebracht, auch mal einem Groove oder einem solistischen Ausflug. Das ganze hörte sich schön an, auch Buechis Stimme gefällt mir nicht so schlecht. Die Intonation war zwar nicht immer perfekt, aber gerade in ihren ausführlichen Vokalisen schien sie mir schon sehr sicher. Dieses für sich fand ich meist auch ziemlich gut, aber die Anbindung an die Songs wiederum – am wenigsten vielleicht beim Stück von Mongo Santamaria – etwas schwierig, mehr halt zeitlich nah als dass es wirklich alles gepasst hätte. Das Trio spielte in dieser Konstellation wohl nur ein paar Gigs rund um diesen Unerhört-Auftritt herum, für den Buechi sich eine kleine Wunschformation zusammenstellen durfte. Das Potential sah ich schon, aber auch bei einer perfekt Umsetzung wäre das nicht so ganz meine Musik, zu sanft, zu oberflächlich-poetisch. Aber mit der Stimme kann sie wohl mehr oder weniger machen, was sie will (dass sie eine Indien-Connection hat, merkt man ihrem Gesang an, vermittelt wohl auch irgendwie über die grosse Jeanne Lee und deren in jeder Hinsicht so viel freieren Gesang, an den ich beim Konzert mehrmals denken musste).
 

Bottom Orchestra / Angelika Niescier-Alexander Hawkins – Zürich, Moods – 01.12.2019

Almut Kühne (voc), Benjamin Weidekamp (as/cl/bcl/arr), Uli Kempendorff (ts/cl), Silvan Schmid (t), Lukas Briggen (tb), Manuel Troller (g), Philip Zoubek (p/synth), Kaspar von Grünigen (b/comp/lead), Miguel Ángel García Martín (perc), Gregor Hilbe (d)

Gestern Abend ging ich dann noch zum Abschlusskonzert des Festivals im Moods. Angekündigt war die Reihenfolge andersrum, ich spielte mit dem Gedanken, nach dem Set von Niescier/Hawkins zu gehen – doch dann war auf der Bühne die grosse Band aufgebaut, ich hörte mir also beide Sets an.

Das Bottom Orchestra ist eine mittelgrosse Band, die sich der Exploration von „Worksong, Arbeiterlied, Industrial“ widmet, und da lasse ich Bandleader Kaspar von Grünigen besser selbst weiterreden: “ – die Arbeit und ihre Transformation durch Technologie hat als Thema und Klang breite Spuren in der (Musik)Geschichte hinterlassen. Ausgehend von Rhythmus und Sprache unseres postindustriellen Arbeitsalltags spürt das bottom orchestra in den ’songs of work‘ den Beziehungen von Mensch, Arbeit und Klang nach – und schaut dabei dem Kapitalismus genau ins neoliberale Maul. Dabei wechselt das Ensemble lustvoll die Gänge zwischen solistischer Berufung und passgenauem Ensemblespiel, zwischen Feinmechanik und Grobmotorik, zwischen Harmonie und Dissonanz, zwischen Geräusch und Ton.“ (Quelle)

Leider fand ich das alles etwas brav, musikalisch oft auch etwas steif, so richtig in Fahrt kam das Set nie (auch wenn die Band durchaus den Eindruck vermittelte, das anders zu empfinden). Die gesungenen Texte waren ordentlich nostalgisch, es gab Megaphon-Einsprengsel, eine Sirene usw., Betrachtungen über den Kapitalismus, die Angstellten usw. – kennt man alles schon, so mutig und kreativ wie Dieter Ulrich, der die Ansage machte und wieder einmal etwas gar sehr den Fanboy herauskehrte, fand ich das alles nicht, vor allem erinnerte mich die Musik aber an das umwerfende, thematisch ganz ähnliche Set, das ich beim Taktlos 2016 von Maja Ratkje mit der Gruppe Das Kapital hören konnte. Gerne möchte ich dem Bottom Orchestra zurufen: spielt euch frei! Macht Musik, sie so frei ist, wie ihr das in den Texten – gesungen, proklamiert – beansprucht! Denn viele gute Ansätze sind vorhanden, die Musiker und die Sängerin allesamt ziemlich gut bis super, aber so einen Albatros zum Fliegen zu bringen, ist halt nicht leicht. Das Set war aber alles in allem doch besser, als ich erwartet hatte.

Angelika Niescier (as), Alexander Hawkins (p)

In der Pause tauchte dann Alex auf, wir kamen aber erst nach dem Konzert noch ein wenig zum quatschen (Resultat: ich habe gerade die Box mit dem frühen DG-Aufnahmen von Ivo Pogorelich geordert – :bye: @soulpope). Meine Vorbehalte gegenüber Niescier beruhen auf dem Auftritt, den sie auch 2016 beim Jazzfest Berlin gab – und den die Intakt-Crew bejubelte (Link zum Bericht siehe oben bei Wadada). Im Intakt-Abo erhielt ich später die CD des NY Trios, die ich viel besser finde (aber zu kurz, das hatten wir irgendwo schon diskutiert). Dass sie nun mit Hawkins spielte, weckte also sehr gemischte Erwartungen. Doch Zweifel und Skepsis waren am Ende nicht angebracht. Hawkins hatte erwähnt, dass er in vor einigen Wochen in Frankfurt war und Niescier ihm dort ein paar Stücke gab. Sie spielten auch ein paar Stücke aus Hawkins‘ Feder, die mehr Freiräume liessen als die teils äusserst komplexen Stücke von Niescier, die Hawkins dankenswerterweise aber auch wirklich geübt hatte – so weit geübt, dass der Musik nun gerade das gelang, was davor nicht funktionierte: sie hob immer wieder ab, aus den verschwurbelten, oft im Unisono und in halsbrecherischen Tempi gespielten endlosen Linien von Niescier entwickelten sich doch immer wieder Höhenflüge, in denen deutlich wurde, dass hier nicht bloss zwei etwas kühle EuropäerInnen am Werk waren, sondern dass auch einiges aus der Jazztradition mit auf der Bühne war – bei Niescier besonders Coltrane, in einem Stück so deutlich, wie ich das nicht erwartet hätte, aber auch gut eingebunden in ihre eigene, energetische Spielweise. Mitten im Set gab es auch ein Stück aus der Feder von Muhal Richard Abrams, „Arhythm Songy“ vom Album „1-OQA+19“ (Black Saint, 1977). Auch diese Komposition kommt mit einer rasanten, repetitiven Linie daher, fügte sich also gut in die Musik Niesciers ein. Als am Ende dann doch noch eine Zugabe her sollte, spielten die beiden eine tolle, kurze Improvisation, spontan entworfen und doch kohärent und auch im Zusammenspiel stimmig. Darauf kann gebaut werden, und ich hoffe, dass das Gespräch der Intakt-Leute mit den beiden, das nach dem Konzert folgte, in diese Richtung ging – mich würde es jedenfalls freuen (und es drängt sich die Frage auf, ob ich mit der jüngsten Niescier-CD auf Intakt, auf der ja auch der tolle Trompete Jonathan Finlayson mitwirkt, einen Versuch machen sollte … wer kenn diese denn @nicht_vom_forum @imernst @dietmar_ ?)

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