Antwort auf: Die wunderbare Welt der Oper

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Zürich, Opernhaus – 15.11.2019

Belshazzar
Oratorium von Georg Friedrich Händel
(1685-1759)
Text von Charles Jennens

Musikalische Leitung Laurence Cummings
Inszenierung Sebastian Baumgarten
Bühnenbild Barbara Steiner
Kostüme Christina Schmitt
Lichtgestaltung Elfried Roller
Video-Design Hannah Dörr
Choreinstudierung Janko Kastelic
Choreografie Thomas Wilhelm
Dramaturgie Claus Spahn
Videomitarbeit Paul Rohlfs

Belshazzar Mauro Peter
Gobrias Evan Hughes
Nitocris Layla Claire
Cyrus Jakub Józef Orliński
Daniel Tuva Semmingsen
Three Wise Men Thomas Erlank, Oleg Davydov, Katia Ledoux
Solisten Lina Dambrauskaité, Justyna Bluj, Katia Ledoux, Thomas Erlank, Oleg Davydov, Eleanor Paunovic
Tänzerinnen und Tänzer/Schauspieler Yvonne Barthel, Anna Virkkunen, Sebastian Zuber, Evelyn Angela Gugolz, Benjamin Mathis, Lynn Clea Ismail
Live-Kamera Julia Bodamer

Orchestra La Scintilla
Continuo: Joan Boronat Sanz (Cembalo), Claudius Herrmann (Violoncello), Brian Feehan (Theorbe), Dariusz Mizera (Kontrabass)
Chor der Oper Zürich
Statistenverein am Opernhaus Zürich

Bei mir gab es gestern Händels „Belshazzar“ in einer etwas überfrachteten, gutmeinenden aber auch etwas schizophrenen Inszenierung von Sebastian Baumgarten. Auf einer Art Film-Set im Stil der alten Studiowelt wird über Krieg und Frieden reflektiert, während im Hintergrund auf Leinwänden teils die Bilder der Live-Kamera flimmern, teils Bilder der Hinterbühne, mehrfach aber auch Bilder, die wohl der Verdeutlichung des Anthropozän dienen sollen, aber auch der Gewalt der Natur (Hurrikane, Tsunamis, abbrechende Gletscher, Vulkanausbrüche, Feuer, Fluten, Bergstürze) – mit der These vom Anthropozän habe ich keine Probleme, im Gegenteil, aber dass ausgerechnet ein hochsubventioniertes Stadttheater quasi einen subversiven Blick auf die Welt erzwingen will, finde ich eher süss als überzeugend – da müsste, wenn es nach mir ginge, mit feineren Mitteln gearbeitet werden, um eine echte Wirkung zu erzeugen, denn bei Baumgarten kam leider nur ein endloser Bild-Fluss heraus, der, ja, durchaus etwas von einem Laxativ hatte – wenn die Titelfigur dann auch noch eine hellblaue Uniform voller Orden trägt, die gewiss nicht zufällig an Gaddafi erinnert, ist das alles schon etwas viel. Dass das frühaufklärerisch aber wohl schon damals eher wider besseres Wissen aufgegleiste Kernthema – die Opposition des Monotheismus zur Vielgötterei, die ungeheure Veränderung, die ersterer mit sich brachte, was die Entzauberung der Welt betrifft – durchaus Sprengkraft hätte, ging darob ein wenig unter. Dennoch, so übel wie die Premierenkritiken erwarten liessen, war das alles zum Glück nicht – ganz im Gegenteil, am Ende fand ich den Abend inkl. Regie ziemlich okay und in vielerlei Hinsicht viel besser als bloss okay!

Das Orchester spielte wie üblich wunderbar auf, Laurence Cummings (er hatte ein Cembalo vor sich, streckenweise stiess er zur Continuo-Gruppe oder spielte einhändig Verstärkungen zum Cembalo von Joan Boronat Sanz (wie Brian Feehan an der Theorbe ein Zuzüger, in der Regel bringen die Dirigenten da ihre Leute mit, aber Herrmann von La Scintilla ist fast immer als Continuo/Solocellist dabei, der Mann ist auch wirklich hervorragend). Die Koordination mit der Bühne, die bei der Premiere wohl etwas holprig war, klappte gestern reibungslos. Der Chor war zudem überragend. Zu Händels Zeiten, als die Oratorien nicht szenisch aufgeführt wurden, war das wohl einfacher, gestern galt es, den Chor in drei Gruppen – die Babylonier mit ihrem König Belshazzar, die gefangenen Juden und die Perser mit ihrem Prinz Cyrus, der Babylon erobern wird, die Juden befreien, die Babylonier verschonen … dass dabei die Perser streng militärisch in schwarzer Leder (Latex?) Kluft auftraten, die Babylonier – die auch ordentlich sympathisches Chormaterial zu singen haben – hingegen bunt-chaotisch (aber auch versoffen und manchmal aggressiv) macht die Orientierung nicht gerade einfacher. Vielleicht war das der Versuch der Regie, in dem übermässig klaren Grundkonzept doch noch etwas zu relativieren, wenn es um die Zuordnung von Gut und Böse geht?

Die gefangenen Juden tragen T-Shirts mit den Konterfeis von allerlei wichtigen Vertretern ihrer Geschichte, von Walter Benjamin zu Serge Gainsbourg, Karl Marx, Lauren Bacall, Simone de Beavoir, Anne Frank, Sheryl Sandberg – Regisseur des Stücks im Stück ist dabei ihr Prophet Daniel, der sein „Buch Daniel“ stets unter dem Arm mit sich führt und das Schmierentheater im Studio anführt, bei dem auch Trockennebel oder ein Miniaturmodell des sündigen Babels zum Einsatz kommen, über das ein Schnee- oder Sandsturm hinweggeht, während die Live-Kamera draufhält. Daniel trägt dabei natürich das Konterfei Fritz Langs auf der Brust. Gesungen wird der Part von Tuva Semmingsen mit einer warmen, enorm kultivierten aber etwas zu kleinen Stimme (der Pegel ist aber, wenn La Scintilla aufspielt, sowieso deutlich leiser, Semmingsen konnte in der Regel gut gehört werden und bestach durch wunderbaren Gesang).

Als Belshazzar blieb Publikumsliebling Mauro Peter hingegen ziemlich farblos, dass er bei den Koloraturen Nerven zeigte, wie die NZZ zur Premiere schrieb, fand ich nicht gerade, aber beeindruckend war da dann leider am Ende nicht viel – und ein echter Partner für seine Mutter war er gesanglich nur selten. Deutlich besser und sehr berührend wurde diese, Nicotris, von Layla Claire gesungen. Ihre Arien gerieten immer wieder zu Höhepunkten des Abends, ihre beiden Duette – eines mit Peter, das andere mit dem Prinz der Perser, Cyrus – waren ebenfalls wunderbar. Cyrus wurde vom Shooting Star unter den Countertenören gesungen, Jakub Józef Orlinski. In der NZZ hiess es, er klinge in der Höhe angestrengt und schrill, beides empfand ich gestern nicht so, aber er hatte v.a. bei seinem ersten Auftritt einen recht harzigen Start, musste erst einmal in die Musik hineinfinden. Später glänzte er jedoch gerade was die Koloraturen betraf immer wieder, und er bot damit neben Claire sicherlich die beste Leistung. Gut war auch Evan Hughes als Gobrias (ein Überläufer der Babylonier, der Cyrus den Weg weist, auf dem die Eroberung Babylons gelingen soll), aber seine Rolle ist eine der kleineren unter den Hauptfiguren.

Im Vergleich mit den anderen Aufführungen von Barock-Opern in Zürich in den letzten Jahren („Alcina“ mit Bartoli und Jaroussky unter Antonini, Regie von Loy; Charpentiers „Médée“ unter Christie mit d’Oustrac und Van Mechelen, Regie von Homoki; „L’incoronazione di Poppea“ unter Dantone mit Hansen, d’Oustrac, Fuchs, Galou, Regie Bieito; Vivaldis „La Verità in cimento“ auch unter Dantone mit Devin, Dumaux, Nikteanu, Galou, Regie Gloger; Händels „Semele“ unter Christie mit Bartoli, Regie Carsen; und zuletzt eine phantastische Aufführung von Rameaus „Hippolyte et Aricie“ mit Petit, Dubois, d’Oustrac, Crossley-Mercer unter Haïm, Regie Mijnssen) konnte das gestern aber insgesamt nicht mithalten – zu bunt und disparat, zuwenig Klarheit im Konzept, trotz des phantastischen Chors und des exzellenten Orchesters. Es fehlten letztlich aber schon auch die wirklich herausragenden Stimmen auf der Bühne.

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