Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Zürich, Tonhalle-Maag – 03.11.2019
 
Kammermusik-Soirée

Pekka Kuusisto Violine

Musikerinnen und Musiker des Tonhalle-Orchesters Zürich:
Vanessa Szgeti
Violine
Gilad Karni Viola
Rafael Rosenfeld Violoncello

Benjamin Engeli Klavier
 
Samuel Rinda-Nickola: Fünf Tänze aus dem „Nuotti-Kiria“ („Musikbuch“) für Violine solo
Jean Sibelius Streichtrio g-Moll JS 210
Eduard Tubin „Süit eesti tantsulugudest“ (Suite über estnische Tanzweisen) für Violine solo ETW 58
Erkki-Sven Tüür „Convesio“ für Violine und Klavier

Arvo Pärt „Fratres“ für Violine und Klavier
Philip Glass Streichquartett Nr. 3 „Mishima“
 
Ein feines Kammermusik-Programm, und auch gleich wieder die Bestätigung, dass diese nordischen Programme neben den Habitués (aka Silberrücken) eine andere Klientel anziehen, was doch super ist. Das Programm des Abends – mit Pause dauerte das knapp zwei Stunden – war geschickt ausgedacht. Los ging es mit Kuusisto, solo, doch zuerst erzählte er rasch, was es mit diesen Stücken auf sich hat: Rinda-Nickola (1763-1818) ist nicht etwa der Komponist sondern war Schneider und Fidelspieler und einer der wenigen seiner Zeit, der die Notenschrift beherrschte und also viele Volksweisen und Tanzmelodien notierte. Kuusisto spielte das wieder mit ergreifender Schlichtheit und Direktheit, doch zeugte seine Spielweise ebenso von der hohen Kunst des Geigenspiels, die Dynamik wurde voll ausgekostet, bis zum Verschwinden des Tons im Nichts, die Musik mal ganz zart, dann eher ruppig, mal tänzerisch, mal eher stapfend. Der Faden wurde am Ende der ersten Konzerthälfte mit den Stücken von Tubin noch einmal aufgegriffen. Der estnische Komponist (1905-1982) lebte nach 1944 im schwedischen Exil und ab da wurde die Beschäftigung mit der heimischen Volksmusik zur Konstante. Die Suite stammt von 1979 und zitiert solche Volksweisen, sie nur leicht verändernd und abwandelnd – doch wirkte dieser Effekt schon ziemlich stark im direkten Vergleich mit den Stücken aus Rinda-Nickolas Heft.

Dazwischen gab es das für mich wohl grosse Highlight des Programmes, nämlich das unvollendete Streichtrio von Jean Sibelius, das 1893/94 entstand und unvollendet blieb. Der erste Satz (Lento) ist möglicherweise zu Ende komponiert worden, die Sätze zwei und drei (ohne weitere Bezeichnung) schlossen nahtlos dran an (ich nehme an, es gibt da eine Aufführungsversion in der das halt so ist?). Das Ding changiert zwischen schroffen Klängen, elegischen Melodien, treibenden Rhythmen – und steht wohl in seiner gleichzeitigen Ambitioniertheit wie Unfertigkeit symptomatisch für das Genre Streichtrio, das Mozart noch als leichte Unterhaltung galt, bei Beethoven dann zwar mit ambitionierten Werken zur eigenen Gattung wurde, aber zugleich auch als Vorstufe für die wirklich bedeutenden Werke – die Streichquartette, zugunsten derer das Trioformat dann ganz aufgegeben wurde – auch gleich zurückgelassen wurde. Das ist schade, denn diese etwa zwölf Minuten von Sibelius sind wirklich faszinierend! Und das zupackende Spiel von Karni und Rosenfeld (von Kuusisto zu schweigen) machte auch den Kontrast zum quasi biedermeierlichen Musizieren von gestern in Winterthur deutlich. Ich will nicht von „anderen Kalibern“ reden, denn Pahud ist sicher oberste Güteklasse – aber das war schon eine ganz andere Ansage heute.

Den Ausklang der ersten Konzerthälfte machte dann mit „Conversio“ (1994) wieder ein Stück von Erkki-Sven Tüür, dem diesjährigen Creative Chair (Kuusisto ist einer der „In Fokus“-Künstler, neben dem dreimal aufgeführten Orchesterprogramm gab es nun eben auch noch diese Kammermusik-Soirée … ich vermute „Im Fokus“ ist quasi „artist in residence“ aber auf mehrere Leute verteilt). Wieder mit Benjamin Engeli am Klavier, der am Freitag ja auch schon für ein kurzes Tüür-Stück dabei war. Hier ergab sich aus dem Ablauf eine Klammer mit Pärt, dessen „Fratres“ in der Fassung für Violine und Klavier (1980, die erste Fassung für Kammerensemble stammt von 1977) nach der Pause folgte. Beide Stücke sind bewegt, ohne ein Ziel zu kennen, es ergibt sich so eine Spannung zwischen Hektik und Ruhe, aus der eine Kraft wächst, die natürlich etwas fast Meditatives hat. In der Hektik liegt die Ruhe, in der Ruhe dann aber auch zugleich dieses unbestimmte, ziellose Drängen. Dass das Melodiefragment, mit dem es bei Tüür losgeht, zudem an eine Volksmelodie erinnert, passt natürlich ebenfalls bestens in das Programm des Abends.

Den Ausklang nach der Klammer mit Violine/Klavier um die Pause machte dann das dritte Streichquartett von Glass (1985), komponiert für Paul Schraders Film „Mishima“, den ich bisher nicht kenne. Das Ding klang für mich erstmal ein wenig nach der Musik zu „Koyaanisqatsi“, die ja schon ein paar Jahre früher entstand – das hatte aber wohl weniger mit dem Material zu tun als mit den Verfahren der Verdichtung und Verschiebung, der Entspannung, der Schichtung und Entschichtung der verschiedenen Stimmen. Mit minimalem Material wird ein grosser Effekt erzielt, das Ganze hat, klar, auch wieder etwas Meditatives und schloss damit an Pärts Stück an – aber es wurde eben auch ordentlich dicht und bewegt, bis es dann – eher unvermittelt schien mir – vorbei war.

Das war es natürlich noch nicht ganz, Kuusisto musste noch eine Zugabe spielen (obwohl die Silberrücken – wie respektlos und immer wieder ärgerlich! – schon zum Ausgang strömten) – spielen? Am Freitag spielte er eine und pfiff eine zweite, sich die Violine zupfend begleitend. Auch heute zupfte er wieder seine komische Ukulele, aber er pfiff nicht sondern er sang, und er erklärte Szigeti, Karni und Rosenfeld, wie sie ihn begleiten sollten dabei. Im Lied, so Kuusisto, ging es um zwei Jungs, die zum Schuhmacher gehen, um ihre geflickten Schuhe abzuholen. Doch der hat sie noch nicht geflickt und ging ins Nachbardorf … ich kann mir nicht helfen, aber bei all diesen Stories, seien sie nun aus Finnland oder Estland, kommen mir immer wieder Szenen aus den lakonischen Filmen von Aki Kaurismäki in den Sinn (und gibt doch bestimmt einen Genremaler aus dem späten 18./frühen 19., der diese Geschichten in Öl festgehalten hat?). Eine kleine Zugabe, an deren Ende die verblienenen drei Viertel des Publikums dann doch noch von den Stühlen aufstanden – und die Musikerin und die drei Musiker für den letzten „Vorhang“ nicht nochmal auf die Bühne kamen sondern vor die Bühne, direkt in die erste Reihe (das hatte Kuusisto wohl schon vor der Pause vor, aber Engeli ging nach oben und so musste er halt mit – hatte mich schon gewundert, warum er neben der Bühnentreppe nach vorn marschierte statt die Treppe hoch).

Ich sollte mich wohl mal nach Kuusistos Aufnahmen umsehen und vielleicht das eine oder anderen kaufen …

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