Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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gypsy-tail-wind
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Zürich, Tonhalle-Maag – 01.11.2019

Tonhalle-Orchester Zürich
Paavo Järvi
Leitung
Pekka Kussisto Violine

Erkki-Sven Tüür „Sow the Wind…“ für Orchester
Jean Sibelius Zwei Humoresken Op. 87 für Violine und Orchester
Jean Sibelius Vier Humoresken Op. 89 für Violine und Orchester
Jean Sibelius Zwei Serenaden Op. 69 für Violine und Orchester
Erkki-Sven Tüür „Walk on the Rope“ für Violine und Klavier (Benjamin Engeli Klavier)

Pjotr I. Tschaikowsky Symphonie Nr. 6 h-Moll Op. 74 „Pathétique“

Gestern Abend ging es also trotz der Erkältung in die Tonhalle – und das war am Ende zum Glück auch kein Problem, die Hustanfälle konnte ich zurückhalten bzw. mich mal ein Fortissimo räuspern … zudem war ich auch tatsächlich fit genug, das über zweistündige Programm (ohne Pause, Konzertbeginn 19:30, Ende ca. 22:10) wirklich aufmerksam zu hören. Los ging es mit einem ca. zwanzigminütigen, hübsch anzuhörenden aber am Ende eher belanglosen Orchesterstück von Tüür, der dann auch noch rasch auf die Bühne kam. Ein allmählicher Aufbau, eine Art erzählende Musik, die immer dichter wird, bis auf dem Höhepunkt ein lauter, straffer Rock-Beat vom Schlagzeug einsetzt … das überalterte Publikum fand es super und hielt sich dann auch noch für besonders offen und neugierig (dazu sage ich ironisch: super … Trivia: Tüür und Järvi spielten wohl einst zusammen in einer Rockband, Järvi am Schlagzeug, und ja, das Ding von Tüür ist wohl sowas wie Prog-Klassik). Aber gut, deshalb war ich ja nicht gekommen, sondern wegen der selten gespielten Werke von Sibelius und der zweiten Konzerthälfte.

Kuusisto schlurfte also auf die Bühne, in total ausgelatschten Galoschen und mit dem Hemd über der Hose, schien zunächst ziemlich für sich zu sein, mal ein Blick zu Järvi zwischendurch – doch er spielte vom ersten Ton an mit einer Wärme und Präsenz, die ganz direkt wirkte, sofort ankam. Im Lauf des Blockes, der etwas mehr als eine halbe Stunde dauerte, öffnete er sich, bewegte sich mal zum Pult des Konzertmeisters, dann zu den Celli, nahm Blickkontakt auf, trat in den Dialog mit einzelnen Musikern. Die acht Stücke, allesamt recht kurz, wurden teils am Stück gespielt, aber manchmal vom Publikum durch begeisterten Applaus unterbrochen – letzteres scheint derzeit ziemlich aufgekratzt zu sein, man hört viele nördliche Sprachen, es kommen Leute, um sich Järvi anzusehen und zu -hören, die davor wohl selten in die Tonhalle fanden, aber auch das Stammpublikum tut seine Begeisterung über den Neubeginn lauthals kund. Kuusisto wäre aber auch ohne diese Umstände enorm gut angekommen, keine Frage. Er spielte die acht Stücke – das eine oder andere wirkte schon mal ein wenig wie Gelegenheitsmusik, es gibt da und dort eine Länge, eine Wiederholung zuviel, aber auch erstaunliche Effekte, ziemlich viel „Zigeunergeigerei“, wie sie der verhinderte Meistergeiger Sibelius offensichtlich mochte. Kurzgeschichte, Stories, die äusserst dynamisch und mit kammermusikalischem Gestus dargeboten wurden (die (Holz-)Bläser und das Schlagwerk werden nur sparsam eingesetzt). Kuusistos Ton glänzte und vibrierte, sein Spiel war nuanciert und nutzte die ganze Breite der Dynamik aus. Eine Art Zugabe war bei diesem Konzert eingeplant (bei den Aufführungen des ansonsten gleichen Programmes an den beiden Vorabenden fehlte es), Tüürs „Walk on the Rope“ für Violine und Klavier (gespielt von Benjamin Engeli, den ich ja schon am Sonntag davor mit TOZ-Musikern gehört hatte). Das reichte dem Publikum nicht, und so spielte Kuusisto noch zwei weitere Zugaben, zunächst ein doppeltes Menuett (wir hätten noch eine lange Symphonie vor uns, daher verbinde er doch gleich zwei Stücke), Bach und eine finnische Melodie, und als das auch noch nicht reichte, pfiff er einen finnischen Tango (Finnish tango is about two things usually: either about something you once had, and now do not have anymore, or about something you know you will never have) und begleitete sich dabei, die Geige wie eine Ukelele zupfend … natürlich war das Publikum hin und weg und auch das Orchester genoss die Darbietung – frohe Gesichter überall.

Nach der Pause ging es dann noch einmal richtig zur Sache. Wie schon bei Nr. 4 liess Järvi die Sätze mehr oder weniger direkt aufeinander folgen (nach dem Dritten konnte er gerade noch einen Zwischenapplaus verhindern – der hier nun wirklich gestört hätte), betonte die grossen Bögen, lenkte straff durch die einmal mehr schwer beeindruckende Aufführung. Das Orchester zeigt sich – von der gleichen Aufbruchstimmung mitgerissen wie das Publikum – von seiner besten Seite, reagiert schnell und gibt dem Meister, was er verlangt. Der 5/4-Walzer gelang nach dem wuchtigen Kopfsatz in einer berückenden Leichtigkeit, das Allegro moto vivace des dritten Satzes wurde zunehmend und konsequent zum unerbittlichen schnellen Marsch, das Finale war dann von einer Klarheit und am Ende von einer Kargheit, dass es einen zunächst sprachlos still sitzen liess.

In die Klagen über die Laustärke, wie sie sowohl in der NZZ wie auch bei Peter Hagmann nachzulesen sind (beides Doppelrezensionen, in denen auch das Konzert von letzter Woche berücksichtigt wird, von dem ich nur die Kurzfassung hörte), mag ich übrigens nicht einfallen – es ist, ich hatte den Gedanken schon einmal – vielleicht von Vorteil, ganz vorn zu sitzen, weil die Bläser, gerade das Blech, dann über den Kopf hinwegzieht nach hinten zu den teuern Plätzen, wo es dann möglicherweise wirklich zu sehr knallt.
https://www.nzz.ch/feuilleton/paavo-jaervi-in-zuerich-jetzt-beginnt-das-abenteuer-ld.1518966
http://www.peterhagmann.com/?p=2397

PS: die Orchesterzugabe (die es bei Järvi auch immer zu geben scheint) war auch dieses Mal der Walzer aus „Eugen Onegin“.

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