Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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gypsy-tail-wind
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Saisonauftakt 2019/20 (Teil 2)

Es ist schon fast wieder einen Monat her, dass es los ging, und ich war so beschäftigt, dass ich schon wieder keine Zeit fand, ein paar Zeilen zu schreiben … das möchte ich in aller Kürze nachholen. Teil 1 habe ich im Opern-Thread versenkt:
http://forum.rollingstone.de/foren/topic/die-wunderbare-welt-der-oper/page/29/#post-10909869

 
Zürich, Tonhalle-Maag – 29.09.2019

Pavel Haas Quartet
Veronika Jarůšková
Violine
Marek Zwiebel Violine
Jiří Kabát Viola
Peter Jarůšek Violoncello

Erwin Schulhoff Streichquartett Nr. 1
Antonín Dvořák Streichquartett Nr. 12 F-Dur op. 96 „Amerikanisches“

Pjotr I. Tschaikowsky Streichquartett Nr. 3 es-Moll op. 30

Dass die Jaruseks das Pavel Haas Quartett – von dem ich die bereits etwas älteren Aufnahmen des Namenspatrons und von Leos Janáceks beiden Streichquartetten sehr schätze – inzwischen zur Familienaffäre umgebaut hatten und ausser der Primgeigerin von der einstigen Besetzung niemand mehr an Bord ist, war mir im Vorfeld nicht bewusst … man lies ja hie und da, wieviele Jahre gute Streichquartette bräuchten, um zusammenzuwachsen, dass sie überhaupt erst nach 20 Jahren oder so auf die Höhe des gemeinsamen Könnens gelangen könnten usw. Wie dem auch sei, das Konzert war dennoch super – die tschechische Doppelfortsetzung des Vorabends in der ersten Konzerthälfte passte zudem hervorragend. Schulhoffs Quartett ist rhythmisch wohl noch pulsierender als die Musik von Janácek. Nach einem feurigen Presto folgt ein Allegretto con moto mit „grotesker Melancholie“, ein tänzerisches Allegro giocoso, zum Abschluss dann aber Andante, das eine fast meditative Stimmung verbreitet. Ein wunderbares Werk, das ich natürlich nicht kannte, in einer überzeugenden Aufführung. Dvorák wirkte dann fast etwas zahm – das Werk stammt natürlich auch aus einer anderen Zeit als Janácek oder Schulhoff. Doch mit seinen Melodien, seinen sanglichen, teils fast choralartigen Passagen – und darunter einmal mehr teils sehr lebendigen Rhythmen – war es dennoch alles andere als eine Fehlbesetzung nach Schulhoff und ebenfalls ein grosser Genuss.

Nach der Pause folgte das dritte und letzte Quartett von Tschaikovsky – auch das mir bisher unbekannt. Hier nun herrschte alle nur denkbare Erdenschwere, mir schien es fast ausweglos, und wenn der Schlusssatz im Programmheft als „tänzerischer Kehraus“ beschrieben wird, in dem „überschwänglicher Optimismus in jubelndem Es-Dur“ zu hören ist – das kam bei mir irgendwie nicht mehr an, mich erschlug das Ding beinah in seiner Schwere, seiner ja, Depressitivät … von Melancholie zu reden schiene mir jedenfalls verharmlosend. Aber wie gesagt, ich kenne das Ding nicht, habe also bisher auch keine Vergleichsmöglichkeiten. Jedenfalls fand ich die Aufführung einmal mehr äusserst überzeugend. Schade, wie fast immer bei Kammermusik, dass das Publikumsinteresse so gering war – denn was gibt es schöneres? Rezensionen des Konzertes erschienen soweit ich sehen kann denn auch keine.
 

 
Zürich, Tonhalle-Maag – 03.10.2019

Tonhalle-Orchester Zürich
Paavo Järvi
Chefdirigent und Music Director
Johanna Rusanen Sopran
Ville Rusanen Bariton
Estnischer Nationaler Männerchor RAM
Mikk Üleoja
Einstudierung
Zürcher Sing-Akademie
Florian Helgath
Einstudierung

Arvo Pärt „Wenn Bach Bienen gezüchtet hätte …“ (Uraufführung der Neufassung) für Klavier, Bläserquintett, Streichorchester und Schlagzeug
Jean Sibelius „Kullervo“ op. 7 für Singstimmen, Männerchor und Orchester

Die Woche drauf ging dann auch die Saison des Tonhalle-Orchesters los – der langersehnte Antritt des neuen Steuermanns Paavo Järvi, der gleich zum Auftakt einen Markstein setzte und mit der Lockerheit und Souveränität dessen auftrat, der nichts beweisen muss. Das ist ja erstaunlich genug, doch wer sich seinen Leistungsausweis anschaut, etwa in Bremen oder Paris, und wer bei seinen Konzerten letzte Saison mit dem Tonhalle-Orchester dabei war, verstand, weshalb das so war.

Am Eröffnungskonzert am Vorabend waren sein Vater Neeme und auch Pärt im Publikum anwesend. Letzterer hatte seine neue (dritte, glaube ich) Fassung seines „B-A-C-H“ Stückes nicht etwa im Auftrag sondern als Geschenk an das Orchester zum Start mit Järvi erstellt. Ein eher belangloser, zudem überaus kurzer Auftakt (5-6 Minuten), in dem das Orchester ein wenig summen darf wie ein Bienenstock, bevor dann im zweiten Teil barocke Anklänge zu hören sind. Eine hübsche aber kleine Prélude war das, die in der Tat sofort ins Hintertreffen geriet, als das Hauptwerk des Abends begann.

Sibelius‘ Kullervo ist eine Mischung aus Symphonie, sinfonischer Dichtung Oper und Kantate, ein stellenweise wilder Ritte (es gibt z.B. eine längere Orchesterpassage in insistierend pochendem 5/4-Takt). Die Geschichte von Kullervo, der seine Schwester verführt, dies nachher erkennt, ist dem finnischen Nationalepos „Kalevala“ entnommen. Dass Johanna und Ville Rusanen Bruder und Schwester sind, passte denn auch perfekt zur Darbietung. Sie sang die Rolle mit opernhafter Stimme, hell und kraftvoll, ihr Bruder umgarnte sie mit seinem beweglichen, wohlklingenden Bariton. Die Leistung des Estnischesn Nationalen Männerchores RAM, verstärkt durch die Männer Zürcher Sing-Akademie, beeindruckte. Järvi behielt stets den Überblick, wippte elegant mit der Musik mit, gab präzise Anweisungen, die das Orchester aufgriff. Dieses war mit grossem Enthusiasmus dabei und lieferte bei seiner ersten Aufführung des seltsamen Werks eine reife Leistung ab. Das ist nun keine Musik, die ich zuhause regelmässig hören würde – aber im Konzert war das schon sehr beeindruckend.

Natürlich gab es unzählige Kritiken, wie bei einem solchen Anlass üblich – ein paar davon:
http://www.peterhagmann.com/?p=2379
https://www.nzz.ch/feuilleton/paavo-jaervi-antrittskonzert-in-zuerich-wilder-inzest-im-hohen-norden-ld.1513155
https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/klassik/wenn-der-bruder-mit-der-schwester/story/30082561
https://seenandheard-international.com/2019/10/new-chief-conductor-paavo-jarvi-opens-new-zurich-season-with-stirring-kullervo-at-tonhalle/

Die Tonhalle hat auf der Website ein Pressedossier erstellt:
https://www.tonhalle-orchester.ch/news/start-von-paavo-jaervi-in-den-medien/

Und wie schon erwähnt, kann man das Eröffnungskonzert auch noch eine Weile (bis am 3.11.) online anschauen:
https://www.tonhalle-orchester.ch/news/eroeffnungskonzert-live-auf-mezzo-tv/

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