Antwort auf: 2019: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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dietmar_

Registriert seit: 29.10.2013

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Flurin, deine Befürchtung im Ausgangspost, dass es wieder ein „Monolog“ werden könnte ist nicht ganz unberechtigt. Ich hatte natürlich gehofft, dass du schreibst und ich ggf. ein paar unqualifizierte Bemerkungen dazwischen hauen kann. Doch hatte ich in einem anderen Forum ein paar Worte zum Festival versprochen und das hatte ich vor ein paar Tagen erfüllt. Daher traue ich mich und setze es in ein bisschen abgeänderter, an die hiesigen Gegebenheiten angepasster Form einfach hier hinein, immer noch in der Hoffnung, dass deine üblicherweise wunderbaren Bemerkungen hier nur auf sich warten lassen.

‚Middelheim, ein Vorort von Antwerpen – ich bin nicht sicher, ob es zur Stadt Antwerpen gehört oder eine vorgelagerte Gemeinde ist? – man ist jedenfalls in wenigen Minuten mit dem Bus oder der Metro im Zentrum dieser spannenden Hafen- und Kulturstadt. Ich hätte gerne mehr Zeit für’s Sightseeing gehabt, doch unsere Zeit war knapp.

Meine Frau und ich reisten am Donnerstag den 15. August an und es ging gleich am ersten Tag richtig zur Sache. Auch im Nachklang ist mir die Verteilung der Musiker auf die einzelnen Tage nicht schlüssig, jedenfalls empfand ich die Line-ups des Donnerstags und des Freitags als die Interessantesten. Vielleicht bekommt man vielbeschäftigte Musiker innerhalb der Woche leichter verpflichtet als an den Wochenenden?

DO:
Idris Ackamoor & The Pyramids
„Artist In Residence“ Ambrose Akinmusire mit ‚Origami Harvest‘
David Murray featuring Saul Williams
Pharoah Sanders

FR:
Eric Legnini
Kenny Werner Quartet (mit Dave Liebman)
Charles Lloyd
Enrico Rava

Den Samstag ließen wir aus musikalischer Sicht ruhiger beginnen, hörten vom Bierzelt die Band De Beren Gieren,
sahen danach ein weiteres Akinmuire Projekt ‚Mae Mae‘ und schlossen am frühen Abend mit Nubya Garcia.
Das folgende Programm mit zwei weiteren Konzerten (Louis Cole Big Band und Stuff.) schien uns weniger interessant als ein Mahl mit gutem belgischen Bier in einer urigen Gaststätte im Zentrum Antwerpens.

Den vierten Tag u.a. mit einem Jam von Ambrose Akinmusire und lokalen „Studenten“, dem Joe Lovano Tapestry Trio, einem Toots-Thielmans-Tribute mit Grégoire Maret, Kenny Werner, Philip Catherine und und einem abschließenden Auftritt des Ambrose Akinmusire Quartets, verpassten wir entgegen unserer Planung komplett, weil wir gezwungen waren frühzeitig abzureisen.
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Der erste Tag (Donnerstag) war nur schwer zu toppen, das Line-up größtenteils erstklassig. Der Beginn des Festivals mit Idris Ackamoor & The Pyramids war so weit okay, nicht meins. In der Programmankündignug wurden Parallelen zu Sun Ra und Fela Kuti gezogen. Bunte Klamotten, ein gutes Saxophonspiel von IA – singen sollte er lieber nicht, das ist blöd, vor allem wenn man eine Message vermitteln möchte. Als Auftakt war das in Ordnung, wir wussten, was noch kommen wird.

Darauf folgte das David Murray Quartet featuring Saul Williams. Großartig! Einer der Höhepunkte des Festivals. Murray spielte ein unglaubliches Tenorsaxophon, mitunter „überholte“ er sich selbst. So eine Intensität habe ich bis dahin nur selten gehört. Murray und Saul Williams lernten sich auf Amiri Barakas Beerdigung kennen, auf der Williams sprach/sang. Man kam überein zusammen zu arbeiten, was in dem Album „Blues For Memo“ nachzuhören ist. Ich erinnere mich an keine so gelungene Live-Darbietung mit ’spoken words‘ – vielleicht die passendste Beschreibung was Saul Williams da macht – sein charismatisches Auftreten gepaart mit einer großartigen Band (Murray, David Bryant (p), Rahsaan Carter (b) und dem außergewöhnlichen Hamid Drake! (d). Die Festivalbesetzung unterscheidet sich stark von der des Albums, nur Murray und Williams waren auf der Bühne, das tat der Performance aber keinen Abbruch.

Im Anschluss Ambrose Akinmusire mit seinem aktuellen Blue Note Album „Origami Harvest“, Akinmusires Trompete, Klavier, Schlagzeug, Stimme/Gesang + Streichquartett. Kein leichter Stoff, aber absolut faszinierend.‘
In einem früheren Beitrag, in erwähntem Forum, schrieb ich zu meinen Eindrücken des Albums: „Ich muss zugeben, ich hatte ein bisschen Sorge, ob mir diese Musik zusagen würde – wer sich allein die heterogene Truppe vergegenwärtigt, kann meinen Gedanken vielleicht nachvollziehen. Ich habe oft Schwierigkeiten mit bekannten Aufnahmen gewisser Koryphäen wenn sie „with strings“ eingespielt wurden, da gibt es nur wenige Ausnahmen, die ich akzeptiere [..] Projekte „Hauptsache Crossover“ gibt es unzählige, selten finden sie mein Interesse und Zuspruch. Hier hat mein erster Hördurchgang – mit Kopfhörer, was ich durchaus empfehle, weil der Klang im Gegensatz zu den Village Vanguard Aufnahmen sehr gut ist! – gleich meine Interesse geweckt. Die großen Kontraste empfand ich als Einheit …“
In Middelheim hatte ich mehr Schwierigkeiten mit den Kontrasten, aber letztlich fügte sich alles ineinander.

‚Als Abschluss des ersten Tages trat das Pharoah Sanders Quartet auf, erst spät wurde seine Beteiligung am Festival bekannt. Das war natürlich ein Hammer: Sanders, der mit Coltrane spielte, seine eigenen Alben, insbesondere aus der Impulse-Ära, aber ich wusste auch, dass seine Darbietungen in den letzten Jahren sehr unterschiedlich empfunden wurden. Von grandios bis lustlos … „erkrankt“ … „muss er sich das noch antun?“ etc. gingen die Kommentare. Und doch war ich geschockt, als er auf die Bühne schlurfte. Ein kleiner, alter Mann, er schien anfangs ein wenig orientierungslos. Die ersten Minuten war ich traurig. Sanders wurde von einer Band begleitet, die so jemand dann braucht. Natürlich haben die Drei (Benito Gonzalez, Oli Hayhurst, Gene Calderazzo) Zeit überbrückt, wenn Sanders eine Pause brauchte – sehr dynamisch die Rhythmusgruppe! – es dauerte etwas bis sich mein erster Eindruck verflüchtigte. Sanders Soli waren nicht sehr lang, alte Saxophonisten (siehe Lee Konitz) fangen gerne das Singen an – ein gemurmeltes „The Creator Has A Masterplan“ … aber was Pharoah Sanders spielte war sehr gut! Nicht mehr ganz mit der Power gesegnet, wie man ihn in früheren Jahrzehnten kannte, aber meiner Meinung nach gereift im Ton (ich kenne überwiegend seine 60er und 80er Jahre Einspielungen). Er zelebrierte durchaus seine Gebrechen, inklusive kleines Tänzchen obwohl ihm seine Beine kaum noch gehorchten.
Zum Abschluss wurden Coltranes „Naima“ und „Giant Steps“ – ha ha, welch ein Hohn ;) – gespielt, das war wunderbar und sehr berührend.
Der Festivalabend war zu Ende und wir gingen sehr still die 2 Kilometer bis zu unserer Unterkunft.

Der Freitag begann mit Eric Legninis Les McCann Tribute. Weil wir vor etwa 12 Jahren ein gutes Konzert von Legnini in Düsseldorfs Jazz Schmiede gesehen hatten, verzichteten wir auf einen pünktlichen Festivalbeginn und trudelten zur letzten halben Stunde des Auftritts ein, das was wir hörten und von Flurin und readbeansandrice bestätigt bekamen, muss es gut gewesen sein.

Es folgte das Kenny Werner Quartet mit Dave Liebman(!), Peter Erskine und Johannes Weidenmüller. Besonders auf Liebman hatte ich mich sehr gefreut.
Nach der „Herzmusik“ des letzten Konzerts des Vortages wurde jetzt der Kopf gebraucht. Es brauchte Zeit um in diese Musik hineinzufinden, was aber auch an uns gelegen haben mag, weil wir zuvor einen nicht so ganz einfachen Tag hatten. Aber Dave Liebman spielte wundervoll auf Sopran und Tenor. Erskine, der gewohnt souveräne Drummer. Eigentlich ein Genuss, wenn der Kopf schon in der Arena gewesen wäre.
Doch dann stellte Kenny Werner die Sopranistin Vivienne Aerts vor, die nur für ein (!) Stück auftrat. Ich habe noch nie eine so gestelzte, puppenhafte, mechanische Version von „Embraceable You“ gehört! Liebman begleitete, konnte es aber auch nicht raus reißen. Warum? Warum musste das sein? Ein Fremdkörper, so etwas Totes habe ich auf einer Bühne noch nie agieren gesehen/gehört.
Darauf folgten noch etwa fünfzehn großartige Minuten der Band ohne Gesang. Wäre ich zu spät gekommen, hätte ich die Musik sehr gelobt!

Es folgte um 19:30 meine Überraschung des Festivals. Mit Charles Lloyd wurde ich bis dahin nie so recht warm, ich kann kaum sagen, woran das gelegen haben mag? Von Lloyd gibt es sehr viele Livealben. Und Konzerte auf Konserve hören ist immer so eine Sache. Ich kenne viele Jazz-Liveaufnahmen, die ich sehr schätze, die von Lloyd gehörten bis jetzt nicht dazu. Da hat sich nach seinem Konzert etwas geändert, ich habe die wenigen Alben, die ich von ihm habe, noch einmal gehört. Da habe ich erst begonnen zu verstehen, nur habe ich noch nicht herausgefunden, was da passiert ist.
Den Unterschied machte Middelheim, der Auftritt von Charles Lloyd und Band [Marvin Sewell (g), Gerald Clayton (p), Reuben Rogers (b), Eric Harland (d)]. Ein entspanntes Meeting, Lloyd, die Rhythmuseinheit, Sewells Gitarre sehr schön gruppendienlich, von gelegentlichen Blues-Soloeskapaden abgesehen.
Was soll ich sagen, neben Murray/Williams die wahrscheinlich tollste Session des Festivals. Obwohl ich das nicht wirklich beurteilen kann (s.o.).

Der Abschluss des Tages war Enrico Rava mit seiner ’80th Birthday‘-Tour. Mit einer wahrscheinlich rein italienischen Truppe trat Rava auf. Und das hatte eigentlich gar nichts von einem achtzigsten Geburtstag, das war eine unruhige, frische, (deutlich erkennbar) europäische Musik. Ein ziemlich gutes Set, was es aus meiner Sicht dennoch etwas schwer beim Publikum hatte nach Lloyds Band, obwohl auch amüsantes wie Doris Days „Perhaps, Perhaps, Perhaps“ geboten wurden. Außerhalb des Festivalkontextes wäre ich wahrscheinlich begeistert gewesen.

Am Samstag trudelten wir erst am frühen Nachmittag ein, von De Beren Gieren (Die Bären heulen) verfolgten wir nur die zweite Häfte vom Verpflegungsstand aus. Kein typisches Klaviertrio, gar nicht. Clavinet und Syntheziser, E-Bass und Schlagzeug, durchaus interessant aber nicht meins. Vieleeicht wenn ich mich sehr konzentriert hätte? Das Konzert wies schon die Parole für diesen Tag. Das Samstagabendprogramm wollten wir schwänzen, da wird etwas für die große Masse getan. Ich möchte mir kein Urteil erlauben ohne dabei gewesen zu sein, doch sparten wir uns Stuff und die Louis Cole Big Band.
Vorher gab es wieder Ambrose Akinmusire, diesmal mit seinem „Mae Mae“ Projekt. Eine Mattie Mae Thomas war in den 30er Jahren Insassin der Parchman Farm, Mississippi. Unter Mitwirkung der Library of Congress wurden zwischen 1936-39 fünf Lieder von ihr aufgenommen. Diese Tondokumente sind Teil eines anderen Projekts Akinmusires. Mattie Maes Samples, wieder Gerald Clayton, Joe Sanders (b), Kendrick Scott (d), wieder Marvin Sewell und der Bluessänger Dean Bowman. Bowman machte einen guten Job, kontrastierte mit den eher behäbigen Samples von Misses Thomas, doch warum musste diesen Part ein Mann übernehmen? Eine Frau, mit ihren eigenen gelebten Erfahrungen, hätten wir uns hier besser vorstellen können. Idealbesetzung vielleicht: Cassandra Wilson, die genug „Rotz“ rüber bringen kann, um das nicht zu etwas „Schönem“ zu machen.

Dann folgte die Tenorsaxophonistin Nubya Garcia, aus der angesagten Londoner Szene. Das war gut, aber neues und das Angesagte habe ich nicht gefunden. Es wird dazu sicherlich ganz andere Meinungen geben.

Es gab an allen Tagen noch „Pausenfüller“ im kleinen Zelt, doch darum haben wir uns nur sehr am Rande gekümmert. Wir ließen es ruhig angehen, ließen mitunter etwas ausfallen. Positiv hängengeblieben sind mir Erinnerungen aus dem kleinen Zelt vor allem bei einem Jam am ersten tag: die spontanen 5 Minuten in der Ambrose Akinmusire und dessen Sänger Kokayi beim Bassisten Reggie Washington einstiegen und sofort „da“ waren nach der ganz anderen Musik von Origami Harvest. Das Umschalten auf eine komplett andere Situation innerhalb von Minuten (große Bühne – Abgang – rüber zur kleinen Bühne – und …).‘

Wir mussten plötzlich abreisen, dennoch dachte ich an diesem Tag einige Male „jetzt spielt Lovano … jetzt spielt das Akinmusire Quartet.“ Es hätte noch einige interessante Sachen gegeben. Sehr wichtig wäre mir gewesen, wenn ich Akinmusire mit seinem Quartett hätte sehen können – er hatte an diesem letzten Tag gleich zwei Auftritte.
Das Quartett muss wohl sehr gut gewesen sein soll, Lovano schwierig(?), die Toots Thielemans Hommage so na ja und Akinmusire mit den Studenten („Evergreen 5+“) „ECM-ig“?‘ Das hörte ich so. Oder?

{Weil wir uns meist recht weit hinten in dem großen Zelt aufhielten, war das Teleobjektiv des Phones überfordert, deshalb habe ich nur wenige private Schüsse gemacht, die der Öffentlichkeit nicht zuzumuten sind. Die anderen Beiden saßen weiter vorne … ;) }

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