Antwort auf: Ich höre gerade … klassische Musik!

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gypsy-tail-wind
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Zurück aus dem Urlaub, gestern von Mailand wieder heimgefahren. die Oper in der Scala war unfassbar gut: Erich Wolfgang Korngold, Die tote Stadt mit einer umwerfenden Asmik Grigorian, einem vorzüglichen Klaus-Florian Vogt und einem exzellent aufspielenden Orchester unter der Leitung von Alan Gilbert, obendrein eine feine Inszenierung von Graham Vick.

Am Tag drauf gab ich mir die volle Leonardo-500-Dröhnung (war schon in Parma im Palazzo Pilotta ein paar fabelhaften Skizzen und Zeichnungen rund um die wunderbare Scapiliata begegnet, in Mailand ging es der Reihe nach in die interaktive und ohne Originalwerke auskommende Ausstellung im Palazzo Reale, die ich mir allerdings hätte schenken können, doch ich bin wegen der Ingres-Ausstellung rein und bezahlten dann halt für Leonardo nochmal, da gab es interaktive Stationen zu mehreren Themen, auf Stichworte, die man ins Mikrophon zu sagen hatte, wurde dann etwas projiziert – eher was Kinder und ihre Erziehungsbeauftragten; danach weiter in die Ambrosiana, wo ich noch gar nie drin war und wo neben der eh schon hochwertigen Sammlung, zu der auch Leonardos Portrait eines Musikers zählt, ein paar Extra-Schaukästen mit Exponaten von Leonardo aufgestellt wurden, Blätter aus dem auch digital einsehbaren Codex Atlanticus – und die auch sonst unbedingt einen Besuch wert ist @clasjaz, vielleicht dann bei nächsten Mal. Danach ging es weiter ins Castello Sforzesco, wo die Sala delle asse endlich fertig restauriert und mit einer Multimedia-Präsentation erläutert wird, von den Fresken ist allerdings soooo viel nicht mehr zu sehen, interessant war aber der Bezug zur Camera di San Paolo, die Correggio in Parma ebenfalls mit Deckenfresken bemalt hat, wobei Leonardo ja keine Fresken malte, weil das schnell gehen muss und dann nicht noch hunderte Jahre dran herumgebastelt werden kann, wie er es tun wollte). Den Grossteil des Castello liess ich diesmal aus, ich besuchte es schon zweimal ausführlich, zuletzt ja vor erst etwas mehr als einem halben Jahr mit @clasjaz. Was ich aber noch anguckte, war ein Saal, in dem ein paar alte Manuskripte ausgestellt waren, etwa Dantes „Commedia“ mit Randzeichnungen (Codice Trivulziano, 15. Jh.), Dante- und Petrarca-Exegesen ebenfalls mit reichen Verzierungen (1337), und die „Pietà Rondanini“ von Michelangelo guckte ich auch wieder an.

Dann ging es nach einem kurzen Apero-Stopp inzwischen ziemlich schlapp in ein kürzeres Klavierkonzert mit selten gespielten Stücken aus dem 20. Jahrhundert. Mir bekannt waren nur der Jazzer Giorgio Gaslini, von dem eine auf einem Mendelssohn-Motiv beruhende Komposition aufgeführt wurde, „Piano Felix“, sowie Henryk Gorecki, doch dessen Klaviermusik – in diesem Fall „Czery Preludia“ – hört man ja auch nicht alle Tage. Zudem gab es Stücke von Armando Gentilucci, Fabrizio de Rossi Re und Damiano Santini), es spielte Alessandra Garosi (im Museo del Novecento direkt neben dem Dom – lohnt unbedingt einen Besuch, wenn man in Mailand ist und Zeit hat).

Die letzte Leonardo-Etappe war danach die Ausstellung Leonardo3, in einigen Räumen in der Galleria Vittorio Emanuele II, da wurden (ich vermute in Reproduktionen, alles andere wäre bei dem Andrang und dem Licht in den Räumen fahrlässig, aber den Salvinini traue ich so ziemlich alles zu) erneut viele Manuskriptseiten voller Skizzen präsentiert, ins Auge fielen aber vor allem die zahlreichen Konstruktionen nach Leonardos Plänen und Skizzen, von Automaten und Flugmaschinen bis zu „selbstspielenden“ Musikinstrumenten. Dazu gab es überall Bildschirme, auf denen die Konstruktionen im Detail erklärt wurden (auch, weshalb sie teils damals schlicht nicht funktionieren konnten). Alles in allem lohnenswert und durchaus lehrreich. Auf dem Heimweg am Tag drauf las ich dann im Zug diverse Zeitungsartikel über Leonardo da Vinci, die ich als Lektüre auch im Gepäck hatte …

Zum Palazzo Pilotta bzw. der dort beheimateten Galleria Nazionale ist allerdings nachzutragen, dass ich die Sammlung insgesamt trotz einiger grossartiger Sachen nur halbwegs spannend fand. Vielleicht war’s auch einfach der bei solchen Reisen drohende Overkill. Andererseits fand ich dann die auf dem Clan der Este beruhende Sammlung in Modena (Galleria Estense) doch wieder superb, mit einer grossen Zahl faszinierender Werke.

Und wo das schon zu einem, pardon, off-topic, aber die drei, die’s wirklich interessiert, lesen hier ja mit …

In Cremona, meiner ersten Station, hatte ich schon Gelegenheit, etwas Musik zu hören, einmal ungeplant, einmal geplant. Letzteres war ein Vorspiel auf einer Stradivari im Museo del Violino, wo im modernen Auditorium regelmässig auf den wertvollen Instrumenten ca. halbstündige Vorspiele durchgeführt werden. In meinem Fall spielte Aurelia Macovei die Clisbee von Stradivari (1669) – allerdings sind alle im Museum aufbewahrten/ausgestellten Violinen modernisiert wurden, d.h. zu behaupten, hier würde der berühmte „Stradivari“-Klang erlebbar, ist eine etwas komische Sache. Kann man so sehen, wenn man von heute her denkt und den Hype um die Instrumente in späteren Zeiten als Grundlage nimmt, ihren Klang eben, so wie man ihn heute kennt … dieser Klang ist aber sehr anders als der Klang, den die Instrumente (auch jene von Guarnieri und Amati, die im Museum ebenfalls vertreten sind) einst hatten. Der Besuch des Museums lohnt aber sowieso, und wenn man ihn mit einem kurzen Konzert verbinden kann, umso besser. Dieses begann allerdings etwas holprig und mit gewissen Intonationsproblemen (das Instrument lag neben einem Wachmann, der auch während des Konzertes direkt hinter Macovei stehen blieb, schon im Saal, ein echtes Aufwärmen war wohl nicht drin). Es gab ein buntes Programm mit Stücken von Bach (Sarabane/Gigue aus BWV 1004), Corelli (La follia), Locatelli (Capriccio), Ysaÿe (Malinconia, II. aus Sonate Nr. 2), Kreisler (Rezitativ und Scherzo), Albéniz (Astorias – da mussten die Spanier im Saal noch lauter tuscheln als eh schon, warum sind die bloss immer so unsympathisch?), Coregliano („The Red Violin“, ein Filmthema wohl) und dann als Zugabe noch Piazzolla („Libertango“). Am Anfang sass ich etwas auf Nadeln, aber bei dem Kaltstart musste ich am Ende doch meinen Hut ziehen. Einen Tag später gab es direkt gegenüber der kleinen Wohnung, in der untergekommen bin, im Museo Civico ala Ponzone, ein Konzert mit zwei jungen MusikerInnen, dem Geiger Leonardo Pellegrini und der Pianistin Yevgenia Lysohor. Sie spielten die Sonaten Op. 23 von Beethoven und Op. 108 von Brahms, gefolgt von Saint-Saëns‘ Introduction et Rondo capriccioso Op. 28, einem Paganini/Schumann-Ding (Capriccio Nr. 5: Agitato), wo ich den Eindruck hatte, dass Pellegrini an seine Limiten kam (aber dennoch auch so spielte, dass er eben kein Auffangnetz hatte, was wiederum eine durchaus gute, fast atemberaubende Wirkung erzeugte), und als Zugabe dann, wieder wunderbar, die berühmte „Thaïs“-Mediation von Massenet. Konzerte im Museum scheinen in Italien öfter mal stattzufinden, nebst den beiden hier erwähnten hörte ich auch in Piacenza und in Ferrara schon solche Konzerte, es lohnt, danach Ausschaz zu halten, der Eintritt ist in der Regel frei, das ganze also sehr niederschwellig und das Publikum bunt gemischt, von Familien mit aufgebrezelten Kindern (ja, es gibt sie immer noch, die gehäkelten weissen Mädchensocken, wegen derer die Italienermädchen früher im Kindergarten und in der Schule immer gehänselt wurden …) bis zu Leuten, die mit Knistertüte vom Einkauf kommen …

In Parma, meiner zweiten Station, ergab sich ebenfalls ein ungeplantes zum geplanten Konzert (letzteres war ein Auftritt der aktuellen Gruppe des norwegischen Jazztrompeters Nils-Petter Molvaer, den ich erstaunlich gut fand), nämlich ein Frauen-Programm im Konservatorium (der hauseigene Konzertsaal wurde in eine entkernte ehemalige Kirche eingebaut), Alberta Stefanini (v), Enrico Contini (vc), Emanula Degli Esposti (harp) und Pierluigi Puglisi (p) spielten einen Satz des Harfentrios (ohne Puglisi) von Henriette Renié, fand ich mässig gut. Dann folgte das Klaviertrio von Clara Wieck, über das sie selbst meinte, es bleibe „immer Frauenzimmerarbeit, bei der es […] an der Kraft und hie und da an der Erfindung fehlt“ (via Wiki). Diesen Vorwurf konnte man leider hie und da der Geigerin des Trios machen, den beiden Herren nun gar nicht, dennoch war die Aufführung gut genug, um klarzumachen, dass das ein faszinierendes Werk ist – ich muss mich da wohl mal nach einer Aufnahme umsehen!

Ein weiteres Klassik-Highlight in Parma war dann der Besuch des Geburtshauses von Arturo Toscanini, in dessen Räumen ein kleines, liebevolles Museum eingerichtet wurde (es gehört zur Casa della Musica, die im Stammhaus ein kleines Opernmuseum – zur Oper in Parma – unterhält und direkt gegenüber auch noch die Casa del Suono, das Toscanini-Haus liegt auf der anderen Seite des Flusses). Da gibt es Briefe an (z.B. von Albert Einstein, Maurice Ravel und der politischen Windfahne Richard Strauss) und von Toscanini (z.B. eine Protestnote an den fucking Duce), Autographen (z.B. ein Neujahrsgruss von Puccini an die Toscanini-Familie oder Karikaturen, die Caruso von Toscanini gezeichnet hat), Fotos mit Widmungen (z.B. von und an Renata Tebaldi oder Bruno Walter), Plakate usw. Ansonsten gibt es in Parma u.a. Fresken von Correggio (nicht nur die schon erwähnte Camera sondern auch welche im Dom und in San Giovanni Evangelista, das Baptisterium daneben und ein paar weitere Kirchen sind ebenfalls sehenswert). Zudem kann man natürlich phantastisch essen …

Danach ging es nach Modena, zwei Tage ohne Musik oder sonstige Anlässe, dafür ausgiebige Gänge durch die sehr kompakte Stadt und in die erwähnte sehr sehenswerte Galleria Estense im Palazzo dei Musei (eine Wechselausstelung über den Verleger/Publizisten Angelo Formiggini – mit einem Brief, den James Joyce an diesen geschrieben hat – gab es da auch noch, die Musei Civici guckte ich mir ebenfalls noch an, doch die gaben für mich weniger her). Sowohl in Parma wie in Modena (der Geburtstadt Pavarottis, dessen Statue vor der Oper steht) ist die Saison kurz und es gab bereits keine Konzerte oder Opernaufführungen mehr).

Das war an der nächsten Station, Bologna, anders, ich erwischte letzten Samstag gerade noch das Konzert, mit dem die Saison des Orchestra Filarmonica di Bologna endete. Dirigiert hat dessen Chefdirigent Hirofumi Yoshida, als Gast war Louis Lortie zu hören. Los ging es mit Mozart, der Ouvertüre von „Così fan tutte“, gefolgt vom Klavierkonzert KV 466, das Lortie wunderbar spielte, während das – zwar etwas reduzierte aber immer noch viel zu gross besetzte – Orchester leider recht schwerfällig blieb viel zu breit phrasierte, dem schnörkellosen, klaren Spiel Lorties eine eher unförmige Begleitung angedeihen liess, egal wie sehr Yoshida sich bemühte – der Funke sprang nicht über und die Aufführung war daher nur halbwegs gelungen. Die Zugabe von Lortie war hingegen betörend schön, leider erkannte ich sie mal wieder nicht. Nach der Pause folgte die „grosse“ C-Dur von Schubert, und hier nun sprang der Funke von Yoshida, der auf dem Podest förmlich zu tanzen schien, ein paar Mal sogar in die Luft sprang, aufs Orchester über und dieses spielte ein sehr schöne Version dieser grossartigen Symphonie, die ich soweit ich mich erinnern kann auch noch nie im Konzert gehört habe. Ein gelungener Abend, trotz der Vorbehalte im Klavierkonzert von Mozart.

Am nächsten Tag ging ich in die beeindruckende (und bedrückende) Ausstellung Anthropocene im MAST – sehr lohnenswert! Falls jemand sich inspirieren lässt, die Ausstellung im MAST (bis 22.9.) passt hervorragend zur Triennale di Milano, die noch bis 1.9. unter dem Titel „Broken Nature“ läuft und mich bei meinem Besuch Anfang Mai v.a. im kuratierten Teil sehr beeindruckte, für die verschiedenen Gast-Pavillons hatte ich am Ende weniger Energie übrig aber auch den Eindruck, dort nicht wahsinnig viel verpasst zu haben. Kurz gesagt geht es darum, mit Design (Mailand) bzw. Foto/Film (Bologna) die Eingriffe des Menschen in die Natur sichtbar zu machen, z.B. mittels grossformatiger Luftbilder (teils aus unzähligen Bilden zusammengestückelt) oder mittels spezieller Methoden den Farbenreichtum von Korallenriffen, die noch nicht gestorben sind, sichtbar zu machen. In Mailand werden obendrein zahlreiche Projekte und Interventionen – künstlerischer, soziologischer, ökologischer, politischer Art – vorgestellt (eine ähnliche Ausstellung unter dem Titel „Social Design“ lief diesen Frühling auch in Zürich im Museum für Gestaltung). Am Abend, das erwähnte ich drüben in der Jazz-Ecke schon, ging ich ins Kino, guckte mir den Film „What’s My Name: Muhammad Ali“ von Antoine Fuqua an, ein Biopic, das ausschliesslich aus Footage zusammengesetzt wird, und in dem fast nur Ali selbst – ein begnadeter Redner – zu Wort kommt, Ausschnitte aus Interviews, Boxmatches, Filmen von Ali beim Training, Auftritten in TV-Shows usw. Kurzauftritten haben u.a. MLK, Sam Cooke, Malcolm X und Elijah Muhammad, Jimmy Carter usw.). Filmtechnisch gesehen eine reine Nummernrevue, bei ca. 170 Minuten droht Ermüdung, doch die trat nicht ein, einfach weil es ein solches Vergnügen ist (am Schluss dann nicht mehr, als der von Parkinson gezeichnete Ali zu sehen ist), ihm zu lauschen und zuzusehen. Obendrein schafft es der Film überraschenderweise – die Dienstverweigerung in Vietnam, die zentralen Kämpfe, die zunächst noch glückenden Comebacks – ordentlich Spannung aufzubauen. Sehenswert, wenn sicherlich kein Meisterwerk. Für viel mehr reichte die Zeit in Bologna dann auch nicht mehr, aber ein Besuch von San Petronio und Santo Stefano musste noch drin sein bevor es am Montag nach Mailand weiterging.

Das Hörprogramm während des Schreibens:

Eine grossartige Einspielung von D 960, in der Tat! Aber leider eine CD, die kaum zu finden ist (ich hatte Glück und kriegte sie für weniger als 20€ aus Frankreich). Und direkt danach, auch gerade verklungen, die zweite Etappe von Piemontesis äusserst vielversprechender (bzw. grossartiger) Einspielung der Années de pèlerinage von Franz Liszt:

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