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Ich weiß, daß wir uns nicht einigen werden, Kai – unsere musikalischen Werte sind zu unterschiedlich. Das ist auch in Ordnung so. Ich konnte nur die Behauptung, mein zweitliebstes Album habe nur vier gute Songs, nicht unwidersprochen stehen lassen.
Kai BargmannDein zentraler Punkt ist: „Die Gegenposition lautet, daß es um die konsequente Verwirklichung eigenständiger Ideen und den Ausdruck von Gefühlen geht; alles andere ist ein Mittel zum Zweck.“
Damit stehst du intellektuell auf einer höchst wackligen Position: Wenn du die Mittel nicht hast, kannst du Ideen nicht konsequent verwirklichen.
Freilich, aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist: Der Zweck bestimmt über die Mittel, die Idee oder das Gefühl hat logisch Vorrang. Es kommt vor allem darauf an, was man verwirklichen möchte und auszudrücken hat. Welche Mittel man braucht, hängt davon ab, was man tun will und tut. Und die Verfügung über Mittel ist keine Tugend an sich, auch wenn sie gern als solche genommen wird. Hier geht es doch um eine Polemik, um den Widerspruch gegen eine Gegenposition (also nicht um Ausgewogenheit, nicht darum, alle Aspekte zu berücksichtigen). Um ein Dir bekanntes Beispiel aus dem Forum zu nehmen: Im Toto-Thread wurde off topic auch über Neil Young diskutiert; einigen Toto-Fans ging es einfach nicht in den Kopf, daß er ein großer Gitarrist sein kann, obwohl er technisch bloß Mittelmaß ist – und daß man ihre Helden ablehnen kann, obwohl sie doch anerkannt gute Studiomucker sind. Dieses Denken gilt es zu bekämpfen. (Weil nach solchen und ähnlichen Maßstäben ein bedeutender Teil der Musik, die ich schätze, abgewertet wird.)
Kai BargmannUnd mal (etwas polemisch) nachgefragt: Du glaubst wirklich, Nicos schiefer Gesang ist die konsequente Verwirklichung einer Idee?
Nico singt einfach, wie sie singt, unverkennbar. Daß sie nicht singen kann, macht nichts, denn sie hat Stil und ihre dunkle Stimme ist großartig. „All Tomorrow’s Parties“ kann man nicht besser vortragen als sie es tut. Und bei „I’ll be your Mirror“ tragen die leichten Unebenheiten nur zum Charme dieses zärtlichen, intimen Songs bei.
Moe Tucker kann übrigens auch nicht singen, aber es ist ganz wunderbar, wenn sie es tut („After Hours“). Die Idee, wenn man es so nennen will, heißt DIY (do it yourself) – du mußt nicht jahrelang üben oder Unterricht nehmen, um wertvolle Musik zu machen, die anderen etwas bedeuten kann.
Mein Text oben ist in mancher Hinsicht einseitig und zugespitzt. Man muß auch sagen, daß die Band tight und gut beisammen ist – die Tempowechsel sitzen (siehe „There she goes again“). Ich halte es aber für noch wichtiger, daß sie einen individuellen Sound hat.
Ich habe oben auch zu erwähnen vergessen, daß „I’m waiting for the Man“ einfach körperlich mitreißend ist. „Run Run Run“ ist ebenfalls ein sehr körperlicher Track. Beide sind konsequent, minimalistisch, herrlich repetitiv, also einfach gelungen. Mit üppigeren oder abwechslungsreicheren Arrangements wären sie schlechter, nicht besser.
„Venus in Furs“ ist unter anderem deshalb großartig, weil John Cale über die Grenzen dessen hinausgeht, was nach landläufiger Vorstellung „gut klingt“, vor allem während des „I am tired, I am weary“-Teils. Das läßt den Hörer (mich) etwas empfinden, was man mit „schönen“ Klängen nicht ausdrücken kann.
„Heroin“ ist herzzereißend. Traurig und schön. Die intensivste musikalische Erfahrung, die ich kenne. Ich möchte keine Sekunde davon missen. Für mich ist das die Definition von Vollkommenheit. :liebe:
Die Maßstäbe, die von den Beatles gesetzt worden sind, kann man hier nicht anwenden; das ist ein anderes Spiel. The Velvet Underground haben auf ihrem Feld die Maßstäbe gesetzt, an denen nachfolgende Bands gemessen werden.
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To Hell with Poverty