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Kai BargmannWiedergehört, und dabei mal die Entstehungsgeschichte und den Mythos ausgeblendet. Unter ästhetischen Gesichtspunkten bleiben vier gute Songs (Sunday Morning, Femme Fatale, There She Goes, I’ll Be Your Mirror), eine Sängerin, die erschreckend schief singt (aua!) und mit European Son siebeneinhalb zugemutete Minuten.
Autsch! Die Geschichte auszublenden, ist nie eine gute Idee. Bei „All Tomorrow’s Parties“ z.B. hört man heute Goth mit; der Track ist nichts weniger als bahnbrechend. Und unter ästhetischen Gesichtspunkten ist doch fast jeder Track gelungen. „Waiting for the Man“ etwa ist schlicht grandios in seiner Konsequenz, rattert unaufhaltsam auf seiner Schiene dahin – musikalischer Minimalismus. Und der Text erzählt sehr gut von einer Situation und den mit ihr verbundenen Gefühlen. „Venus in Furs“ erschafft eine ganz eigene musikalische Welt usw. (speziell die radikale Viola – sinister!). „European Son“ ist in gewisser Weise eine Zumutung, das gebe ich zu, aber es ist eine bewunderswerte Geste, das Album so enden, im Lärm versinken zu lassen – und wenn der Track keinen anderen Effekt hat als den, die Mainstream-Hörer zu verschrecken, ist er schon gerechtfertigt!
Edit: Man darf das ruhig etwas ausführlicher erörtern, denn es geht hier um einen Wertekonflikt. Die Kritik lautet, da sei einiges schlecht gespielt und schlecht gesungen – „handwerklich schlecht“. Für diese Position kommt es darauf an, daß technisch sauber gespielt und gesungen und aufgenommen wird – wenn das nicht der Fall ist, sei es auch nicht gut. Die Gegenposition lautet, daß es um die konsequente Verwirklichung eigenständiger Ideen und den Ausdruck von Gefühlen geht; alles andere ist ein Mittel zum Zweck.
Der Einfachheit halber zitiere ich mich jetzt mal selbst; ich habe ja in einem anderen Thread schon beschrieben, was dieses Album für mich bedeutet: „The Velvet Underground & Nico, zusammen mit den anderen Alben der Band, ist der Anfang, die Wurzel von Artschool-Punk und New Wave, von Indierock und dem, was man früher mal (in den frühen 90ern) als „Alternative“ bezeichnet hat; die Inspiration für so viele andere Künstler. Davon redet das berühmte Eno-Zitat. Dieses Album ist die Bibel, Mann! Es kann vieles lehren, unter anderem dies: Zuerst kommen die Ideen, die Technik kommt später! Das ist Kunst, keine Mucke. (…) Hier geht es nicht um Virtuosität oder filigranes Spiel [oder technisch geübten Gesang]; Monotonie, Wiederholung und Lärm werden bewusst als Stilmittel eingesetzt usw.
Natürlich hört man sich das Album nicht deshalb an, weil es bedeutend ist (deswegen respektiert man es bloß), man hört es wegen der Schönheit, die man hier finden kann, wenn man Ohren dafür hat, und wegen der Atmosphäre, die aus den Boxen dringt. Man findet hier urbane Paranoia („Watch out, the world’s behind you“), verpackt in eine süße Melodie, die Abhängigkeit des Junkies von seinem Dealer, seinen Rückzug von der Welt, die existentielle Müdigkeit, die Heilung im Schmerz sucht, dazu die melancholische Schönheit des Goth-Vorläufers „All tomorrow’s Parties“, die schöne Einfachheit von „I’ll be your Mirror“… ach, man findet so vieles! Soviel Coolness, wie man überhaupt nur aushalten kann. [Das Album hat mir unter anderem gezeigt, daß Lärm und einlullende Melodien gut zusammenpassen.] Um es kurz zu machen: * * * * *
„Heroin“ ist seit Jahren mein Lieblingstrack überhaupt, meine ewige Nr. 1 (für eine Nr. 2 habe ich mich noch nicht entschieden, vielleicht wäre das ja „Venus in Furs“…). Ich habe ihn zuerst auf dem Soundtrack zum Doors-Film gehört, da kannte ich The Velvet Underground noch gar nicht (oder nur dem Namen nach, aus Rowohlts Rock-Lexikon). Boy, it blew my mind! Dieser Track, speziell der unglaubliche Noise-Ausbruch am Höhepunkt, brutzelte meine Ganglien, öffnete meine Ohren, rüttelte meine „Hörgewohnheiten“ durch. Ohne ihn hätte ich kurz darauf mit Sonic Youth nichts anfangen können. [Der Track ist auch kein bißchen zu lang, sondern nimmt sich die Zeit, die er braucht, um seine Wirkung zu entfalten – immerhin muß er von der Erfahrung des Junkies erzählen.] Wenn ich heute sagen kann, „I dig repetition“, habe ich das ebenfalls VU zu verdanken. Der beste Drogensong aller Zeiten? Wenn er gerade läuft, klingt er jedenfalls so für mich. Schön und traurig und einfach unglaublich.“
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To Hell with Poverty