Antwort auf: Blue Note Records – Die frühen Jahre (New Orleans Jazz, Boogie, Swing, Blues)

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1939-04-07 – New York, NY
The Port of Harlem Jazzmen / Frankie Newton Quintet / J.C. Higginbotham Quintet

Frank Newton (t), J.C. Higginbotham (tb), Albert Ammons (p), Teddy Bunn (g), Johnny Williams (b), Sidney Catlett (d)

 

In seinen Liner Notes zur oben abgebildeten CD schreibt Dan Morgenstern: „When he founded Blue Note Records, Alfred Lion was, so to speak, intoxicated with the blues, a musical language which, though it infuses all authentic jazz, had fallen into relative neglect at the peak of the Swing Era. To be sure, Count Basie and his fresh wind out of Kansas City was blowing the blues back into prominence, but the kind of basic stuff Lion had been exposed to via the boogie woogie pianos of Albert Ammons, Pete Johnson and Meade Lux Lewis was another story.“

Für seine erste Session mit Bläsern – und überhaupt mehr als einem Klavier im Studio – lag der Fokus nun ganz auf dem Blues. Langsam, erdig, ganz ohne das Tempo und die geschliffene Eleganz der Swing-Ära. Albert Ammons am Klavier war zurück, unter den weiteren Musikern ist wohl der Trompeter Frankie Newton (1906–1954) der bemerkenswerteste, ein grossartiger Musiker, der das Pech hatte, in einer Epoche der Virtuosen aktiv zu sein: Roy Eldridge, Bunny Berigan, Red Allen, Harry James, vom Übervater Louis Armstrong ganz zu schweigen. Für einen stillen Lyriker wie Newrton blieb wenig Rampenlicht übrig. Ihm ging es nicht um Brillanz, an der es ihm jedoch nicht mangelte, wenn sie denn mal gefragt war. Seine Stärke lag in einer gefühlvollen, ja fast schon intimen Spielweise.

Newtons Partner, dem Posaunisten J.C. Higginbotham (1906–1973) erging es besser, er war 1939 schon als Starsolist der Bands von King Oliver, Luis Russell, Fletcher Henderson oder Louis Armstrong aufgetreten. 1940 tat er sich – bis zu dessen Tod 1967 – mit Henry „Red“ Allen zusammen, seinem lebenslangen Freund. „Higgy“, wie er von Freunden genannt wurde, war bis Mitte der Vierziger zweifellos einer der besten Posaunisten des Jazz, explosiv, zupackend, mit einer Bravour, die an Armstrong geschult war (und wiederum nachfolgende Posaunisten wie Trummy Young oder Eddie Bert und viele andere prägte). Im Gegensatz zu Newton war Higginbotham ein Blueser im Herzen.

Die Rhythmusgruppe besteht aus dem Gitarristen Teddy Bunn, damals Star der Gruppe Spirits of Rhythm, in der auch gesungen wurde, dem Bassisten Johnny Williams, damals Mitglied von Newtons Hausband im Cafe Society, und dem Schlagzeuger Sidney Catlett, einem der grossen Meister auf seinem Instrument.

Die genaue Abfolge der Stücke scheint, wie bei den meisten frühen Blue Note-Sessions, nicht völlig geklärt. Auf der abgebildeten CD geht es mit dem „Daybreak Blues“ los, dann folgt der „Wearyland Blues“. Ersterer, ohne Higginbotham, lief unter Newtons Name, bei zweiterem war es genau umgekehrt. Higginbothams Stück war die A-Seite einer Single, Newton fand sich auf der Rückseite wieder. Newtons Stück fügt sich in die Stimmung, die Meade Lux Lewis mit „Melancholy“ und „Solitude“ geschaffen hatte, Bunn und Ammons agierend hervorragend, die Gitarre spielt streckenweise einen 12/8-Groove und kriegt nach Ammons‘ Chorus ihren eigenen Durchgang. Das ist minimalistische, fast schon karge Musik, die aber eine grosse Wärme ausstrahlt. Newton schattiert seinen Ton, streut da und dort ein wenig Vibrato ein. Bei Higginbotham ist der Klang der Aufnahme noch etwas dumpfer, wie Morgenstern treffend meint, gibt das dem Stück eine Art „voice-in-the-wilderness quality“. Higginbotham öffnet mit Dämpfer, Ammons und Catlett hört man praktisch nicht, erst im Verlauf von Ammons‘ Chorus taucht das Klavier im Mix allmählich auf. Dann folgt wieder Bunn, und wenn Higginbotham dann wieder einsteigt, mit offener Posaune, wirkt sein Ton etwas aggressiver und Catlett ist auch ein wenig zu spüren.

Es folgen drei Stücke mit beiden Bläsern. Im „Port of Harlem Blues“ ist das Tempo einmal mehr langsam, die Stimmung getragen. Newton öffnet mit einer wunderbaren Improvisation, dann übernimmt Higginbotham und stellt das Thema vor – wobei alle fünf Stücke als Improvisationen angegeben werden. Wenn Higginbotham das aus dem Stand erfindet, chapeau! Sein zweiter Durchgang ist ähnlich souverän, auch daraus könnte man gleich ein Stück komponieren. Nach Ammons‘ Solo steigt Higginbotham mit einer gehaltenen hohen Note wieder ein – und erzielt damit einen zauberhaften Effekt.

„Mighty Blues“ klingt deutlich klarer, das Tempo ist etwas rascher, Bunn spielt ein Intro, dann übernimmt der souveräne Higginbotham, spielt kurze Phrasen, wie in Stein gemeisselt und mit guter Begleitung von Ammons, der danach zwei feine eigene Chorusse spielt. Der Groove der Rhythmusgruppe ist mitreissend, eine Mischung aus Stillstand und hartem Swing. In Newtons Solo spielt Bunn wieder 12/8-Figuren. Der Trompeter findet sich auch in diesem zupackenderen Groove bestens zurecht, ohne sich zu verleugnen. Catlett ist hinter Bunn dann besonders toll. Den Abschluss macht „Rockin‘ the Blues“, in dem das Tempo deutlich anzieht. Ammons spielt ein Intro, die Bläser riffen, Higginbotham spielt ein gutes Solo inklusive Zitat aus „Stormy Weather“, Ammons und Catlett lassen die Musik jumpen.


J.C. Higginbotham, Pete Johnson, Red Allen und Lester Young, National Press Club, Washington, D.C., ca. 1940 (Foto: William P. Gottlieb)

 

1939-06-08 – New York, NY
Port of Harlem Jazzmen / Frankie Newton Quintet / J.C. Higginbotham Quintet / Sidney Bechet Quintet

Frank Newton (t), J.C. Higginbotham (tb), Sidney Bechet (ss, cl), Meade „Lux“ Lewis (p), Teddy Bunn (g), Johnny Williams (b), Sidney Catlett (d)

 

Zwei Monate später versammelt sich eine ähnliche Band erneut in einem Studio (jazzdisco.org schreibt „probably WMGM Radio Station“), doch etwas ist anders, es ist nämlich einer der ganz grossen Stars des alten Jazz dabei, kein geringerer als Sidney Bechet, dem das Label bis 1953 die Treue halten sollte und noch Sessions mit ihm aufnahm, als es sich längst dem Bebop zugewandt hatte. Und Bechet sollte gleich auch ein Meisterwerk abliefern, doch dazu gleich. Am Klavier sass diesmal nicht Ammons sondern der andere vom ersten Tag, Meade Lux Lewis. Newton, Higginbotham, Bunn, Williams und Catlett waren alle wieder dabei.

Wie bei der Session vom April wurden auch hier wieder fünf Stücke eingespielt – übrigens bis zu viereinhalb Minuten lange, was schon bei der ersten Session mit Ammons/Lewis der Fall gewesen war. Weil es nun drei Bläser zu präsentieren gab, resultierten nur zwei Stücke mit der ganzen Band. Die Musik ist wieder blueslastig, der ein „call of the wilderness“ aus der Hitze des Grossstadt-Dschungels, so scheint mir. Los geht es mit „After Hours Blues“, dem Feature für Newton, in dem auch Bunn und Lewis feine Soli spielen. Bei letzterem fällt gerade im Kontrast zu Ammons bei der Session davor auf, dass sich die Boogie-Spuren praktisch verflüchtigen – er spielt pures Jazz-Piano. Bei Newtons Wiedereinstieg bietet Catlett seine typischen Press-Rolls. Dann ist Higginbotham an der Reihe, mit dem „Basin Street Blues“ – bei dem es sich um keinen Blues handelt, was eine willkommene Abwechslung bietet (die Melodie, so stellt Morgenstern zu recht fest, ähnelt ein wenig jener von Liszts „Liebestraum“ Nr. 3). Higginbotham spielt ein paar tolle Breaks, und auch Bunn reagiert auf die Abwechslung, steigt schon hinter Higginbotham ein, ob er meinte, der Posaunist sei schon durch? Dieser steigt dann wieder ein, spielt noch ein paar wilde Breaks, im zweiten zitiert er „Confessin‘ (That I Love You)“, und wird – wie Newton zuvor – von Catletts Press Rolls wie auf einem fliegenden Teppich heimbegleitet.

Im „Blues for Tommy“, wie Newtons Stück wieder ein improvisierter Blues. Hier ist nun die ganze Band zu hören. Bechets Sopransax schwebt im Intro über der Band, die Press-Rolls kommen schon zum Auftakt. Tommy, das ist Tommy Ladnier, ein alter Freund von Bechet, der ein paar Tage vor der Session starb, und der stapfende Groove passt zur Stimmung. Bechet soliert zuerst, mit seinem umwerfenden Ton und ein paar speziellen Phrasierungen. Lewis folgt, leider etwas leise im Mix. Newton übernimmt mit dünnem Ton, sehr fokussiert – ein toller Durchgang! Bunn folgt (und Catlett passt seine Begleitung sofort an – diese Praxis wurde z.B. später im Miles Davis Quintet von Philly Joe Jones sehr ausgeprägt gepflegt), dann Higginbotham, in passender klagender Stimmung.


Frankie Newton und Sidney Bechet

Es folgt Sidney Bechets Meisterwerk, „Summertime“. Die Blechbläser setzen aus, Bunn ist zur Stelle, um in ein Zwiegespräch mit Bechet zu treten, die Rhythmusgruppe spielt fliessender, was perfekt passt. RCA, das Label für welches Bechet einige seiner schönsten Aufnahmen gemacht hat, verweigerte ihm anscheinend, Gershwins Stück aus „Porgy and Bess“ aufzunehmen – bei RCA sah man in Bechet den traditionellen Jazzer, zu dem ein solches Stück nicht passt. Zum Glück landete er bei Blue Note, denn auch wenn Bechets RCA-Aufnahmen vielleicht seinen wichtigsten Werk-Korpus bilden, er hatte tatsächlich viel mehr drauf, als manche meinten (und wohl noch meinen, falls sich heute überhaupt noch jemand für Bechet interessiert – der Mann hatte durchaus das Kaliber eines Louis Armstrong und war, zumindest in den frühen Jahren, der wesentlich beeindruckendere Improvisator).

Den Ausklang der dritten Blue Note-Session macht dann noch einmal das ganze Ensemble mit dem „Pounding Heart Blues“. Das Tempo ist etwas schneller, doch die Intensität von Bechets Solo ist noch da, Higginbotham spielt ein grossartiges erstes Solo, gefolgt von Lewis, der am Klavier auch inspiriert klingt. Hinter Newton fängt Catlett mit seinen Press-Rolls an – und das Solo ist vielleicht Newtons besten auf diesen Sessions, ein Konstrukt, das völlig logisch und klar ist, mit grossem Gusto vorgetragen, und von grosser dramatischer Wirkung. Bechet folgt dann an der Klarinette, schlüpfrig, mit Seufzern und Growls. Das abschliessende Ensemble gehört, wie der Auftakt schon, wieder dem souverän aufspielenden Newton.

Mosaic brachte die gerade besprochenen zehn Stücke 1984 auf seiner achten Veröffentlichung heraus. Die CD oben enthält zusätzlich die Bechet-Session vom 27. März 1940 (mit Bunn, Pops Foster und Catlett) und die Solo-Session, die Teddy Bunn am Tag darauf aufnahm.

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