Antwort auf: Blue Note Records – Die frühen Jahre (New Orleans Jazz, Boogie, Swing, Blues)

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1939-01-06 – unbekanntes Studio, New York, NY
Albert Ammons / Meade Lux Lewis

Die beiden Boogie Woogie-Pianisten Albert Ammons (später besser bekannt als Vater des Tenorsaxophonisten Gene Ammons) und Meade Lux Lewis machten wie erwähnt den Anfang. Ganze 19 Titel brachten die Neulinge Lion/Wolff mit den zwei Pianisten zustande, die jeweils über ein halbes Dutzend Solo sowie zwei Duette einspielten. Bis auf einen Titel erschien die ganze Session auf der abgebildeten Blue Note-CD – d.h. wenn mich nicht alles täuscht, es fehlt wohl das „Untitled Lewis Original“, aber bei den Titeln gibt es etwas Verwirrung, „Nagasaki“ wird bei Mosaic noch als „Sheik of Araby“ angegeben, das wurde dann korrigiert, als Blue Note die einzelne CD nachreichte.

Boogie Woogie also – ein Stil, den man wegen der Orte, wo er auftauchte, gerne als randständiges Phänomen betrachtet, dessen Vertreter halt nichts anderes gelernt hätten. Das am deutlichsten hörbare prägende Element sind die Ostinato-Figuren im Bass. Solche repetitiven Begleitfiguren gehen in der Musik weit zurück, bis ins 13. Jahrhundert wenigstens, und seit dem 16. Jahrhundert sind sie mit Formen der Tanzmusik verbunden. Die Tradition, wie sie anhand der später entstandenen Aufnahmen hörbar wird, bestand wohl in engen Fingerhaltungen der Linken, die schnelle, gleichmässig phrasierte Bewegungen zwischen Tonika, Dominante und Subdominante ausführt, in der Regel in der Form eines 12taktigen Blues. Der Fokus liegt wohl auch deshalb auf der Rhythmik, weil die Instrumente, die im 19. Jahrhundert zur Verfügung standen, wenn in irgendwelchen Camps oder Saloons zum Tanz aufgespielt wurde, vermutlich selten in gutem Zustand waren. Die Form war also eng bemessen, ein Stimulus, innerhalb des gegebenen Rahmens das Beste zu machen. Die kreativen Boogie Woogie-Pianisten reicherten ihre Sprache durch Anleihen anderer Blues- und Jazz-Piano-Spieltechniken an.

Das alles kann man bei Lewis (1905–1964) und Ammons (1907–1949) aufs Schönste hören. Jimmy Yancey, Hersal Thomas oder Clarence „Pine Top“ Smith nennt Dan Morgenstern in seinen Liner Notes zur Mosaic-Box als direkte Vorbilder: Yancey ist Lewis‘ „Yancey Special“ (1944 aufgenommen) gewidmet, Ammons spielt Thomas‘ „Suitcase Blues“ und entleiht in seinem „Boogie Woogie Stomp“ die Basslinie dem „Boogie Woogie“ von Pine Top Smith. Bei anderen Boogie Woogie-Pianisten tauchen Einflüsse von Jelly Roll Morton auf, Motive der Original Dixieland Jazz Band usw. Lewis und Ammons kamen beide in Chicago zur Welt, arbeiteten zeitweise beide für die Silver Taxi Cab Gesellschaft und lebten im selben „rooming house“, wie auch „Pine Top“ Smith. Dass sie ihre Ideen austauschten liegt auf der Hand. Smith hatte u.a. Ma Rainey begleitet, während die zwei jüngeren Pianisten erst am Anfang standen. Ammons hatte in den späten Zwanziger- und in den Dreissigerjahren erste Gigs, 1936 nahm er für Decca erstmals auf, darunter auch schon den „Boogie Woogie Stomp“. Zwei Jahre später nahm Ammons für die Library of Congress auf und wirkte Ende 1938 auch an einem der „Spirituals to Swing“-Konzerte mit, die John Hammond in der Carnegie Hall veranstaltete – im Rahmen einer „cutting“ Session mit Meade „Lux“ Lewis und Pete Johnson, die als letzter Punkt vor der Pause aus dem Programm stand (1).

Meade „Lux“ Lewis‘ Weg war steiniger. Er spielte in Chicago in Bars und Clubs und hörte dann mit Musikmachen auf. In den frühen Dreissigern war er in einem Projekt für Arbeitslose der Work Progress Association im Einsatz. Hammond hatte inzwischen den eine bemerkenswerte frühe Aufnahme von Lewis entdeckt, „Honky Tonk Train Blues“ (2) und sich auf die Suche nach dem Pianisten gemacht. Lewis hatte den Kontakt zu Ammons aufrecht erhalten und dieser stellte die Verbindung zwischen den beiden her. 1936 etablierte sich Lewis wieder als Musiker, spielte in Chicago und ging dann nach New York. Auch er nahm 1938 für die Library of Congress auf, als Folge des Auftrittes bei „Spirituals to Swing“.


Albert Ammons und Pete Johnson im Cafe Society (Foto: Frank Driggs Collection)

Ende der Dreissiger hatten Ammons und Lewis sich also warmgelaufen und waren bereit, ihre besten Aufnahmen zu machen – im Rahmen der ersten Aufnahmesession von Blue Note Records. Die Menge und die Qualität der Musik von diesem 6. Januar 1939 sind beeindruckend, auch wenn man nicht bedenkt, dass zwei völlig unerfahrene Männer im Studio zuständig waren. Blue Note 1, die ersten Single, enthielt Lewis‘ „Melancholy“ und „Solitude“, Blue Note 2 dann die Ammons-Titel „Boogie Woogie Stomp“ und „Boogie Woogie Blues“. Boogie Woogie war zu dieser Zeit in seinem einstigen eher rustikalen Rahmen längst ausser Mode, doch die Swing-Fans entdeckten für sich die dramatische Wirkung und die Virtuosität der Pianisten, die nun nicht mehr zum Tanz aufspielten oder Hintergrundmusik lieferten.

Die zwei Stücke von Ammons verdeutlichen all sein Können und strafen – wenn man denn zuhören mag – die Behauptung Lügen, Boogie Woogie klinge doch immer gleich. Die beiden Hände spielen sich kreuzende Rhythmen, die Betonung ist mal auf dem Beat, mal auf dem Off-Beat, was die Wirkung des Swingenden Grund-Beats noch verstärkt. Die rechte Hand wird immer aktiver, doch die Blues-Form verhindert, dass die Performances ausarten. Ammons spielte rhythmisch sehr variantenreich, mischt synkopierte Achtel und Sechzehnte mit Passagen in Achtel-Triolen, streut Tremolos ein, Passagen in Terzen, Sexten und Oktaven. In „Bass Going Crazy“ entfernt er sich, wie der Titel ahnen lässt, von der üblichen Bassbgleitung. Das Ergebnis ist sehr effektvoll, die linke Hand bewegt sich in einer viel grösseren Breite als üblich, die Linien sind viel variantenreicher, auch chromatische Passagen tauchen auf. Hier hören wir exemplarisch, was die besten Boogie Woogie-Pianisten konnten, wenn sie sich vom engen Rahmen wegbewegten und sich anderen Einflüssen öffneten. In „Chicago in Mind“ erinnert Ammons an Fats Waller, spielt für einmal deutlich einen 4/4-, nicht den üblichen 8/8-Rhythmus.

Ammons, Lewis und Pete Johnson traten regelmässig in unterschiedlichen Kombinationen im New Yorker Cafe Society auf. Die Duette von Ammons und Lewis am ersten Tag von Blue Note erinnern daran – und „Twos and Fews“ ist eines der wenigen Beispiele für einen vierhändigen Boogie Woogie. Noch toller ist aber das zweite Duett, eine Improvisation über „Nagasaki“ (von Mosaic wie erwähnt noch als „Sheik of Araby“ betitelt). Hier spielen die beiden ein spontanes Jazz-Duett über eine 32taktige Song-Form – ein Feuerwerk von Einfällen und in Form der themenlosen Improvisation zugleich etwas, was Jahre später bei den Beboppern als Innovation gefeiert wurde – manches ist eben nicht so neu, wie behauptet wird.


Meade Lux Lewis (Foto: Francis Wolff (C) Mosaic Images)

Die Stücke, mit denen Blue Note seine Veröffentlichungen begann, Lewis‘ „Melancholy“ und „Solitude“, sind eher Tongedichte als treibender Boogie Woogie. Der Pianist spielt hier 4/4 und verzichtet auf die typischen Boogie-Bässe. Statt einem rhythmischen Diskurs zwischen den Händen gibt es hier einen melodischen – und damit ein Echo auf den Anfang von Lewis‘ Aufnahmen im Studio, den in fünf Teilen eingespielten Blues. Das war Lewis‘ ambitioniertes Unterfangen im Studio, eine zwanzigminütige Variation über die unzähligen Schattierungen der Melancholie, mit der es in dem Genre wohl nur die besten Aufnahmen Jimmy Yanceys aufnehmen können. Ammons mag also mehr Erfahrung – und vermutlich mehr Punch – gehabt haben, aber Lewis war musikalisch der innovativere, wagemutigere, keine Frage.

Lewis‘ „Honky Tonk Train Blues“, den er schon 1927 zum ersten Mal eingespielt hatte, ist eine Boogie Woogie-Komposition, und damit einmal mehr nichts, was irgendwer jemals erwartet hätte: ein durchkomponiertes Stück, in dem zugleich Ordnung und Unordnung herrscht, indem das freie, wilde Barrelhouse-Klavier in eine Form gebracht wird. In der Linken vermeidet Lewis konsequent die Tonika, was zu einer anhaltenden Spannung führt.

Dan Morgenstern, dessen Liner Notes zur Mosaic-Box ich hier schamlos ausbeute, gerade was die präzisen technischen Details angeht, berichtet voller Begeisterung über weitere Stücke von Lewis bei dieser ersten Blue Note-Session, zum Beispiel „Bass on Top“ und „Six-Wheel Chaser“, in denen Lewis verschiedenste Mittel anwendet, um für klangliche und rhythmische Vielfalt zu sorgen. Wie davor James P. Johnson und später Thelonious Monk streut Lewis immer wieder Akkorde und Figuren ein, die keinerlei Funktion haben sondern eher als Echo der mikrotonalen Bluestradition zu verstehen sind. Lewis erzeugt solche Momente durch das Aufeinanderprallen der Bewegungen der Bass- und der Melodielinien. Das mögen auch andere Pianisten gemacht haben, aber Lewis‘ untrügliches Gespür lässt seine Aufnahmen besonders pikant klingen.

1) Zu hören ist das in einer tollen 3-CD-Box, die Vanguard herausgebracht hat:
https://www.discogs.com/Various-From-Spirituals-To-Swing/release/4123681
Zwei Trios (das zweite mit Walter Page am Bass), umrahmen je ein Ammons- und ein Lewis-Solo sowie zwei Stücke, auf denen Johnson als Begleiter von Joe Turner zu hören ist, direkt danach folgen zwei Stücke von Sister Rosetta Tharpe mit Ammons am Klavier. Zu den grossen Highlights der Box gehören für mich aber v.a. die Aufnahmen von Count Basie/Lester Young, die auch beim 1939er-Konzert wieder dabei waren, wo zudem das Benny Goodman Sextet mit Charlie Christian und der Pianist James P. Johnson mitwirkten – die Box sei wärmstens empfohlen! (Momentan ist sie aber sehr teuer, wie es scheint.)

2) Vermutlich aus dem Dezember 1927, zu finden auf der Lewis-CD „1927–1939“ (Chronological Classics); Lewis‘ nächste Aufnahme ist eine Version desselben Stückes aus dem Jahr 1935 für Parlophone, die als Bonus auch in der Mosaic-Box enthalten ist, im Januar 1936 nahm er dann für Decca/Brunswick eine ganze Session auf, im März 1937 zwei Stücke für Victor, im Dezember 1938 drei für Vocalion, und im Januar 1939 folgte dann die Blue Note-Session, um die es hier geht. Die Sessions für Victor und Vocalion hat Mosaic in seinem Select „Boogie Woogie and Blues Piano“ (3 CD, 2008) neu herausgebracht:
https://www.discogs.com/Various-Mosaic-Select-Boogie-Woogie-Blues-Piano/release/5308576
Bei der Session im Dezember 1938 war auch Gene Ammons im Studio und nahm ebenfalls zwei Takes eines Stückes auf, auch das im Mosaic Select zu finden; ebenfalls trifft man da auf Sessions von 1941 mit Ammons und Pete Johnson, der auch mit Aufnahmen – Solo und als Bandleader – von 1939 vertreten ist, inkl. eines Treffens mit Ammons und Lewis; anderen Pianisten, die man zu hören kriegt, sind u.a. Joe Sullivan, Freddie Slack, Jimmy Yancey, Mary Lou Williams und Lionel Hampton (u.a. im Duo mit Nat „King“ Cole).

PS: Ich stelle keine YT-Links ein, auch wenn man vieles dort wohl finden kann … YT kotzt mich grundsätzlich erstmal einfach an; dann sind oft Links, die in der Schweiz gehen, in Deutschland gesperrt; und obendrein verlangsamt die ganze Flash-Grütze auch in Zeiten schnellen Internets immer noch das Laden von Seiten. Geht also bitte selber suchen, wenn Ihr auf dem Weg begleitend zur Lektüre etwas hören möchtet.

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