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irrlicht Ein großes Manko derartiger Veröffentlichungen ist m.E., dass sie im Grunde als verlängerter Rattenschwanz schon eine Vorverurteilung begehen – nicht weil der Artikel das zwingend immer hergebt, sondern weil die Welt und Social Media im Speziellen nunmal einfach so funktioniert. Es ist völlig egal, was der weitere Verlauf nun ergibt, wer sich in der gegenwärtigen Zeit Sexismus und das vor allem noch in Bezug auf Minderjährige schuldig macht, hat eine handvoll Sargnägel vor Augen. Ich finde es grotesk, das mit einem gelassenen „wer in der Öffentlichkeit steht, muss sich dem bewusst sein“ und Dergleichen zu quittieren. Das sehe ich absolut nicht so. Es heißt nicht umsonst „Im Zweifel für den Angeklagten“.
Das Problem sehe ich durchaus auch. Aber auch auf die Gefahr hin, dass das jeder schon seit Jahren weiß: Basis für eine journalistische Veröffentlichung ist nie (außer bei Prozessberichterstattung) ein abgeschlossenes Verfahren mit wasserdichter Beweislage. Es ist gerade die Aufgabe der Medien, Verdachtsfällen nachzugehen. Und oft führen erste Veröffentlichungen dazu, dass weitere Leute sich melden und etwas ins Rollen kommt. Die Fälle, in denen erst dadurch polizeiliche und juristische Recherchen angestoßen wurden, sind Legion. Würden Journalisten sich hier an die Regel „Im Zweifel für den Angeklagten“ halten, würde das bedeuten: Solange sie einen Skandal nicht so sicher wasserdicht nachweisen können, dass es mit hundertprozentiger Sicherheit zu einer gerichtlichen Verurteilung reichen würde, schreiben sie gar nichts. Das wäre aus meiner Sicht aber eine fatale Haltung, die de facto der Maxime „Im Zweifel gegen die Betroffenen und die Opfer von Fehlverhalten“ gehorchen würde.
Eine per se „unschuldige“ Lösung gibt es da nicht. Es geht immer um eine Abwägung, bei der aus meiner Sicht, wie weiter oben beschrieben, zwei Kriterien maßgeblich sind: erstens das Kriterium Wahrheit (sind die Vorwürfe, die man erhebt, gut recherchiert und belegt?) und zweitens das Kriterium Relevanz (geht das die Öffentlichkeit an?).
Ad eins: Ganz im Gegensatz zu @latho und ganz d’accord mit @nail75 habe ich an der Recherche-Intensität, die dem NYT-Artikel zugrundeliegt, nichts zu meckern. Was hätte die NYT denn noch tun sollen? Weitere sieben Opfer ausgraben? Weitere fünf Täter aufspüren? Dazu wurde, der gängigen Kunstlehre gehorchend, die andere Seite befragt – dass die sich daraufhin in Schrägheiten und Widersprüche verstrickte, dass der Anwalt dies sagte und Adams das twitterte, ist ja nun nicht die Schuld der NYT. Wenn Adams gesagt hätte, „setzen wir uns zusammen, ich rede eine Stunde mit euch“, hätten die Journalisten sich dem sicher nicht verweigert.
Ad zwei: Ryan Adams hat sich doch recht öffentlich als so eine Art Förderer junger weiblicher Talente profiliert. Da ist es journalistisch absolut angemessen, wenn man das Image an der Realität misst. Um es mal anhand eines Beispiels zu veranschaulichen: Wenn ein verheirateter Politiker ein uneheliches Kind mit einer Freundin zeugt, ist das erstmal seine Privatsache. Wenn er sich aber als Familienpolitiker hervortut, der ein traditionelles Familienbild propagiert, dann bekommt der Fall eine öffentliche Dimension und wird definitiv berichtenswert.
@irrlicht Ein abgebrühtes „Wer sich in die Öffentlichkeit begibt, kommt darin um“, das jede Enthüllung rechtfertigen würde, wäre also sicher nicht die richtige Haltung – aber auch Schweigen und Nichtschreiben kann fatale Folgen haben. Im vorliegenden Fall bleibe ich dabei: Die Veröffentlichung erscheint mir legitim.
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