Antwort auf: Musik im Wandel der Zeit: Wie Musik sich verändert

Startseite Foren Kulturgut Das musikalische Philosophicum Musik im Wandel der Zeit: Wie Musik sich verändert Antwort auf: Musik im Wandel der Zeit: Wie Musik sich verändert

#10687531  | PERMALINK

herr-rossi
Moderator
-

Registriert seit: 15.05.2005

Beiträge: 87,218

Ein paar Thesen:

– Der kulturelle Wert von Musik ist insgesamt unabhängig von allen Möglichkeiten ihrer Reproduktion. Nicht nur die westliche Musik hat sich über Jahrhunderte und Jahrtausende zu größter Komplexität entwickeln können, ohne dass ihre Reproduktion abseits der Vervielfältigung von Noten überhaupt möglich war.

– Der Gedanke, dass Kunst durch die neuen technische Möglichkeiten ihrer massenweisen Reproduktion entwertet wird, ist nicht neu. Walter Benjamin etwa konstatierte 1938 den Verlust der „Aura“ des originalen Kunstwerks durch seine massenweise Reproduktion. Sowohl von rechter wie von linker Seite beklagte man den Verlust kultureller Werte durch die „Massenkultur“ bzw. „Kulturindustrie“ (Adorno/Horkheimer). Mit anderen Worten: Alle Spielarten moderner populärer Musik vom Jazz angefangen einschließlich ihrer massenweisen Verbreitung durch Tonträger (und Radio) galten einmal als Niedergang der Kultur.

– Das „Album“ als musikalisches Werk ist Kind einer technischen Innovation, der Einführung der 12“-LP, aber als künstlerische Idee und als Marketingtool offenkundig so etabliert, dass es nicht nur den Formatwechsel zur CD überlebte, sondern auch mühelos den Sprung ins Streaming-Zeitalter geschafft hat. Nicht nur, dass Musik auch auf Streaming-Plattformen als „Alben“ organisiert sind, sie werden – zumindest von Musikern, Musikkritikern und musikalisch interessierter Öffentlichkeit – auch weiterhin als wesentliche Veröffentlichungsform wahrgenommen. Zu beobachten ist in den letzten Jahren ein Trend zu kürzeren Alben, „Mini“-Alben bzw. EPs. Das muss man nicht nur negativ sehen, denn gerade für noch nicht etablierte Künstler ist das eine gute Möglichkeit, sich an Alben „heranzuarbeiten“ und auch die Produktivität zu erhöhen.

– Die Single lebt als Tonträger nur in bestimmten Genres abseits des Massenmarktes weiter, aber die Idee, sich durch regelmäßige Veröffentlichung einzelner Songs eine Hörerschaft aufzubauen und als Künstler zu etablieren, ist quicklebendig, ihr kommen die Online-Plattformen sehr entgegen – und auch die etablierten Acts kommen ohne „virale“ Singles kaum aus. Ein Musikinteressierter, der ein „reiner Albenhörer“ ist, verpasst auch heute Wesentliches.

– Der Print-Musikjournalismus hat ganz sicher seine Hochphase überschritten. Überleben werden wohl nur noch Magazine, die die Interessen jener Generation bedienen, die noch mit Print-Medien aufgewachsen ist. Online hat sich Musikkritik aber längst etabliert. Neben Blogs und speziellen Online-Portalen spielen dabei auch die Online-Ableger klassischer Printmedien wie „Spiegel“ oder „Guardian/Observer“) eine wichtige Rolle. Letztere würden das wohl kaum tun, wenn es nicht einen Bedarf danach gäbe.

– Die intensive Beschäftigung mit Musik und Musikkritik ist kein Massenthema. Die meisten Menschen konsumieren Musik „nebenbei“, das tun sie nunmehr auch via Streaming. Es mag sein, dass einige Jahrzehnte lang sich ungewöhnlich viele Jugendliche ungewöhnlich stark für Musik interessierten und sich über ihren Musikgeschmack identifizierten, aber das ist aufs Ganze gesehen doch ein kurzer Zeitraum gewesen. Diese ehemals 14-jährigen quälen einen seitdem mit ihrer Lebensweisheit, dass die Musik ihrer Jugend die beste und wichtigste war und die von heute nichts mehr taugen würde (siehe dazu Musikwissenschaftler Adam Neely) – wenn das endlich mal aufhören würde, wäre es kein Verlust.;-)

– An Nachwuchsmusikern herrscht nun wirklich kein Mangel. Ich mache mir daher auch keine Sorge, dass es nicht weiterhin genügend Nachwuchs an Musikbegeisterten gibt.

– Wir erkennen die Bedeutung von Aspekten der Alltagskultur fast regelhaft erst dann, wenn sie in ihrer Existenz bedroht sind, wenn sie durch den technischen und gesellschaftlichen Wandel zu verschwinden drohen. Tonträger werden sicher nie wieder die Rolle in der Massenkommunikation spielen, die sie etwa 50 Jahre lang hatten, aber gerade durch ihr weitgehendes Verschwinden aus dem Alltag werden sie von „Eingeweihten“ nun umso mehr als Artefakte wahrgenommen und wertgeschätzt.

--