Startseite › Foren › Die Tonträger: Aktuell und Antiquariat › Aktuelle Platten › Julia Holter – Aviary › Antwort auf: Julia Holter – Aviary
irrlicht„Aviary“ ist ein exzellentes Album (…), aber so randvoll an allem, dass ich dafür Wochen, eher Monate brauchen werde, um es komplett zu erfassen. Hand aufs Herz: „I shall love 2“ ist spielend der „Pop-Song“ des Albums, vermutlich auch die einzige wirklich klar umrissene Hook, die noch ein wenig zum Vorgänger zurückblicken lässt. Der Rest legt das offen, was ich so vermutet hatte. Eine vollblutige Avantgardistin, die sich stetig mehr zu greifbaren Songs hin entwickelte (was dann in Tracks wie „Feel you“ oder „Sea calls me home“ gipfelte), geht wieder eine paar Schritte zurück und erschafft mit „Aviary“ eine epische Reise durch Jazz, Ambient, Modern Classic, Kammermusik, freie Improvisation, Minimalismus und ein paar Gramm Pop – kopfüber durch ihr gesamtes Werk sozusagen. Jeder Track für sich ist spannend, aber auch fordernd. Es ist ein wenig so, als hätte man mit „Have you in my wilderness“ „Scott 4“ gelauscht und bekäme jetzt „Tilt“ überreicht.
Ja, aber Julia Holters Frühwerk sollte einen auf das neue Werk vorbereitet haben: Wer Tragedy und Ekstasis hintereinander weg hören kann, müsste auch mit Aviary zurechtkommen, oder? Und wer Björk oder David Sylvian durch ihre verschiedenen Werkphasen gefolgt ist, ebenso.
Aviary ist sicher kein Album für Melodieverliebte und es enthält weniger Gesang und mehr Sprechstimme als ich erwartet hatte. Aber ich habe es beim ersten Hören heute nicht als zu schwierig empfunden und hatte auch keinen Zweifel daran, dass es sehr gut ist. Zwar habe ich jetzt nicht gleich mit allen Tracks was anfangen können, aber das Album ist doch über längere Strecken ganz prachtvoll und stimmungsvoll und zum Teil einfach herrlich entschleunigt.
Freilich, der Titel kommt von der Zeile „I found myself in an aviary full of shrieking birds“ und der Opener „Turn the Light On“ klingt danach; durch diesen Drahtverhau muss man erstmal durch – Musik gibt es erst ab dem zweiten Track zu hören. „Whether“ wirkt im Kontrast dann aber ziemlich eingängig. „Chaitius“ zu folgen fand ich auch schwierig, aber der Track hat was; ich glaube, dass ich mich damit noch anfreunden kann. Der zweite Stolperstein war für mich eher „Every Day Is an Emergency“: ein ungewöhnlich langes Intro gefolgt von einem Song, in dem nicht viel zu passieren scheint (vielleicht habe ich aber bloß nicht aufgepasst). „Voce Simul“ ist dafür die reine Schönheit, „Another Dream“ zumindest ansprechend und „I Shall Love 2“ so prächtig wie je.
Die zweite Platte fand ich beim ersten Hören auch gleich zugänglicher und zum größten Teil sehr schön. Schwierigkeiten hatte ich da am ehesten mit dem Opener. „Colligere“ dagegen habe ich gleich gemocht: himmlisch entspannte Musik, an- und abschwellend, und eine kontrastierende Stimme, die zum Stakkato neigt, an der Grenze zwischen Sprechen und Singen. Und danach reiht sich ein Höhepunkt an den nächsten: „In Gardens‘ Muteness“, eine nächtliche Meditation am Klavier, die zwischen Entspannung und Spannungsaufbau wechselt und in Beunruhigung endet; „I Would Rather See“, majestätisch und feierlich; „Les Jeux to You“ in drei Teilen, erst poppig, dann überdreht, dann wieder vernünftig; und bei „Words I Heard“ hängt eh der Himmel voller Geigen.
Ob Aviary nun ein „Meisterwerk“ ist oder nicht, kann ich noch nicht sagen, aber ich weiß, dass es mir gefällt.
--
To Hell with Poverty