Antwort auf: Joseph Haydn: die (besten) Symphonien

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demon

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gypsy-tail-wind
das laufende Projekt [„Haydn 2032“] aus Basel finde ich bisher sehr ansprechend
… mit Giovanni Antonini und Il Giardino Armonico …

demonDas Kammerorchester „C.P.E. Bach“ hat unter der Leitung von Hartmut Haenchen in den Jahren 1988–1993 einige Sinfonien von Joseph Haydn eingespielt. Ich mag die Aufnahmen sehr; sie sind lebhaft gespielt, und aufgrund des relativ kleinen Orchesters ist der Klang nicht so „fett“.

Dank @gypsy-tail-wind hatte ich jetzt die Möglichkeit, die Sinfonie Nr. 49 („La Passione“) in der Einspielung von Il Giardino Armonico unter Giovanni Antonini mit meinen o.g. „Favoriten“ zu vergleichen.

Schon nach wenigen Takten wird ein nicht unwichtiger Unterschied offenbar: Haenchen lässt mit Cembalo in der „Rhythmusgruppe“ ;-) spielen, Antonini nicht.
Hartmut Haenchen begründet seine Entscheidung auch in den eigenhändig(!) verfassten Liner Notes (wobei ich mich jetzt nicht traue, diese korrekt zusammenzufassen). In der Frage scheint keine Einigkeit zu herrschen; auf alle Fälle mag ich den Klang, der so zustande kommt, auch wenn man das Cembalo nicht in jedem Takt raushört.

Und bevor ich fortfahre, gestatte ich mir noch auf Folgendes hinzuweisen:
Der Beiname „La Passione“ stammt nicht von Haydn selbst, sondern aus späterer Zeit. Ein anderer Beinamen ist „Der gutgelaunte Quäker“ [sic]. Also: Die Sinfonie ist unstrittig sehr emotional, aber es geht keinesfalls unbedingt um negative Emotionen.

Der Wikipedia-Artikel zur Sinfonie zitiert einen Rezensenten mit folgender Aussage zum ersten Satz: „Haydn hat wenige rhetorisch so suggestive Sätze geschrieben.“ Ja, in Haenchens Interpretation „spricht“ der Satz, auf eine wunderbar humane und wohltuende Weise zu mir. Bei Antonini hingegen ist die Phrasierung m.E. völlig daneben, total zerrissen, ohne einen roten Faden. Manche (leisen) Passagen machen eine regelrecht zaghaften Eindruck. Das liegt aber auch daran, dass Antonini m.E. die Dynamik übertreibt. Haenchen hingegen kann man vorwerfen, dass er hier zu wenig tut, angesichts der weitgespannten dynamischen Anweisungen Haydns.

Und dann der Orchesterklang: Habe ich den Sound des „Kammerorchesters C.P.E. Bach“ am letzten Samstag als „schlank“ bezeichnet? Oh je, dann bleibt mir für „Il Giardino Armonico“ nur noch „drahtig“ übrig. Als ob man jeden Muskel sieht. Noch dazu wird bei Antonini mit dem Orchesterklang ziemlich gespielt: In jeder Passage stehen andere Instrumente im Vordergrund, Celli und Bässe finden – leider – nur gelegentlich hörbar statt. Und das gilt nicht nur für den ersten Satz, sondern auch für den zweiten und dritten.
PS: Übrigens scheinen Il Giardino Armonico mit einer etwas kleineren Besetzung zu spielen als das Kammerorchester „C.P.E. Bach“.

Der zweite Satz ist bei Antonini für mich eine Überraschung: Er dauert 6:22, bei Haenchen hingegen 3:29. Die Wikipedia weist darauf hin, dass bei manchen Einspielungen die Wiederholungen weggelassen werden; im vorliegenden Fall empfinde ich das subjektiv auch nicht als Verlust. Antonini legt ein Höllentempo vor, und die Phrasierung wirkt auf mich irgendwie atemlos gehetzt und wieder ohne roten Faden. Bei Haenchen hingegen swingt der Satz fast – man verzeihe mir die Wortwahl.

Auch beim dritten Satz kommen „Il Giardino Armonico“ etwas spröde rüber, aber es fällt mir nicht negativ auf. Wie schon vorher variiert Antonini den Orchesterklang häufiger – was ich allerdings als unnötig und verwirrend empfinde; den fast durchgehend „satten“ und etwas dunkleren Sound bei Haenchen finde ich viel angenehmer. Als Fehlgriff der neuen Aufnahme empfinde ich ein quietschendes Blasinstrument, das sich in den ersten Noten des Satzes sinnlos in den Vordergrund drängt.

Und nun zu Satz IV: Bei Antonini 3:01 min lang, bei Haenchen nur 2:21. Hier geht emotional richtig die Post ab, Dramatik pur!
Haenchen macht daraus eine Nummer, die wunderbar groovt und zu der ich tanzen könnte – auch wenn ich die Dramatik höre und sie genießen kann.
Bei Antonini hingegen funktioniert seine effektvolle Spielweise hier bestens, und die Musik bekommt seine regelrecht dämonische Qualität, die mich ergreift: Während ich diese Zeilen formuliere, höre ich den Satz zum dritten Mal an, und zum dritten Mal läuft mir ein kalter Schauer den Rücken runter. Das sind die Momente, die ich beim Musikhören so sehr mag. GROSSARTIG, fünf Sterne!

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