Antwort auf: Cecil Taylor

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Am 23. Oktober 1962 wurde Cecil Taylor im Rahmen seines längeren Engagement im Jazzhus Montmartre in Kopenhagen live mitgeschnitten. Vier Stücke erschienen im folgenden Jahr auf der (dänischen) Debut-LP Live at the Cafe Montmartre, in den USA brachte Fantasy die Platte 1964 ebenfalls heraus. 1965 folgte ein Nachschlag, Nefertiti, the Beautiful One Has Come, erneut in Dänemark bei Debut erschienen (später international auch unter dem Titel „What’s New“ auf Freedom). 1976 brachte Freedom das Material auf einer Doppel-LP heraus und wählte den Titel Nefertiti, the Beautiful One Has Come. 1994 wuchs die Aufnahme um zwei weitere Stücke an, als sie in Japan auf zwei CDs erneut herauskam (in Deutschland gab es 1996 eine Black Lion-CD, „Trance“, mit den vier LP-Tracks sowie einem alternate Take von „Call“ als Bonus).

Die zehn Tracks erschienen 1997 in den USA auf einer Doppel-CD, wieder mit dem „Nefertiti“-Titel, bei John Faheys Label Revenant (wobei nur die 8 Tracks, die auf der Freedom Doppel-LP waren auf der Hülle angegeben werden, die zwei Bonustracks wurden mit jeweils einer Minute Stille abgetrennt, keine Ahnung warum – der auf CD 1 ist der, den man bei Black Lion auch kriegte). Die steht hier seit knapp 15 Jahren im Regal und ist wohl die Taylor-Scheibe, die ich auf die Insel mitnehmen würde.

Jimmy Lyons – as; Cecil Taylor – p; Sunny Murray – d

1. Trance 9:12
2. Call 9:00
3. Lena 6:58
4. D Trad That’s What 21:26
5. (Unrecorded Silence) 1:02
6. Call (Second Version) 6:37

1. What’s New (Haggart-Burke) 12:10
2. Nefertiti, The Beautiful One Has Come 9:10
3. Lena (Second Version) 14:22
4. Nefertiti, The Beautiful One Has Come (Second Version) 8:00
5. (Unrecorded Silence) 1:02
6. D Trad That’s What (Second Version) 20:08

Alle Stücke stammen von Cecil Taylor, ausser der einer Standard, „What’s New“ – schon in „Trance“ wird klar, dass hier ein neues Kapitel des Jazz beginnt. Lyons hat sich von Parker inzwischen entfernt, seine Linien sind immer noch von grösster Klarheit, da sitzt jeder Ton, jede Phrasierung, jeder Hook. Taylors Spiel kennt man inzwischen schon, er kann von ganz zart („Call“) bis zu fuchsteufelswild alles, er kann Cluster und Akkorde, er kann losstürmen, dass alle Extremitäten sich mitbewegen wollen, er kann vor den Kopf stossen, dann wieder die unglaublichsten Linien hinaushauen (und sich darin mit Lyons finden). Murray löst das feste Metrum auf, wie es bis dahin kein Drummer getan hat – und doch swingt sein Spiel oft hart, es hat einen inneren Drive, der dann über sich selber zu stolpern scheint, sich – und die beiden Mitmusiker – unterbricht, als solle es nicht zu behaglich werden. Doch in der Hinsicht braucht man gar nichts zu befürchten, das ist Musik, bei der ich auch nach all den Jahren noch auf der Stuhlkante sitze, Musik, bei der mir öfter der Mund offen stehen bleibt. Vergleichen kann man das vielleicht mit den allerersten Bebop-Sessions von Parker und Gillespie (zum Beispiel dem Town Hall-Konzert von 1945 auf Uptown) – es liegt etwas in der Luft, die Spannung ist gigantisch, und sie entlädt sich fortwährend in einer Kreativität, die in alle Richtungen drängt und alles elektrisch aufzuladen scheint. Es wirkt, als werde hier etwas entfesselt, das davor zwar irgendwie da war, aber sich nie wirklich frei bewegen konnte – Musik der Katharsis.

2002 brachte Revenant „Nefertiti, the Beautiful One Has Come“, auch auf Vinyl heraus, seither (CD 1997, LP 2002) gab es die Aufnahmen vollständig nur noch in Piraten-Ausgaben (bei Doxy auf Vinyl ist man wieder auf 8 Tracks zurück, bei Solar hat man dafür noch das Bootleg aus dem Gyllen Cirkeln in Stockholm im Quartett mit dem Bassisten Kurt Lindgren draufgepackt, inklusive eines Bonustracks … die zwei knapp viertelstündigen Tracks gab es davor schon auf einem italienischen Bootleg, ich kenne sie bisher nicht).

Revenant brachte im Rahmen der grossen, Albert Ayler gewidmeten Box Holy Ghost noch einen dreiundzwanzigminütigen Track aus dem Montmartre heraus, ein paar Tage früher aufgenommen mit Ayler am Tenorsaxophon – das „missing link“, wie Mats Gustafsson anscheinend sagte – ich hole das hier mal aus dem Ayler-Thread rüber:

Historically speaking, this 23-minute performance is the first recording from anywhere in the jazz spectrum of a long-form improvisation with no overt synchronization – of time, structural harmony, or song. That may seem merely statistical, but while the fact is an important milestone, the real story is that Taylor-Lyons-Murray + Ayler could play in an artistically meaningful free space with such balance and fluidity. „Four“ is, as tenor saxophonist Mats Gustafsson has put it, the missing link.

~ Ben Young, The Sessions, Liner Notes zu: Albert Ayler, „Holy Ghost: Rare & Unissued Recordings (1962-70), Revenant, ca. 2004, S. 140

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