Antwort auf: Cecil Taylor

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The World of Cecil Taylor – im oben auszugsweise zitierten Text zum Album „Looking Ahead!“ schrieb Nat Hentoff noch, Taylors Konzept sei noch nicht fertig entwickelt … war es das in seinen Augen zweieinhalb Jahre später, als er im November für sein eigenes Label Candid Records mit Taylor, Neidlinger und Charles sowie dem Gast Archie Shepp am Tenorsaxophon ins Studio ging, wirklich? Oder war der Titel zusammen mit dem tollen Photo einfach nur ein gutes Verkaufsargument? Im Rückblick kann man wohl sagen, dass noch nichts fertig war, die Musik unterscheidet sich nicht grundsätzlich von jener, die das Trio im April 1959 für United Artists eingespielt hatte – auch wenn hier nicht Cole Porter als Vorlage dient sondern Taylors eigene Musik zum Zuge kommt.

Der Opener, „Air“, setzt jedenfalls nahtlos an – bietet aber durch das tolle Saxophon von Archie Shepp etwas, was es bei Taylor zuvor noch nicht gab: einen Bläser, der wirklich zu verstehen scheint, wohin die Reise geht, sich mit Haut und Haaren auf die Musik einlässt und mit einem starken Statement hervortritt. Es folgt eine fast 11 Minuten lange Meditation über den Standard „This Nearly Was Mine“, in dem Neidlingers Bass bedrohlich grummelt, während Charles mit zickigen Einwürfen auf Taylors liebevolle Demontage reagiert. Mit „Port of Call“ und „E.B.“ folgen zwei weitere Trios, dichter, schneller, zerklüfteter – und da ist Taylor dann wohl doch ein paar Schritte weiter als auf den Alben zuvor, auch weil die eigenen musikalischen Vorlagen weiter blicken als die Standards, die er sich zuvor einverleibt hatte. Gerade „E.B.“ entwickelt einen unglaublichen Sog, in dem allerdings Neidlinger/Charles zum ersten Mal etwas abgehängt wirken – sie kommen nicht mehr mit, steuern daher einfach mal in einem 4/4 durch … nur da und dort traut Charles sich, aus dem ziemlich monotonen Beat auszubrechen und ein paar deftige Akzente zu platzieren, die dann aber auch sitzen. Das wirft daher eher die Frage auf, warum er nicht mehr wagte, als ob er es wirklich nicht gekonnt hätte. Am Ende, für „Lazy Afternoon“, eine Art freie Walking-Ballade, stösst Shepp wieder dazu – das Stück dauert fast eine Viertelstunde, ist irgendwie völlig unspektakulär und dennoch grossartig und beeindruckend. Die ganze Zeit bleibt das Thema an der Oberfläche hörbar, egal ob Taylor einen der Sidemen in einen Dialog verstrickt oder ob Shepp in seinem tollen Solo den Preacher gibt – das hat eine Zurückhaltung in der Intensität, die es umso stärker wirken lässt.

Die Liner Notes, die Hentoff in Auftrag gab, sind interessant: er liess einen Kritiker (Martin Williams) wie auch einen Musiker (Buell Neidlinger) über die Aufnahmen schreiben. Williams steigt wieder damit ein, dass Taylor es an sich ablehne, über seine Musik zu reden (oder andere schreiben zu lassen), da sie für sich selbst sprechen könne. Er trägt dann ein paar Zitate zusammen, etwa dass Taylors Musik „the same revolutionary impact upon modern jazz as the recordings of Charlie Parker“ haben könne (Whitney Balliett im New Yorker über das Debut-Album), dass er „almost an avant-garde by himself“ sei (Williams im American Record Guide zum zweiten Album) usw. Über die Musik schreibt Williams denn auch recht wenig, er erwähnt Biographisches, musikalische Stationen, berichtet über die Sidemen.

Neidlinger berichtet dann über seine Erfahrungen mit Taylor. Seit 1956 hat immer wieder mal mit ihm gespielt – dass die Band nicht dauernd auftreten konnte, überrascht ja leider nicht.

Buell Neidlinger
Cecil Taylor, like his music, is dynamic and aggressive – in subtle ways. He moves over the piano like an acrobatic dancer, he employs the entire keyboard. His technique of playing is a result of intensive practice of his own musical ideas. This has gone on over a period of almost twelve years – eight hours each day, at the least. He feels and means each note he plays. It is not uncommon for him to solfege (or sing) the music as he plays. He knows how to pull a singing tone from the piano – his is very vocal music indeed.

Cecil is highly conscious of the theatre. His compositions are organized by juxtaposing elements of different moods against each other like actors on a stage. Moreover, he has the ability to order these elements so that the entire piece moves from the first note to the last in an inevitable way. PORT OF CALL is a good example of this. It is a little journey through another world. The colors are orange and brown. The mood (mode) is set by the first chord, and is dissipated by the last chord.

~ Buell Neidlinger, Liner Notes zu „The World of Cecil Taylor“ (Candid, LP, 1961)

Mosaic Records hat 1989 – sind das wirklich schon fast 30 Jahre? – die Candid-Aufnahmen von Cecil Taylor gesammelt und in einer Box mit sechs LPs bzw. vier CDs vollständig vorgelegt (Cover ganz unten) – restlos alle Takes kenne ich leider nicht, da ich die Musik verstreut auf fünf Candid-CDs unterschiedlicher Provenienz habe („The World of“ von ZYX, zwei weitere von da Music/Black Lion, zwei von Candid UK). Die CD „Air“ enthält jedenfalls über eine Stunde weiteres Material von den ersten Candid-Sessions im Oktober 1960. Los geht es mit zwei Takes von „Number One“, in dem etwas sofort auffällt: am Schlagzeug sitzt nicht der tänzerisch-elegante Dennis Charles sondern Sunny Murray, der deutlich heftiger zulangt – und für „E.B.“ vielleicht die bessere Wahl gewesen wäre. Allerdings beschloss Hentoff damals, den Track mit Murray nicht zu veröffentlichen (es gibt, vermute ich, zwei Takes, auch wenn beim Link unten von drei die Rede ist, die Angaben sind höchst inkonsistent, aber die Zeitangaben auf CCD 79046 und dem Discogs-Eintrag zur Mosaic-Box passen).

Dass Barry McRae seine Liner Notes zur CD Air (das Photo auf dem Cover ist natürlich aus einer viel späteren Zeit) mit Erroll Garner öffnet (und im gleichen Atemzug auch Monk wieder als Referenz nennt), ist vielleicht auf den ersten Blick überraschend, aber wenn man sich Neidlingers Statement über Taylors Klavierspiel vor Augen hält, die Virtuosität höchsten Grades, die er zu diesem Zeitpunkt schon erreicht hat, und wenn man sich den „lockeren“ Umgang mit Time vor Augen hält, dann ist das gar nicht so abwegig. Garner spielte gern weit hinter dem Beat, Taylor geht natürlich weiter, spielt hinter und unter und vor und über dem Beat, umkreist ihn, lässt ihn unscharf werden, verschwimmen, dabei munter weiter swingend und seine Mitmusiker vor sich her treibend, bis sie völlig ausser Atem sein müssen. In Murray hat er in den beiden Takes von „Number One“ einen weiteren Bruder im Geiste gefunden, das wird schon bei dieser ersten auf Tonträger dokumentierten Begegnung klar. Dass die erste gemeinsame Combo dann ohne Kontrabass auskommt, soll aber kein Zeichen dafür sein, dass Neidlinger sich hätte abhängen lassen – er tut hier munter mit und sein Beitrag fällt viel beweglicher aus als auf „E.B.“. Der zweite Take ist wohl noch besser, das Trio entwickelt einen äusserst lebendigen Groove, in dem Murray immer wieder kommentiert, Taylor störrische Akkorde einwirft, während die Rechte im Diskant fast pausenlose Linien spielt.

Die CD heisst „Air“ – und nach den zwei Takes von „Port of Call“ folgen gleich drei von „Air“. Sie sind bei mir als Takes 9, 21 und 24 angegeben, wobei Take 24 wohl Take 29 ist, der letzte, der nach dem Master (Take 28, auf „The World of Cecil Taylor“) entstand. Die Mosaic-Box, oder eher: die Candid-Sessions von Taylor, öffneten auch mit „Air“, doch dieser erste veröffentlichte Take (Nr. 5), fehlt leider auf den CDs, die mir vorliegen. Nach Take 5 von „Air“ wurden wohl die zwei von „Number One“ eingespielt, dann folgte der einzige und damit Master-Take von „This Nearly Was Mine“ und dann Take 9 von „Air“, mit 17:30 der längste Take der ganzen Candid-Sessions (es folgten im Januar weitere, dazu im nächsten Post).

Die drei Takes von „Air“ – Take 9 (17:30), Take 21 (11:24) und Take 24 bzw. wohl 29 (10:20) – am Stück zu hören bietet reichlich Gelegenheit, den frühen Archie Shepp zu hören, der stellenweise stark nach John Coltrane klingt, sich aber immer wieder frei spielt, den Ton aufrauht, kantige Linien spielt, die an Monk erinnern mögen (mit dem Coltrane allerdings, und das war im Herbst 1960 noch gar nicht so lange her, auch längere Zeit gespielt hat … wäre ja mal interessant, mehr darüber zu hören, welche Auftritte in der ganzen Entwicklung wichtig waren, ob z.B. Shepp damals im Five Spot war und Monk mit seinem mutmasslich besten Saxophonisten live hörte). Aber auch von Taylor und dem Trio hört man so einiges, wobei Neidlinger/Charles hier wieder ziemlich gut funktionieren, auch wenn sie von der Wucht von Shepp/Taylor in den langen Quartettpassagen jeweils am Anfang der Takes von „Air“ schon ziemlich an den Rand gedrängt und so phasenweise zu Statisten werden, die nicht viel mehr als Öl im Getriebe sind (wo aber manchmal etwas Sand ganz schön wäre). Konzise sind Shepps Soli nicht gerade, aber dass man davon einen Take auswählte und auf die LP packte, kann ich schon gut verstehen, denn attraktiv ist das schon – und wird immer dichter und intensiver. Neidlinger zitiert in seinen Liner Notes zu „The World of Cecil Taylor“ einen Freund, der zu „Air“ gesagt habe, das sei „controlled chaos“; aus der Zeit heraus passt das schon, ist aber auch ein deutliches Zeichen dafür, wie rasant die (Jazz-)Avantgarde sich in den unmittelbar folgenden Jahren entwickelt hat – mit Taylor als einer ihrer schärfsten Spitzen. Es wäre interessant gewesen, wenn die Zusammenarbeit sich noch etwas länger hingezogen hätte – man spielte zwar damals in „The Connection“ und die Musik kommt ja auch von dort – aber so eine Bühnengeschichte ist nicht mit einer längeren Konzerttätigkeit zu vergleichen, denke ich, man ist ja schon sehr viel vorgespurter in dem, was man zu tun hat, was man spielen soll).

Den Abschluss macht dann Take 3 von „Port of Call“ – wie der als Take 2 angegebene Master Take sehr konzis und kompakt – und einmal mehr eine tolle Trio-Performance. Mich dünkt, wenn es weitschweifig wird und dabei auch etwas weiter ausgreifen darf, sind Charles und Neidlinger schon hier nicht mehr die idealen Partner … dass Taylor später öfter ohne Bass auftrat, zeigt aber vielleicht ein grundsätzliches Problem: Welcher Bassist kann schon mit dieser geballten Kraft mithalten? Und was soll der Bassist machen neben einem Pianisten, der das Klavier so vollständig spielt? Das mit dem durchgehenden Beat, dem „Stabilisator“ – was mehr oder minder die Rolle ist, die Neidlinger hier ausfüllt – wurde später ja sowieso hinfällig und wird da und dort schon hier fast hemmend, dünkt mich. Alan Silva und Henry Grimes (auf den Blue Note-Alben von 1966 gleich gemeinsam) in den Sechzigern sowie Sirone in den Siebzigern sind die nächsten Bassisten, die bei Taylor auftauchen, doch schon 1962 auf den bahnbrechenden Live-Aufnahmen aus Kopenhagen, tritt Taylor ohne Bass auf. Später gab es noch die erfolgreiche Zusammenarbeit mit William Parker, doch auch da: das Duo mit Tony Oxley, ohne Bass, funktioniert wiederum mindestens so gut wie das Trio (und das sage ich jetzt ohne – oder mit stark geminderter – Abneigung gegen Parker, denn in diesem Trio schätze ich ihn so sehr wie nirgends sonst).

Details zu den Sessions findet man hier (12. und 13. Oktober 1960):
https://www.jazzdisco.org/candid-records/discography-1960/

Weiter morgen mit den 1961er Candid- Sessions …

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