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Anonym
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Ich würde hier sicher kein Argument finden, das dich nachvollziehen lässt, was ich an Tha Carter III finde, aber ich kann es zumindest für die anderen probieren. Als das Album 2008 erschien, war ich gerade 15, schon mit dem Wu-Tang und Nas (die hier ja ebenfalls gut präsentiert sind) vertraut, aber auch immer auf der Suche nach neuem Stuff. Mitte der Noughties war man (eher ich, weil auch da gab es sicher viele gute Alben, ich wusste nur nichts von denen) arm dran, ich war vor allem diese zähen 75-Minuten Brocken a la Eminem oder 50 Cent gewöhnt. Und dann war da aufeinmal Tha Carter III, mit diesem nervigen Typen, der in den U.S.A. grad das dickste Ding war, den ich sonst aber nur von Featurings kannte. Wieder knappe 80 Minuten lang, aber doch so erfrischend anders. Jeder Track ging in eine komplett andere Richtung, jede noch so banale Idee war im Gesamtwerk gut aufgehoben. Ob das der reale Shit war, war mir ziemlich wurst, ich bin kein Hip Hop-Purist und ich will von Ice Cube auch nicht immer dieselben aggressiven Rants hören, auch wenn das natürlich seine Paradedisziplin ist. Wenn man das Album ein Pop-Album oder – sogar noch schlimmer – ein Party-Album nennen will, meinetwegen. Für mich ist street credibility oder wie man es sonst bezeichnen möchte, nicht der einzige Maßstab. Und obwohl Carter seit ca 2010/11 ein armes Würstchen ist, dem praktisch überhaupt nichts mehr gelingen will und für das in der von ihm mitgeschaffenen modernen Hip Hop-Welt kein Platz mehr ist, so finde ich, dass er die Jahre 2005-2009 ein ganz und gar verlässlicher Künstler war, on top of his game.
Wenn man aus Mangel an Alternativen zu Lil‘ Wayne getrieben wird, ist das bitter. Aber Mitte der Noughties war Internet doch schon Standard, es hätte also die Möglichkeit gegeben auf anderen Stoff auszuweichen, ohne einen Bekannten haben zu müssen, der sich auskennt oder einen gut sortierten Plattenladen in der Stadt.
Du benennst hier übrigens eine Unsitte vieler Rap-Alben: Die Überlänge. Nachdem Vinyl als Medium fast nur noch von DJs genutzt wurde, kam wohl irgendwer auf die Idee, man müsse den Leuten „value for money“ bieten und die 80-minütige Spielzeit einer CD ausnutzen. (Es gibt ja heute noch Stimmen, die sich beklagen, wenn eine Veröffentlichung nicht die 40-Minuten-Grenze übersteigt.) So befinden sich auf vielen Rap-Releases der späten 90er und 2000er übermäßig viele Filler. Wenn man dann noch an ein Untalent wie 50 Cent gerät oder den ausgebrannten Eminem, ist klar, dass man dringend etwas anderes braucht. Oder es ganz mit dem Genre lässt.
Zu den HipHop-Puristen: Obwohl schon seit den Neunzigern die weißen Jugendlichen aus den Suburbs die größte Gruppe von zahlungsfähigen Rap-Konsumenten darstellt, bekam ich erst um die Jahrtausendwende das Gefühl, viele Rap-Artists setzten auf Crossover-Synergieeffekte und schielten auch auf ein noch breiteres Mainstreampublikum, zumindest verwässerte der Sound und auch die Texte verloren spürbar an Biss. Wo man früher an die Texte eines Gangsters mit bipolarer Störung wie Scarface gewöhnt war oder die sozialkritischen Tiraden von Ice Cube, ging es nun vordergründig zwar immer noch um die Hood, um Gewalt und Sex und Drogen – aber in einer Form, zu der auch Anna im Club tanzen kann und die im Radio lief.
Aus street credibility mache ich mir auch nichts, je nachdem, wen man fragt, kriegt man eh die widersprüchlichsten Dinge zu hören. Aber dein Sound sollte halt Ecken und Kanten haben, ebenso deine Texte. Gefällige Tanzmusik gibt’s auch abseits von Rap. Brauche ich dort nicht.
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