Antwort auf: Peggy Lee – Multitalent und Chamäleon

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Peggy Lee – World Broadcast Recordings 1955
Audiophile, 2 CD, 2017
 
Zwei CDs, 49 kurze Tracks, aufgenommen in vier Sessions (total vierzehn Stunden) im Februar und August in einem Studio in Hollywood – nicht für ihr damaliges Label Decca Records sondern für World Program Service, ein Unternehmen, dass neue Musik produzierte, die dann an Radio-Stationen verkauft wurde („Transcriptions“ ist eine weitere Bezeichnung für solche Aufnahmen, die man öfter liest, es gibt sie u.a. auch von Nat „King“ Cole oder Duke Ellington, von Peggy Lee gibt es schon aus den Vierzigern welche, als sie noch gemeinsam mit Dave Barbour, ihrem damaligen Ehemann, spielte und Songs schmiedete).

1955 war das Jahr, in dem Lee „Pete Kelly’s Blues“ drehte, eine in den Roaring Twenties angesiedeltes Krimi-Drama, das im Juli herauskam, einen Monat nach der Premiere von Walt Disneys „Lady and the Tramp“, für das Lee vier Stimmen und ein halbes Dutzend Songs beigetragen hatte: „As a singer, she specialized in cool restraint, but that quality was otherwise scarce in the life of Peggy Lee, especially in 1955“ – so öffnet James Gavin seine von mir hier schamlos ausgeschlachteten Liner Notes zur Doppel-CD. 1955 stand Lee wie erwähnt bei Decca unter Vertrag, das Label erwartete einen steten Fluss neuer Aufnahmen, die Lee zwischen ihren Touren durch die Nachtclubs des Landes einspielte – sie sass oft bis zur Morgendämmerung auf dem Bett und schrieb Gedichte und Verse für Songs.

Bei den World-Sessions nutzte die Band das Club-Repertoire, um in der kurzen Zeit möglichst viel Material einzuspielen, man einigte sich auch ein paar head arrangements und los ging es – und doch ist das Material nahezu perfekt. Gene DiNovi, damals ihr Begleiter am Klavier, meinte: „She was a natural musician with perfect ears. She never sang a note out of tune or time.“ Die erwähnte kühle Zurückhaltung ist hier immer wieder zu hören, in den Balladen aber auch eine etwas heisere aber süsse und sehr ausdrucksstarke Stimme, die zum Instrument der Verführung wird – wer kann da widerstehen.

Peggy Lee
People say my voice is thin or small, but I have a lot more voice than I ever use. I start with a small amount of volume, and sometimes I’ll sing softer and softer, and that gives me a long way to go.

Lee stand 1955 in der Mitte von insgesamt vier Ehen, gemäss ihrer Harfenistin Stella Castellucci war sie „one of those people who are in love with love and always searching for that. A lot of her songs came out of unhappiness and melancholy.“ Ihre Rettung war stets, sich in die Arbeit zu stürzen. Die erste Session für World fand am 8. Februar, einen Tag nach nach einem Tag mit zwei (!) Sessions für das Decca-Album „Sea Shells“, statt. Zwei der Musiker waren wieder mit dabei: Castellucci an der Harfe (Lee hatte 1953 beschlossen, eine Harfe in die Band zu holen, aufgrund ihrer Liebe für Ravels Introduction and Allegro für Harfe und Orchester) und Pete Candoli an der Trompete. Am Klavier sass wie erwähnt Gene DiNovi, der unter anderem mit Artie Shaw, Lester Young und Lees ehemaligem Boss Benny Goodman gespielt hatte. Lee habe sich bei der ersten Probe zu DiNovi umgedreht und gesagt: „Gee, you did some nice things with that“ und das hätte ihm „confidence for life“ gegeben, so erinnerte DiNovi sich später.

Vermutlich sind überdies dabei: Gene Pittman an der Gitarre, später Teil der Wrecking Crew, aber von Peggy Lee lanciert – er stand 1955 am Ende seiner drei Jahre mit ihrer Band und zeigt hier seine Jazz-Chops. Als Percussionist ist dann wohl Jack Costanzo an den Bongos dabei (man kennt ihn auch von Nat King Cole und Stan Kenton). Der Rest des Line-Ups ist weniger klar – DiNovi schätzt: Larry Bunker am Schlagzeug, Bob Whitlock oder vielleicht teilweise auch Don Prell am Bass, vermutlich stets Pete Candoli an der Trompete (gesichert ist das wohl nur für die erste der vier Sessions, leider gibt das CD-Booklet keine Auskunft dazu, welche Stücke von welcher Session stammen oder an welchen Daten die drei weiteren Sessions stattfanden, zudem mag noch Percussionist Ramon „Ray“ Rivera mit dabei sein.

Von Lees eigenen Lyrics gibt es leider nur zwei Kostproben, „It’s a Good Day“, in dem Lee einerseits den Neuanfang nach dem Krieg feiert, aber auch ihre gemeinsame Arbeit mit Dave Barbour (er war zugleich mit Lee bei Benny Goodman), „Sans Souci“ ist eine Single von 1952, geschrieben mit ihrem Partner für „Lady and the Tramp“, Sonny Burke – ein Höhepunkt der 49 Tracks, über einen Bolero-Rhythmus singt Lee über eine Sirene, die ein Dorf terrorisiert – Lee klingt mal wie eine schnurrende Katze, dann wie eine Hexe.

Das Material zirkulierte nur kurze Zeit im Radio, Stücke daraus tauchten später in allerlei Compilations auf, doch die vorliegende Doppel-CD aus dem letzten Jahr ist die erste vollständige Veröffentlichung der gesamten Aufnahmen, überspielt von den originalen 16-Inch Radio-Platten … klanglich ist das nicht ganz sauber, aber sehr hörenswert, es gibt mal mehr, mal weniger Hintergrundrauschen, aber die Stimme und die Instrumente sind doch sehr schön eingefangen. Grosse Empfehlung!

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