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Die Sexismus-Debatte … kann nicht sagen, sie in der kurzen Zeit wirklich nachgelesen zu haben, aber das Interview mit Glasper (interessant dort die Aussagen zu Kenny Kirkland aber auch zu Mulgrew Miller und Jason Moran und anderen) und die ausführliche Antwort von Sasha Berliner habe ich gerade gelesen. Eine Reaktion darauf fällt mir in mancher Hinsicht nicht leicht. Dass einiges im Argen ist – und dass sich das nicht nur auf amerikanische Musikschulen bezieht – ist ja leider sowieso klar … ob das dauernde Gerede von den „safe spaces“ usw. die richtige Antwort ist, weiss ich aber nicht. Es gibt denn bei Berliner auch üble Kommentare über die „Realität“ usw., sie ist sich des Aspektes ja auch selbst schon bewusst … was ich sagen will: es sollte selbstverständlich sein, dass Jugendlichen (aber: Wie lange ist man heute Jugendliche_r? Bis 40 mindestens, oder? Leider im Guten wie im Schlechten, ich wäre ja durchaus für mehr Erwachsene Leute, aber das ist wohl auch schon fast eine Zumutung, das von Mitmenschen zu verlangen … und abgesehen davon: was heisst erwachsen sein?) Raum gelassen wird, sich zu entwickeln, zu lehren, Versuche zu starten usw., ohne dass sie ständig in Bedrängnis geraten, ausgenutzt, bedroht, missbraucht werden. Dazu sollte keine „save spaces“ nötig sein, aber die Tatsache, dass solche Debatten überhaupt geführt werden, spricht leider eine ganz andere Sprache. So gesehen ist Berliners Bericht eben doch ziemlich schockierend, weil er halt vor Augen führt, wie es sich für eine junge Musikerin anfühlt, in dieser Welt unterwegs zu sein bzw. den Versuch zu machen, Fuss zu fassen.
Witzig auch: Allen Lowes Kommentar dort … in der Sache hat er ja vermutlich recht. Aber: wie soll man sich denn an seiner Stelle äussern? Die Reaktion kam ja postwendend, ist auch klar. Sollte man auf den Kommentar denn gleich verzichten? Auf ihn einmal, an dieser Stelle verzichten? Sollte es nicht möglich sein, dass ein altgedienter und wirklich mit breitem und tiefem Wissen operierender (weisser, heterosexueller) Mann nicht doch noch einen kleinen Hinweis abgeben darf? Was ist mit der Debattenkultur los, gibt es sie überhaupt noch? In diesem Sinne, das gehört ja auch ins vergangene Jahr, finde ich auch den Umgang mit den Protestbewegungen an Hochschulen schwierig, die Auftritte von missbeliebigen Rednern verhindern wollen … und nein, ich finde nicht, dass man darüber sprechen muss, ob ein mehrfach beschuldigter vermutlicher aber nicht überführter Sexualstraftäter Gouverneur eines US-Staates werden darf oder nicht – man müsste aber darüber reden, weshalb ein solcher es überhaupt so weit bringen kann und was man dagegen unternehmen kann … aber da sind wir wohl wieder beim riesigen Backlash, der mir persönlich auch Angst macht – er findet ja nicht nur in den USA statt.
Aber gut, andere Frage: die Macho-Ästhetik der Jam-Sessions und die Sexualmetaphern („axe“), der Wettkampf („cutting contests“), der Schweiss (die Photos von Alfred Lion – men at work – in der Ästhetik steckt ja bekanntlich die Ethik, nicht nur als Wortspielchen) … der Jazz entstand nunmal – auch wenn es, darüber weiss ich leider auch nicht viel, vielleicht schon in der Swing-Ära Frauenorchester gab – in einer Ära, in der Rollenbilder (die sich ja nicht nur auf Mann vs. Frau beziehen, die sexuelle Aufladung des „Negers“ ist ja auch nochmal so ein Ding, die Ängste und die Neugierde/Sensationsgeilheit, die da aufgebaut wurden usw.) noch viel zementierter waren als heute, wo wir immerhin Debatten darüber führen, auch wenn sich in der Praxis noch viel zu wenig verändert hat. Die Frage ist halt: kann man einer so gewachsenen Musik ihre eigene „Kultur“ (Unkultur) austreiben und sie darüberhinaus bewahren? Kann man gewiss, aber wie tut man das, ohne die zugleich so zentralen Traditionsbezüge zu kappen? Aufs Werk statt auf den Autoren zu fokussieren ist ja z.B. keine wirkliche Lösung … und: wo wir es von den vielen guten Musikerinnen hatte, die derzeit aktiv sind: ist in ihrem Spiel, in ihren Spielanlagen denn ein Gestus zu erkennen, der anders ist, der sich vom Männlichkeitswahn der Jazztradition hörbar, fühlbar abhebt? Die Reaktionen auf meinen BFT lassen ja vermuten: alles in allem nicht – vielleicht da und dort ansatzweise, aber insgesamt nein.
Nächster Punkt: Ist die „klimaxlose“ Musik von Leuten wie Ingrid Laubrock oder Mary Halvorson eine Antwort? Findet sich da ein Modell, das Musik anders strukturiert als es die grosse Erzählung der westlichen Musik macht? Und schon klar, auch dafür kann man Vorbilder finden, was weiss ich, Erik Satie, die Minimal Music (wobei die ja irgendwie auch gerade wieder nicht?) … oder ist das alles eh völliger Quatsch, weil Storytelling nun mal hilfreich ist dabei, einen Punkt rüberzubringen? Müsste man entsprechend, um sich der männlich-dominierten westlichen Kultur, dem bösen Blick zu entziehen, darauf nicht ganz verzichten?
Und wie ist das überhaupt mit der Sexualität bzw. – wichtiger Unterschied – viel eher der Erotik, die in der Musik doch eine ganz zentrale Komponente … nicht darstellt, blöde Formulierung: ist, in ihr steckt.
Auf der Website von NPR hat Michelle Mercer eine gute Zusammenfassung der „Saga of Musical Clitoris“ geschrieben, die ich auch gerade noch las. Sie schreibt da auch: „But I would like to thank Glasper for bringing up eroticism in jazz. Jazz fans too often cede bodily pleasure to more popular music, when jazz can also arouse the mind, body and soul.“ – Danach dreht sie aber gleich wieder ab und kritisiert – völlig zu Recht natürlich – die bekloppten Statements von Glasper im Interwiew … aber der Punkt würde mich dennoch interessieren, weil die laufenden Debatten ja manchmal die Frage aufwerfen, ob man heute an so etwas überhaupt noch ohne schlechtes Gewissen denken darf. Und wie ist das denn eigentlich: das Konzert – auch – als kollektive erotische Erfahrung, die man mit hunderten anderen teilt, mal mit Anzugträgern im gesitteten Saal, dann schwitzend in der gedrängten Menge eines Clubs … man ist da ja letztlich immer mit sich allein, wenigstens was die intellektuelle Ebene betrifft (ohne die Erotik ja eh nicht funktioniert), vielleicht muss man auch deshalb gar nicht mehr darüber sagen.
Das sind alles unsortierte Gedanken, pardon – aber jedenfalls keine, die mir bloss durch die Lektüre von Glasper bzw. Berliner durch den Kopf gehen.
Als Nachtrag zum Post oben: Ich möchte nur noch rasch richtigstellen, dass ich der Hip Hop-Welt die umfassende Selbstreflexivität gewiss nicht zugestehen will … viele machen da vermutlich auch mit, ohne zu hinterfragen, sich wirklich für gesellschaftliche Zusammenhänge zu interessieren – aber als historische Entwicklung betrachtet läuft das nichtsdestotrotz mit, denke ich. Kunst nimmt ja immer Bezug auf gesellschaftliche Zustände, entsteht immer vor dem Hintergrund „ihrer Zeit“ oder sowas, das sind Plattitüden klar, da muss man im Einzelfall genauer hinschauen, den doppelten Boden erstmal öffnen, so er denn da ist usw. Glasper kann ich zuwenig einschätzen, er interessiert mich nicht wirklich, Mercer erwähnt und verlinkt ja ein paar weitere Sachen (notorischer Provokateur usw.) – vielleicht hat er den doppelten Boden, aber die male-bonding-Statements, die er mit Iverson da abzieht sind schon von der übelsten Sorte, auch wenn die Ebene – da sind wir teils durchaus bei der Erotik, teils aber auch bei der rohen Sexualität … ist diese denn nun „animalisch“? auch wieder nur eine nette Abgrenzung, die es uns leichter macht, so zu tun als stünden wir darüber – des „deshalb machen wir ja Musik“ gewiss nicht völlig von der Hand zu weisen ist bzw. in vielen Fällen wohl *auch* eine Rolle spielt … und man das auch nicht einfach abstreiten/totschweigen/unter den Teppich kehren sollte, bloss weil es kein genehmes Gesprächsthema ist.
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba