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Da Off-Topic, gerne auch zum Verschieben: Ich führe aus, warum ich so fassungslos bin.
Geschlechterrollen, Vorstellungen von Männlichkeit, Lebensstile und Lebensentwürfe, Werthaltungen, Verhaltensweisen, Posen, körpersprachliche und modische Selbstinszenierungen – über all das verständigen sich Jugendliche heute in der Beschäftigung mit der Fußball-Popkultur. Wer bist du? Wofür stehst du? Was sind deine ethischen Vorstellungen? Welche Schuhe trägst du? Wie kleidest, wie rasierst du dich, gegen wen grenzt du dich ab, wo fühlst du dich zugehörig, welchen Trendsettern folgst du, welchen verweigerst du dich? All diese Fragen diskutieren Jugendliche heute entlang von Fußball-Popfragen. Es geht dabei ebenso wenig nur um Fußball, wie es bei den Beatles oder Stones nur um Musik ging.
Die Frage „Ronaldo oder Messi“ ist doch tatsächlich eine zentrale Bekenntnis-, Lagerbildungs- und Identifikationsfrage der heutigen Jugendkultur wie früher Beatles vs. Stones. Ums mal in Klischees auszudrücken (natürlich ist es in Wirklichkeit komplizierter, aber Popkultur läuft doch immer über Mythenbildung): Messi, der Normale, widrigen Umständen entronnen dank Fleiß und Genie, bescheiden geblieben, mannschaftsdienlich – Ronaldo, der Außerirdische, überdimensional in jeder Hinsicht, entgrenzt in seiner Eitelkeit, in seiner maßlosen Selbstgestaltungswucht, in irrer Selbstoptimierung zu einem Monument des Körperkults ziseliert, die ins Superheldenhaft-Mythische stilisierte Ich-AG schlechthin.
Und diese Frage wird nicht national diskutiert, sondern global, in Südafrika wie in Australien wie in Deutschland. Nationale Identifikationen spielen da im Gegensatz zu früher sowieso nur noch eine untergeordnete Rolle, es geht eben auch bei Jugendlichen in Deutschland nicht darum, ob deutsche Fußballer besser sind als ausländische, es geht eben auch hier vor allem um Messi versus Ronaldo (nebst nachgelagerten Fragen wie Özil versus De Bruyne etc pp).
Und bei all dem, behaupte ich mal, kann heute so ziemlich jeder Mensch zwischen 10 und 30 Jahren mitdiskutieren, auch die meisten Mädchen, rund um die Welt. Natürlich gibt es Abstufungen: Randständige, Mitläufer, Initiierte, Fanatische. Aber es ist doch völlig eindeutig, dass kein heute aktiver Musiker Anziehungs- und Abstoßungsreaktionen in so großer Zahl, und von solcher Intensität auslösen kann, so kontroverse Debatten unter so vielen jungen Leuten entzünden kann wie die großen Fußballer. Und hier zerfällt auch überhaupt gar nichts in Subgenres und Subsubkulturen, es gibt keine Nischen, Parallelwelten, Filterblasen, in denen sich verschiedene Leute über Verschiedenes austauschen. Das Spielfeld ist hier für alle gleich, so, wie es damals bei Beatles und Stones war.
Globale Megastars mit kultureller Strahlkraft und Potenzial zu Identifikation und Kontroverse: Die finden Jugendliche heute im Fußball. Und wer popkulturell relevant und auf der Höhe der Zeit sein will, muss da dabei und im Bilde sein – weshalb es ganz und gar kein Zufall ist, dass Rihanna 2014 mit der deutschen Weltmeistermannschaft feierte. „Die Michael Jacksons unserer Tage heißen Neymar, Ronaldo und Messi“? Selbstverständlich. Vielleicht müsste man sogar sagen: Das popkulturelle Leitmedium des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr die Musik, sondern der Sport.
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