Antwort auf: Ich höre gerade … klassische Musik!

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Hier ist inzwischen die Einspielung von Gielen der 4. Symphonie von Mahler und so möchte ich kurz berichten.

Die Erwartung besonders für den dritten Satz war groß, sehr groß – irgendwo, vermutlich im Gesprächeband mit Fiebig zu den Mahlersymphonien, vielleicht auch in den autobiografischen Aufzeichnungen, sprach Gielen davon, dass er bei diesem Satz sich nicht zurückhalten könne, da gelinge es nicht, die, seine „Emotionalität“ zu zügeln (worum er sich sonst ständig bemühe – @soulpope: „gläsern“). Oder so ähnlich, ist auch egal, es geht um den Gestus. Und so ist das dann auch. Die Streicherwelle im Anfang dort ist tatsächlich eine, man weiß bei Wellen ja nie, wo sie anfangen und enden, sie nehmen sich ständig im Vorwärtsgehen zurück und umgekehrt. Und das das Orchester hier für mich sehr verständlich gut, auch im ersten Satz. Der Aus- und Durchbruch dann ist mir aber fast zu harmlos, ich möchte wohl bei Paukengetrommel ständig irrsinnige Synkopen, so wie das Gielen dann auch im ersten Satz der Sechsten von Mahler gemacht/gefordert hat.

Die 4. ist eigenartig. Mit der Stimme von Christine Whittlesey im letzten Satz habe ich zuerst sehr gefremdelt. Jetzt, nach drittem oder viertem Hören, halte ich sie neben Banse für die beste Stimme für dieses etwas verblödete und zugleich entblödete Wunderhornlied. Es ist eine seltsame Künstlichkeit, die aber Whittlesey völlig natürlich zu sein scheint, in dieser Stimme.

Ich habe in den letzten Tagen noch andere Einspielungen der 4. aus dem Kellerarchiv geholt. Barbirolli hat ohne Überraschung den großen Streicherton im dritten Satz und wird im Durchbruch sehr nervös, aber nicht so nervös wie Klemperer, eine Rundfunkaufnahme vom WDR, Februar 1954, die ich irgendwann mal vom Radio mitgeschnitten habe, mit Elfride Trötschel. Aber auch mit ihrem Gesang komme ich nicht zurecht. Die Stimmen hören sich in diesem Satz ständig so an, als würden sie Bänder um die Zunge gelegt haben, wie zusammengeschnürt – ich wünschte mir da mal Christine Schäfer, die das „natürlicher“ zu können scheint, denn völlig verdreht ist dieses „himmlische Leben“ allemal. Das hätte Gielen ja übrigens machen können, er schätzt sie sehr. Nu ja, Terminkalender oder was weiß ich.

Im Vergleich zu Brittens Einspielung von 1961 ist Gielen sehr nahebei, aber Britten bleibt im Drängen hinter ihm zurück. Bei Mahler möchte ich, höre ich ein ständiges Nach-vorne-Gehen – psychologisch: deshalb sind die Werke so lang, natürlich in den Gattungsgrenzen. – George Szell ist fast identisch mit Gielen in der Eröffnung des dritten Satzes. Das Cleveland Orchestra … wie bei Boulez. Es ist wirklich ein einfaches, zufrieden getragenes Glück. Warum nicht, wenigstens für einige Zeit?

Denn die Zeit ist bemessen. Und da komme ich kurz noch zu den Glöckchen in der Eröffnung des ersten Satzes. Mahler verdächtige ich ständig der lauteren Ironie, die immer noch das andere mitmeint. Das sollen also wirklich Glöckchen sein, an denen Babys herumklappern und dann auch zugleich die Totenglöckchen. Da ist Gielen sofort und ernst, und auch Boulez. Szell nimmt das wie unbesehen und selbstverständlich mit. Szell spielt oft die Dinge so, als seien sie selbstverständlich. Gielen ist da sicher anderer Auffassung, auch wenn ihnen dann manchmal dasselbe einfällt.

Daniel Harding, ihn verstehe ich nicht so recht, da höre ich nur langen Atem aus beruflichen Gründen ohne jeden Willen zur Synkope. Und Dorothea Röschmann bringt mir das Lied am Ende auch nicht näher, es ist wirklich vertrackt komponiert: diese Schlänker bei den „wir genießen die himmlischen Freuden“, da kommt man kaum zum Atmen, wenn man keine Spezialkenntnisse im Unter-/Überirdischen hat.

Die 4. insgesamt als seltsamen Schlusssatz der 3. zu verstehen, finde ich reizend. Denn das geht nicht, wenn der komplette Schlusssatz noch einmal sich in der Sonatenhauptsatzform aufbaut. Andererseits kann man nie alles zugleich sagen. Dann folgen die Bilderstürme, denen sich Mahler versagt hat. Was da besser ist, weiß ich nicht. Aber die Zusammenfassung ist sicher die 9. Sinfonie. Da ist das ironische Zugleichsprechen des Verschiedenen (Hölderlin nannte das das In-sich-selbst-Unterschiedene, eine einfach Sache eigentlich, schlichte Realität) so sehr gegenwärtig.

Ich höre jetzt die Beigabe-CD zum Gielen-Band, der heute doch noch gekommen ist:

Zimmermann, Sinfonie in einem Satz für großes Orchester

Gielen, Rückblick. Serenade für drei Violoncelli

Schönberg, Kol Nidre

Schubert, Rosamunde-Orchesterstücke

Webern, Sechs Stücke für Orchester op. 6

 

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