Startseite › Foren › Über Bands, Solokünstler und Genres › Eine Frage des Stils › Über die Klasse der Klassik › La Pellegrina – Die Entstehung der Oper? Musik am Hof der Medici, 1589-1608
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Mich treibt noch immer L’Orfeo von Claudio Monteverdi um – steht heute Abend ja in Luzern mit John Eliot Gardiner auf dem Programm. Netterweise übrigens ohne Pause, was ja bei etwas weniger als zwei Stunden kein Problem ist. Pausen sollte es überhaupt nur dann geben, wenn sie für die Musiker oder die Bühne unabdingbar sind, oder natürlich bei sehr langen Aufführungen.
Nunja … „L’Orfeo“ also, die „favola in musica“, die 1607 in Mantua aufgeführt wurde – man weiss übrigens nicht, ob mit dem tragischen und deshalb für die damalige Zeit unangebrachten Ende oder mit dem „lieto fine“ der überlieferten Partitur. Die Garrido-Aufnahme war jedenfalls kein Fehlkauf (ich hatte schon seine „Selva“, deshalb beschloss ich, die neue Box nicht auch noch zu kaufen, mir stattdessen den Orfeo einzeln zu kaufen).
Das Erscheinen von Pygmalion/Raphaël Pichons neuem Doppel-Album „Stravaganza d’amore: The Birth of Opera at the Medici Court“ (es gibt davon eine tolle hochformatige Buch-Ausgabe) und die Lektüre dieser Rezension führte dazu, dass ich die als La Pellegrina bekannten „Intermedii“ von 1589, die Zwischenspiele, die von Luca Marenzio, Cristofano Malvezzi, Giulio Caccini, Jacopop Peri, Antonio Archilei, Emilio de‘ Cavalieri und Giovanni di Bardi für die Hochzeit von Ferdinando de‘ Medici mit Christine de Lorraine komponiert wurden, in den Einspielungen von Skip Sempé und Paul Van Nevel kaufte.
Es handelt sich dabei wohl um den letzten Schritt von der Entstehung der Oper, die am Ende des sechzehnten Jahrhunderts ihre erste Ausformung fand. Peris „Dafne“ (möglicherweise schon von 1594, aufgeführt 1598 – verschollen), seine „Euridice“ (1600), die „Euridice“ von Caccini (1602 – davon gibt es eine feine Aufnahme mit Rinaldo Alessandrini auf naïve – kaufen, solange man die noch kriegt, le navire naïve naufraga), Monteverdis „L’Orfeo“ (1607) und Marco de Gaglianos „Dafne“ (1608) sind die ersten überlieferten Beispiele des Genres. Ob es von ihnen allen Aufnahmen gibt, weiss ich nicht … die Auflistung entnehme ich Sempés ausführlichem Kommentar im Booklet zu seiner Einspielung (es gibt da eine zweite CD mit einem Interview, das sowohl in Englisch wie in Französisch vorhanden ist, dazu komme ich heute aber nicht).
Eine ausführlichere Rezension der Sempé-Aufnahme (mit typisch britischer Vergötterung der eigenen Heroen, nämlicher der Parrott-Aufnahme, s.u.) findet man hier:
http://www.musicweb-international.com/classrev/2015/Mar/Pellegrina_Intermedii_PA0004.htmJetzt läuft die zweite Einspielung mit Paul Van Nevel und seinem exquisiten Huelgas Ensemble. Das Prädikat wähle ich nicht zufällig, denn in diesem Fall, nach der schwungvollen Live-Aufnahme Sempés, wirkt Van Nevel in seinen gemächlichen Tempi, mit dem perfekten Chorgesang, dem halligen, etwas distanzierten Kirchenklang (aufgenommen in der Abbaye-aux-Dames in Saintes, Juli 1997) eher sakral als dramatisch oder theatralisch – eine rechte Umstellung nach der lebendigen Darbietung Sempé (aufgenommen im Konzert im Palais des Beaux Arts in Brüssel, Mai 2007). Ein starker Kontrast, der ein neues Herantasten bedingt. Den Verdacht, dass der Gesang des Huelgas Ensembles und der Wolf Erichson-Sound hier doch etwas zu glatt, zu perfekt sind, werde ich aber so schnell nicht los. Die Aufnahme dauert 35 Minuten länger als jene von Sempé und auch das wird rasch spürbar. Das ist aber auch deshalb sehr schade, weil Van Nevel ein paar Ergänzungen beigibt und auch mit Theater-Effekten (Donnerbleche etwa) nicht spart, es gab damals natürlich auch eine sehr aufwendige Theatermaschinerie – das steht dann leider im Widerspruch zur sehr glatten Produktion. Van Nevels Einspielung dauert auch deshalb so lange, weil gewisse Abschnitte wiederholt werden, sei es dass sie erst als Vorspiel und danach erneut erklingen, sei es dass Arien auch in instrumentaler Fassung erklingen. An einer Stelle wurde auch ein verlorenes Stück so rekonstruiert, dass ein Sprecher den überlieferten Text rezitiert. Anderswo steht in Malvezzis Ausgabe (s.u.) „qui manca una Sinfonia“ („Hier fehlt eine Sinfonie“) – vielleicht, weil er die damals aufgeführte Musik nicht für gut genug hielt (so Van Nevels Mutmassung in seinen Liner Notes).
Die Fassung Van Nevels verwendet an der Stelle die „Battaglia Taliana“ von Matthias Werrecore. Bei Malvezzi fehlt auch eine Arie am Anfang des vierten Intermediums – die Giulio Caccini für seine Frau geschrieben hatte, und die Malvezzi („Qui manca un’aria“) wohl aus Missgunst strich – die Arie ist aber erhalten geblieben (und auch in der Sempé-Fassung drin, ein Pendant zum instrumentalen Stück von Werrecore findet man dort aber nicht).
Zu den Unterschieden in der musikalischen Auffassung ist wohl eine Bemerkung Van Nevels aufschlussreich: „Die Verführung ist gross, diese Komposition ideell und stilistisch als Werk des Barock zu betrachten. Denn ihre theatralische Qualität, ihre üppige Instrumentatin und der in etwa fünf Arien anzutreffende neue monodische Stil legen vordergründig eine Interpretation nahe, die vor allem aus der äusseren Grossartigkeit des Werkes schöpft und Kontraste und emotionalen Gehalt überzeichnen.“ Ob Van Nevel diesen Vorwurf an die Adresse von Sempé machen würde, weiss ich natürlich nicht, aber es erklärt vielleicht das, was ich als kleine Schwäche wahrnehme (das Gefühl wurde ich bis zum Ende nicht ganz los, egal wie schön die Aufnahme alles in allem ist).
Damit sind wir aber aber auch beim Kern dessen, was diese Musik so wichtig macht: sie steht am Scheideweg zwischen dem alten, polyphonen Madrigalstil (verkörpert besonders von Marenzio) und dem neuen Gesangsstil, der sich der Monodie zuwendet und in der Arie aber auch in den neuartigen Ausgestaltungen des Rezitativs neue Ausdrucksformen fanden. Auch die erwähnten Wiederholungen bei Van Nevel fügen sich übrigens in die zeitliche bzw. stilistische Zuordnung ein, die er vornimmt, gemäss Van Nevel „verdeutlichen die Wiederholungen den Abstand des Werkes zum Barockstil, der insgesamt stärker auf Kontinuität abzielt und in dem es vor allem auf den dramatischen Gehalt und die Entwicklung einer Handlung ankommt. Hier zeigt sich unverkennbar, dass La Pellegrina trotz aller Neuerungen und trotz der innovativen Ariengestaltung im wesentlichen eine Renaissancekomposition ist, die durch Wiederholungen und Varietas eine Struktur mit beständig wechselnden Vokal- und Instrumentalbesetzungen schafft“ (aus den Liner Notes).
Auch das Schlusswort zur Einordnung des Werkes soll noch einmal Van Nevel gehören, der schreibt, das Werk schwebe „beständig zwischen einer tendenziell ‚bodenständigen‘, jedoch überaus gehaltvollen Madrigalkultur und einer solistischen Präsenz von kühnem, abenteuerlichen Stil.“
Aufgeführt wurden die als „La Pellegrina“ bekannten „Intermedii“ als Zwischenspiele (inkl. Vor- und Nachspiel, deshalb gibt es ihrer sechs) zum gleichnamigen Theaterstück von Girolamo Bargagli. Das Stück scheint aber so mittelmässig gewesen zu sein, dass man unter „La Pellegrina“ bald schon nur noch die sechs mythologischen Zwischenspiele verstand. Die musikalische Produktion scheute keine Mühen, Jacopo Peri sang eine der schwierigsten Arien gleich selbst (und begleitete sich dabei auf dem Chitarrone), die berühmte Sopranistin Vittoria Archilei teilte sich die Sopranpartien mit Caccinis Frau, Dona Lucia, unter den Musikern fand sich auch Alessandro Striggio ein.
Die Wiki-Seite zu den „Intermedii“ ist leider nur italienisch verfügbar, es gibt da aber auch ein paar Entwürfe für das Bühnenbild, die die Opulenz erahnen lassen, mit der der möglicherweise durch Brudermord an die Macht gelangte Ferdinando de‘ Medici seine Hochzeit inszenierte. Die vorhandenen Zeugnisse (Malvezzi bestimmte 1591, was herausgegeben wurde) sind wohl auch deshalb so üppig, weil es darum ging, die Reichhaltigkeit des Orchesters zu bezeugen, an das „grossartige Staatsereignis“ zu erinnern, „das die Aufführung 1589 dem Hof der Medici und überhaupt ganz Europa bescherte“ (Sempé, aus den Liner Notes).
https://it.wikipedia.org/wiki/Intermedi_della_PellegrinaEine frühere Gesamteinspielung von „La Pellegrina“ entstand ein Jahrzehnt vor jener Van Nevels mit dem Taverner Consort unter Andrew Parrott (EMI Reflexe). Auf EMI gibt es zudem eine noch ältere Aufnahme unter Hans-Martin Linde (Electrola Collection). Die Parrott-Aufnahme muss wohl auch noch her, da singen u.a. Emmy Kirkby und Emily Van Evera mit. Linde ist inzwischen wieder vergriffen, wie es scheint.
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Schlagwörter: Barock, Florenz, Klassik, La Pellegrina, Oper, Renaissance
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