Antwort auf: Die wunderbare Welt der Oper

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speed-turtle

Registriert seit: 23.03.2011

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Gerade zurück aus Bayreuth, wo ich „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ in der kontroversen, aber wie ich finde großartigen Regie von Frank Castorf erleben durfte. Ein Jammer, dass die betuchteren Gäste, die mit dieser Art von „linkslastigem Quatsch“ nichts zu tun haben wollen und lieber die Augen schließen für unbehelligten Musikgenuss, die besten Plätze okkupieren, während unsereiner, der gerade wegen der Inszenierung anreist, froh sein kann, noch einen Galeriesitz mit eingeschränkter Sicht ergattert zu haben. Immerhin: Während der Großteil des Publikums sich nach nunmehr 5 Jahren mit der zuweilen skurril illustrierten Lesart abgefunden zu haben scheint, gibt es auch immer noch Einzelne, die ihrer Empörung freien Lauf lassen und am Ende nicht nur lauthals buhen, sondern auch wütend „Schande!!!“ und „Drecksinzenierung!!!“ von der Empore brüllen. Getroffene Hunde – feine Sache. Immer noch besser als die demonstrative Gleichgültigkeit, mit der in den Pausengesprächen beim Schampus Sänger- und Orchesterleistungen gewürdigt und der Rest als leider hinzunehmende Misslichkeit abgetan werden.
Dabei wirken all die kleinen verstörenden und einstmals heiß diskutierten Details, vom „Drachenkampf“ mit der Kalaschnikow (Warnhinweise auf den lauten, aber per Gutachten für gesundheitlich unbedenklich befundenen Bühneneffekt hängen im ganzen Haus) über den Blowjob auf dem nachgebauten Berliner Alexanderplatz bis hin zu der dort am Ende auftauchenden siebenköpfigen Krokodilfamilie zwar angemessen abgedreht, aber im Gesamtzusammenhang viel weniger willkürlich als die selektive Auflistung vermuten lässt. Vielmehr habe ich den wahrscheinlich kurzweiligsten und zuweilen erhellendsten Wagner meines Lebens gesehen – und gehört.
In seinem unkonventionellen Rollenverständnis, seiner „totalitären“ Theatralik und dramatischen Intensität, der überwältigungsästhetischen Grandezza der monumentalen Bühnenbildkonstruktionen und nicht zuletzt in der radikalen Kapitalismuskritik erweist sich Castorf als näher am Komponisten und seinen Intentionen, in diesem Sinne „werktreuer“ als die Aufführungstradition es bisher zu erlauben schien. Von rühmlichen Ausnahmen wie Konwitschny mal abgesehen und allen historischen Verdiensten eines Chereau auf dem Weg dorthin zum Trotz.
Siegfried als isoliert aufgewachsener und entsprechend „unzivilisierter“, sozial gestörter und bindungsunfähiger Psychopath, Gunter und Gutrune mal nicht auf satte, intrigant-oberflächliche Wohlstandskinder auf der Suche nach dem nächsten Kick reduziert, sondern in ihrer komplexen menschlichen Tragik ernst genommen und dadurch plötzlich auch echte Anteilnahme weckend – das sind schon relativ ungewohnte Akzente, die auf sensible Vertiefung in den Text hindeuten und das Vorurteil widerlegen, es nur mit einer rotzigen Provokation zu tun zu haben.
Angesichts des überbordenden Bühnengeschehens mit spektakulären Lichteffekten, Drehbühnenfahrten und Parallelhandlungen, die via Handkameras auf wechselnde Projektionsflächen übertragen werden, hat Pult-Legende Marek Janowski im unsichtbaren Orchestergraben die undankbare Aufgabe, auch der musikalischen Seite zur gebührenden Aufmerksamkeit zu verhelfen. Er tut das mit unbeirrbarer Konsequenz und konzeptioneller Kompromisslosigkeit erfrischend unpathetisch –  ein Glücksfall für die Gesamtwirkung. Die im Spiel-Eifer gerne ins allzu frei Deklamatorische driftenden Sänger werden zuverlässig im Zaum gehalten. Wobei das sängerische Niveau dieser Besetzung im Vergleich z.B. mit der Vorgängerproduktion unter Thielemann wirklich kaum zu wünschen übrig lässt, da ist man schon auf dem richtigen Pfad zurück zum selbst gesetzten Anspruch der Festspiele, standardmäßig die Weltspitze des Wagnergesangs zu versammeln.
Ausgerechnet im Jahr des gründlich vergeigten Opernregie-Debüts von Wim Wenders mit Bizets „Perlenfischern“ in Berlin geht nun also zu Ende, was 2013 als „Notlösung“ wegen der Wenders-Absage seinen Anfang nahm. Lediglich „Die Walküre“ wird nächstes Jahr nochmal separat gegeben – von Placido Domingo dirigiert. Ansonsten bleibt nur die Hoffnung, dass die 2016 im Pay-TV gezeigte Aufzeichnung irgendwann noch den Weg auf einen offiziellen Bildtonträger findet, und natürlich Castorfs Ankündigung, sich künftig als Ex-Intendant wieder mehr der Oper widmen zu wollen. Wenn das nur halb so kraft- und phantasievoll, maßlos, provokant, kindlich verspielt und inspirierend wird wie dieser „Ring“, darf man (bei aller anhaltenden Trauer über die verlorene Volksbühne) getrost schon mal vorfreudig begeistert ausrufen: „Zu neuen Taten, teurer Helde!“ :good:

zuletzt geändert von speed-turtle

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Musik ist nicht was sie ist, sondern was sie den Menschen bedeutet. (Simon Rattle)