Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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La Antena
(Regie: Esteban Sapir – Argentinien, 2007)

Die Stadt ohne Stimmen siecht schon seit 20 Jahren in Lethargie dahin. Eine Mediendiktatur hat die Bewohner zu stummen Konsumenten gemacht. Es fehlen ihnen die Stimmen, die Worte sind jedoch geblieben. Doch Señor T.V., ein skrupelloser Machtmensch, will mit einem Störsignal aus einer geheimen Maschine auch die Worte der Bewohner rauben, um so ein Volk aus willenlosen Verbrauchern zu schaffen, die seine Macht nicht mehr gefährden können. Dazu benötigt er die mysteriöse Sängerin La Voz, die als einzige noch eine Stimme besitzt. Ein Fernsehtechniker durchschaut jedoch Señor T.V.s Plan. Seine Tochter Ana kam durch einen Zufall auf das Geheimnis von La Voz, die ihren blinden Sohn vor der Außenwelt versteckt hält, der ebenfalls eine Stimme besitzt. Mit seiner Hilfe könnte in einer alten Antennenstation in den Bergen der diabolische Plan des Medienmoguls noch vereitelt werden. Doch als Señor T.V. durch den listigen Dr. Y auf die drohende Gefahr aufmerksam gemacht wird, beginnt eine mörderische Hetzjagd durch die surreale Welt der Stadt ohne Stimmen…

Der Siegeszug des Tonfilms erstreckte sich in kürzester Zeit über alle Sterne und Planeten innerhalb des bekannten Spielfilmuniversums und ließ nur wenige obskure Galaxien aus, die heute ausschließlich von Kurz- und Experimentalfilmern aufgesucht werden, meist mit limitiertem Budget und ohne Beteiligung eines größeren Publikums. „The Artist“ gewann im Jahre 2012 den Oscar, weil die Wahrscheinlichkeit für einen Feature-Film ohne gesprochene Dialoge lächerlich gering war, so lächerlich, dass allein das Vorhandensein eines solchen Academy-Award-Anwärters genügte, um ihn letztendlich auch auszuzeichnen.
Im Falle von „La Antena“, geschrieben und inszeniert von Esteban Sapir, nötigt schon die Geschichte (eine etwas plumpe politische Parabel, um eine der mündlichen Sprache bestohlenen Bevölkerung, deren endgültige Niederlage in der Konfiszierung der geschriebenen Wörter durch eine Clique faschistoider Herrscher liegt) zu einer Erzählform, welche die Protagonisten mundtot hinterlässt. Warum also nicht auf die Ästhetik längst vergangener Zeiten zurückgreifen und einen Stummfilm drehen? Das meint nicht nur die Abwesenheit von (vernehmbaren) Dialogen und Soundeffekten, sondern auch konkret einen Rückgriff auf die Bilder der 1920er Jahre, vor allem die des Deutschen Expressionismus. Neben diesem Haupteinfluss gibt Esteban Sapir durch offensichtliche filmische Zitate zu verstehen, dass Fritz Langs Klassiker „Metropolis“, Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ und „Die Reise zum Mond“ für die visuelle und inhaltliche Seite von „La Antena“ Pate standen.
Von Anfang an schöpft der Zuschauer seine Freude aus dem Detailreichtum der Darstellungen, die den Stummfilm nicht nur emulieren, sondern sich kopfüber in dessen Techniken stürzen und die Atmosphäre von „La Antena“ entwickeln. Vermutlich hilft hier auch das Wissen um die geschichtlichen Vorgänge, die dem „goldenen Zeitalter“ folgten, denn über den Visionen des Stummfilms hängen (vor allem aus heutiger Sicht) der Niedergang der Weimarer Republik und der Mussolini-Hitler-Franco-Faschismus, der den größten Teil Europas Kopf und Rückgrat gekostet hat.
Neben den Filmtechniken erschafft man auch die Technik innerhalb der Geschichte aus den Möglichkeiten der 20er und 30er Jahre, dadurch fällt es schwer, „La Antena“ als Warnung vor kommendem Unheil anzusehen, weil diese Welt schon „passiert“ ist. Mit anderen Vorzeichen, zu anderen Bedingungen, aber in all ihren ekelhaften Auswüchsen. Vielleicht ist das besser so, denn wie (fast) alle Dystopien, die ihre Lehren aus dem Faschismus ziehen (wollen), macht auch „La Antena“ den Fehler, die Übel einer kleinen Gruppe von Psychopathen zuzuschreiben, die das Volk gegen seinen Willen unterdrückt und ausbeutet. Als wären plötzlich ein paar Außerirdische in Rom oder Berlin gelandet und hätten die Staatsgeschäfte übernommen – ein Joch für die Bevölkerung, die zu diesen Widerlingen in keinem Verhältnis steht. Noch dazu erkennt man Sapirs größenwahnsinnige Herrscher an ihren körperlichen Gebrechen.
Solche Vereinfachungen stoßen mir sauer auf, gerade die Zeichnung eines „guten“ Volkes, das nur in die falschen Hände geraten ist und letztendlich durch die wiedervereinte Kleinfamilie errettet wird. Ich würde nicht soweit gehen, die transportierte Botschaft „gefährlich“ zu nennen, mir scheint sie nur äußerst kurzsichtig, wurzelt doch die Gewalt des Staates in der stumpfen Zusammenrottung der Individuen zu einem „Volkskörper“, der – geistig völlig vernichtet und seelisch auf den Hund gekommen – eine Massenidentität zu kreieren versucht, in die sich jeder zu fügen hat, wenn er nicht passend gemacht werden will. Die Kompromittierung jedes politischen Systems liegt auf der Hand, wenn man die Dinge von der breiten Masse her betrachtet: Egal, ob Kommunismus oder die Demokratie des freien Marktes, der Stumpfsinn und die Gewalt, der Hass und die Ausgrenzungen müssen stets Oberhand gewinnen, wo sich ein Mainstream entwickelt. (Noch dazu in Bevölkerungen, die, durch das Christentum verdorben, eine dichotomische Weltsicht gewohnt sind und ausschließlich in Kategorien wie „Gut und Böse“, „Wir gegen die“ und „Schuld vs. Unschuld“ existieren.)
Dies ist ein kleiner Schnitzer, der die fabelhaft konstruierte Schwarzweißwelt von „La Antena“ kaum tangiert und fast völlig hinter dem effektiven Soundtrack verschwindet, der in ausladenden Gesten und kleinen Preziosen die schwermütige Stimmung durch Spannungsmusiken und instrumental nachempfundene Geräusche und Toneffekte auflockert. Zusätzlich verschafft eine kleine „Neuerung“ weiteren Reiz: Die Dialoge werden nicht auf Schrifttafeln zwischen die Szenen geblendet, sondern in variablen Lettern über die Aufnahmen gelegt; Sapirs Figuren können sogar mit ihnen interagieren. (Zehn Jahre nach Erscheinen des Films, der auf 16mm gedreht wurde, amüsiert natürlich auch die haarige Koinzidenz zwischen dem „Führer“ der Mediendiktatur und Donald Trump – respektive Recep Tayyip Erdoğan.)
Für die Menschen in „La Antena“ ist es von größter Bedeutung, die gesprochene Sprache zurückzugewinnen, eine Stimme zu haben. Deshalb sind die wenigen tatsächlich ausgesprochenen Sätze behutsam eingesetzt und gipfeln schließlich in einem Ur-Wort, das den Beginn der Sprachfähigkeit verkündet – und den Gang der Welt nach Vernichtung der Wörter und Begriffe in den Zustand eines weißen Blatt Papiers zurücksetzt: „Mama“.
Obwohl „La Antena“ kaum etwas neu erfindet und sich fast ausschließlich bei alten Techniken bedient, überstrahlt dieser argentinische Film den Großteil seiner Konkurrenten um die Publikumsgunst, allein weil er sich des abscheulichen Trends widersetzt, filmische und schauspielerische Leistungen auf „Subtiles“ und „Nuancen“ zu reduzieren. Er entwickelt seine Ideen aus Bildern, übersetzt diese auch gerne mal in große Gesten, treibt auf diese Weise ebenfalls die Geschichte an und rettet uns vor der Dialogflut, die sonst alles zerlabern muss, was weniger begabte Regisseure nicht ins Optische übersetzen, geschweige denn aus ihm entstehen lassen können.

Trailer

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