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steve coleman & five elements: THE SONIC LANGUAGE OF MYTH, bmg/ rca victor 1998 (rec. 4/98).
wieder eine große besetzung, mit streichquartett und klassischen sängern, trotzdem läuft das unter five elements (& special guests). neu ist der e-bassist anthony tidd, dessen bodybuilderstatur womöglich darüber hinweg täuscht, dass er sich mit barockmusik sehr gut auskennt und coleman mit der kontrapunkt-theorie von johann joseph fux (1725) bekannt gemacht habe (wie coleman im booklet schreibt).
die mythologische ebene, die im albumtitel angedeutet wird (den furchtbaren poesiefreien untertitel sollte man eher verschweigen), bezieht sich diesmal auf den kemetismus, der sich auf altägyptische ideen gründet, unter afroamerikanern nicht wenige anhänger hat (klar – ist aber auch beispiels- und merkwürdigerweise unter tschechen verbreitet), coleman aber wohl hauptsächlich zum studium von proportionen und maßeinheiten gebracht hat. andere ideen auf THE SONIC LANGUAGE kommen dagegen, ganz naheliegend, von henry threadgill.
die musik hat – bei allem theoretischen balast – wieder eine ziemliche lässigkeit. die meisten stücke sind weit über 10 minuten, grooven entspannt und transparent auf der grundlage b (tidd), dm (rickman) und per (diaz), lassen insbesondere coleman viel raum für improvisationen (ganz tolles solo auf dem closer „heru“), hin und wieder dürfen drei pianisten ihre individualstile ausbreiten: jason moran (sperrig, nach hill-vorbild), dann iyer (eher barock), am dominantesten robert mitchell im letzten stück. kürzere soli gibt es vertreut von alessi oder endsley (tp), coltrane oder handy (ts), albright (tb) und, in einem stück, vom neotraditionalisten stefon harris (vib), der überraschend viel mit der rhythmusebene anfangen kann. toller als auf GENESIS sind hier die streicher eingesetzt, deren akkord-progressionen zirkulär aufwärts- oder abwärts steigen, damit eine dramatik andeuten, die sich nie ganz auflöst. die violinistin sara parkins darf zwischendurch auch mikrotonal improvisieren. merkwürdig sind passagen, in denen die klassisch ausgebildeten sänger geheimnisvoll daherraunen, während die tänzerin roselangela silvestre afrobrasilianisch kulte anruft, die von ägypten spürbar weit entfernt sind. an anderer stelle rückt einem der mythische hintergrund ziemlich spürbar auf die pelle: am ende des vorletzten stücks hört man coleman mit viel hall improvisieren, das ist, wie man im booklet nachlesen kann, in der königskammer einer großen pyramide aufgenommen worden.
wie das alles genau funktioniert, kann ich nicht genau sagen. die spürbare komplexität hat etwas sehr organisches, durch die länge entspannt sich vieles, was gestaucht vielleicht sein konzept deutlicher machen würde. ganz toll ist aber auch ein kurzes zwischenstück im trio as/ts/tb, in dem immer jeweils zwei eine gegeneinanderlaufende rhythmische figur spielen und der dritte darüber improvisiert, wobei die rollen schnell und virtuos dauernd gewechselt werden („the gate“). was ich sagen kann, ist, dass ich das zusammenbringen von lauter disparaten elementen allenfalls bei andrew hill so organisch empfinde. THE SONIC LANGUAGE ist eines der selbstverständlichsten und zurückhaltendsten alben colemans, es erschließt sich körperlich, ohne seine zutaten begreifbar machen zu können.
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