Antwort auf: Ich höre gerade … Jazz!

#10082047  | PERMALINK

friedrich

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gypsy-tail-wind@friedrich: hm, schwierige Frage bzw. ich bin mit der Trennlinie schon gar nicht einverstanden, wir sind da wieder bei Kirk (Circus? sicher nicht!) und Sun Ra und Louis Armstrong und Fats Waller. Die Polizei mag eben jene nicht, die Unterhaltung nicht nur im Sinne von gelieferten Inhalten verstehen sondern auch in die Präsentation einbauen. Die alte E- vs. U-Geschichte, die in der Tradition der schwarzen Musik ja eigentlich keine so grosse Rolle spielt, aber gerade mit dem Bebop – den Dizzy ja mitzuentwickeln half – beginnt sich eine solche Trennlinie auch dort einzuschleichen, ohne sich je völlig zu verfestigen. Gillespie ist da irgendwie zwischen Stuhl und Bank, einerseits eben als Revolutionär, andererseits schuf er aber mit seiner Hipster-Persona (Brille, Goatee, Baskenmütze usw.) durchaus eine Bühnenfigur mit Entertainer-Zügen … ich glaube das fiese ist halt quasi, dass er nicht früh genung starb (wie Parker oder Powell) und die Legenbildung nie stattfand, dass er sich zugleich musikalisch nicht mehr gross entwickelt hat sondern einfach ziemlich viele tolle Bands leitete, mit denen er auch ziemlich viel gute Alben aufnahm … aber bei den Fortschrittsmodellen, die in der Jazzkritik so tief verwurzelt waren (teils wohl noch sind), reicht das dann halt nicht.

@gypsy-tail-wind

Ich hatte schon befürchtet, dass ich mit meinem schnippischen Kommentar ins Fettnäpfchen getreten habe.

Ja, die alte E- vs. U-Geschichte, die ich schon lange nicht mehr hören kann und deren Keil gelegentlich sogar mitten durch die Populärkultur getrieben wird. Ich neige ja dazu, gerade die Heiligsprechung des Profanen im Pop (im weitesten Sinne) ernst zu nehmen und in diesem Sinne könnte man Satchmo, Dizzy und Roland Rahsaan Kirk als heilige Narren sehen. Nur so ein Gedanke, sicher etwas unscharf und vielleicht etwas pathetisch.

Dass die alle auch mal ins Alberne umkippen konnten ist nicht zu bestreiten. Oder zu Klischees ihrer selbst verkamen. Umgekehrt stürzten sie sich aber auch mal in die tiefsten menschlichen Abgründe. Gehört alles mit dazu. Sun Ra ist da sicher noch mal ein Sonderfall, aber gerade der hat ja eine Show abgezogen!

Hatten wir schon öfter drüber geredet, oder?

Vielleicht ist Dizzy wirklich zu spät gestorben. Hätte er wie Bird vorzeitig das Zeitliche gesegnet, wäre er heute eine Kultfigur. Dizzy’s Aufnahmen der 50er und 60er Jahre sind aber in jedem Fall sehr gut. Sicher nicht mehr so innovativ, aber immerhin hat er das Niveau konstanter gehalten als so manche alternde Rockband. Der hat seinen eigenen Klassizismus geschaffen.

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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)