Antwort auf: Vom regelgemässen (und anderen) Setzen von Tönen – Gedanken zum Komponieren

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gruenschnabel

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clasjaz
Was die Werktreue betrifft, so stolpere ich seit jeher darüber: dass angeblich werktreue Interpretationen mir so unsäglich langweilig erscheinen können, andere – mit Freiheiten – gar nicht. Und ich meine nicht Brendel; mit ihm kann ich zuweilen schon etwas anfangen, aber seine Aversion gegen Gould halte ich für einen weisen Mann eher unpassend. Was mich nicht abhalten würde, ihn zu hören. Dies aber nur als Einstreu. Das Bizarre mag doch sein, dass eine Treue zu etwas gewahrt sein soll, das sich erst im Spiel überhaupt als etwas herausstellen kann, auf das erst dann Bezug genommen werden könnte, um ihm treu zu sein. Also so etwas wie die rhetorische Figur des Späteren vor dem Ersteren. Und was ist schon ein „Andante“? Man kann auf verschiedene Weise leicht bewegt latschen. Wo erweist sich da die Treue? Gewiss in den Noten, wie sie dann latschen, aber der Blick ist nun einmal gelenkt, ein Wirrspiel fast zwischen Notentext und Interpretenaugen. Jeder Jeck machts anders: Arrau hat die halbe Kulturgeschichte, habe ich gelesen, um ein Werk und den Komponisten herum gelesen, trotzdem ist ihm auch nicht mehr Grandioses gelungen (die Etudes von Chopin!, die Préludes, die ich ihm fast nicht zugetraut hätte) – ich meine Inselgeschichten – als anderen, die weniger belesen waren. Und von Allegri zu schweigen, was für ein Gehüpfe ist möglich und erst so etwas wie das Prestissimo in op. 109 von Beethoven oder der Schlusssatz aus Chopins zweiter Klaviersonate, in dem fast nichts übrig bleiben darf.
Wenn da nun jemand etwas „verbessert“, tut er es aus dem weiteren Gang der Dinge heraus. So gesehen könnte man auch sagen – aber immer unter der Voraussetzung, dass einem teleologisches Denken zumindest für eine Weile gefällt -, dass Mendelssohn Beethovens Streichquartette verbessert hat, oder Beethoven diejenigen Mozarts. In der Regel spricht man da eher von „Einfluss“. Aber ein Interpret könnte ja doch einfach seine Einflüsse auch ausdehnen und Werktreue würde dann Abweichungen vom Notentext zulassen, nicht so sehr im moralischen Sinn des Verbesserns, sondern in der schlichten Bemühung ums „Sehen“, wie die Dinge sein können. Ein Ansinnen eben, ein Vorschlag. Wo jeder die Grenze zur Albernheit zieht, steht dann wieder auf einem anderen Blatt.
Dass Tschaikowsky die fünfte Symphonie für misslungen hielt, könnte ein Zeichen dafür sein, dass er an einem wunden Punkt war. Gewöhnlich kommt man mit ihnen nicht klar, sondern ist wund. (Es würde mich nicht wundern, wenn Svetlanov genau das herausgetrieben hat damals.) Ich habe da tatsächlich keine Ahnung, aber wie hat die Sechste Abhilfe schaffen können, für Tschaikowsky? Und, gruenschnabel, kennst Du die „Symphonie Pathétique“ von Klaus Mann? Das ist so lange her, dass ich das Buch gelesen habe, ich erinnere mich aber sehr gut an den Versuch, aus dem Komponisten herauszuschauen beim Komponieren. Das gelang Klaus Mann, immer auf Abgrenzung zum Herrn Papa bedacht, der in Ironie, wenn auch etwas langweiliger, bewanderter war, vielleicht. Also, Einstreu zwei, Klaus Mann kannte keine Ironie. Tschaikowsky vermutlich, so wie ich ihn bisher gehört habe, auch nicht.
Nicht, dass Ironie erforderlich wäre, um Himmels willen. Und Ironie erleichtert auch nicht das Scheitern. Es sind die Gedankengesten, die man einnehmen kann, und auch eine Fixierung auf eine Treue zum Werk, das schlichterdings nicht so existiert wie ein Apfel auf dem Tisch (pardon, Cézanne et al. würden mich hier zerfleischen, ich sags ja auch nur zum Reizen), ist eine gedankliche Geste. Eine Selbstorientierung, die das Selbst – gleiche Geschichte wie mit dem Werk – auch erst herstellt in der Orientierung. Und diese Gedankengesten werden dann übersetzt in Sprachen: musikologische, metaphorische, meinende. Es bleibt das Kaleidoskop. Und z. B. die Befriedigung, wenn Leute wie Kopatchinskaja auftauchen.
Das Mozartkonzert – unter Walter Susskind (Süßkind) – ist wirklich das viele Hören wert. Es gibt noch andere Mitschnitte, aber entscheidend ist die Sache unter Susskind. Und ich rätsele jetzt mal weiter, warum die Juilliards damals keinen Bock mehr auf Gould bei Schumann hatten (Bernstein hat dann übernommen).

Gould nehme ihnen das Heft aus der Hand, sagte man. Glaube ich ja nicht, also gut, noch einmal.

Im Booklet steht dazu: „Fest steht jedenfalls, dass es während der Produktion zu einem regelrechten Zerwürfnis zwischen Gould und dem Julliard Quartet gekommen war.“ Das bei denen zumindest emotional der Eindruck entstanden war, ihnen sei das Heft des künstlerischen Handelns „aus der Hand“ genommen worden, kann ich mir schon vorstellen. Frau Schwarzkopf womöglich ebenfalls, würde sienoch leben.
Dass aber ausgerechnet Bernstein dann am Klavier „übernommen“ hat, ist ja schon fast witzig. Wie war das noch beim ersten Brahms-KK:
„I have only once before in my life had to submit to a soloist’s wholly new and incompatible concept and that was the last time I accompanied Mr. Gould.“
Aber nun: Ich höre das Klavierquartett – und keinerlei Brüchigkeit des Ensembles, sondern Hitze. Beim Quintett hingegen etwas eher „Gepflegtes“. Ich kenne Bernstein als Pianist sonst überhaupt nicht. Aber über eine stützend-begleitende „Rolle“ kommt er hier für meine Ohren nicht hinaus.

Klaus Mann: Ja, den Roman habe ich vor vielleicht 20 Jahren gelesen. Kann und möchte mich dazu aber nicht äußern. Mit der Erinnerung hakt es leider öfter mal bei mir, und bevor ich einen ähnlichen Unsinn schreibe wie über Brendels Verhältnis zur ‚Werktreue’…

Das tut mir nämlich jetzt echt furchtbar leid. Furchtbarer Quatsch war das mit Brendel, meine Erinnerung hat mich sowas von im Stich gelassen… und da sie zu mir gehört, habe ich die volle Verantwortung: Was auch immer Brendels Vorbehalte gegen Gould sein mögen, das mit der ‚Werktreue‘ nehme ich völlig zurück. Brendel geht sehr differenziert und kritisch mit dem Begriff um und plädiert sogar dafür, ihn und auch den Begriff der „Textreue aus dem Sprachgebrauch zu entfernen“. Er spricht sich gegen pedantische Buchstabengläubigkeit und -folgsamkeit aus, ohne jedoch einer „Protesthaltung der Autorität des Komponisten gegenüber“ zu frönen.
Clasjaz, deinen Einwänden würde er wohl mindestens zu einem guten Teil beipflichten.

Um überhaupt noch etwas zum Thread-Titel beizutragen: Ich bin mittlerweile zur Überzeugung gelangt, dass sich Künste und damit auch Musik ziemlich unfein, kratzbürstig und absichtsvoll einem „Regelmaß“ entziehen. Kaum haben Musikwissenschaftler (jeweils epochal gebundene) ästhetische Tendenzen, Kriterien und Regeln entdeckt und formuliert, dreht ihnen die Avantgarde rasch eine lange Nase.
Richard Strauss hatte darunter kraft seines Gemüts zwar vielleicht nicht so viel zu leiden, aber er galt ja zumindest als reaktionärer Spätromantiker, als überholter Komponist alten Schlages.
Nur: Auch das ist ja dann nicht das letzte Wort. Ich traue mich fast nicht mehr, meiner Erinnerung zu vertrauen, aber hat Gould nicht ausdrücklich Strauss‘ Qualität als Komponist als ausschlaggebenden Grund für seinen verdient hohen Stellenwert betont? Nach dem Motto: Ein guter Komponist wird nicht ein schlechter Komponist, weil er zur falschen Zeit gut komponiert?

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