Antwort auf: Anton Bruckner

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gypsy-tail-wind
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Jahresendauslagerung aus dem Hörthread (1/2) – der umfangreiche Bruckner-Austausch der letzten Tage, mit bestem Dank an soulpope und clasjaz für ihre höchst vali… äh, pardon, lesenwerten Ausführungen:

gypsy-tail-windIch glaub ohne Pathos ist mir sehr recht – ich hab in dieser Hinsicht auch etwas Angst vor Celibidaches Bruckner (die DG-Box ist da).

soulpopeIch möchte hier keinesfalls geschmackspolizeilich auftreten …. aber es gibt schon unterschiedliche Zugänge zum Dirigat von Brucker welche für sich genommen valide Sichten darstellen …. Celibidaches hatte eine besondere Vision von Bruckner und seine intime Kenntnis dieses Komponisten erlaubte ihm die Auslotung diverser Lesarten …. die DG Aufnahmen stammen aus den früh70ern bis früh80ern und sind vom Tempo her verhältnismäßig straff – die Aufnahmen für EMI (aka Konzerte zwischen 1985 und 1993) sind verstärkt mystische Deutungen (welche IMO wunderbare Brüche mit der traditionellen Interpretation beinhalten) …. hier ist Pathos wahrlich nicht die Intention – aber mglw Folge des zelebrierten Hochamtes …. listen btw buy with confidence ….

gypsy-tail-windIch weiss natürlich, dass es verschiedene gleichermassen valide Zugriffe gibt … und lasse solche auch gerne nebeneinander stehen. Mein erster Eindruck von Bruckner ist aber doch von einer Art, dass mir das Monumentale, Erschlagende auch irgendwie etwas Angst macht … aber die Münchner/EMI-Box von Celibidaches Bruckner liegt auch im Warenkorb (amazon.it verschachert bis Jahresende einige Boxen für noch absurdere Preise, bei dieser ist der Preisnachlass klein, aber ich beäuge auch Böhms „A Life in Music“, die Ozawa-Boxen „A Life for Music“, „Complete Warner Recordings“ und „The Art of“ sowie die Haitink „Symphony Edition“, in der auch der komplette Bruckner-Zyklus – ich vermute der um 1980 herum – mit dem Concertgebouw Orchestra zu finden ist).

Jetzt läuft aber hieraus CD 28:

Immer noch Bruckner, das Streichquintett mit dem Koeckert-Quartett (sowie Georg Schmid an der zweiten Bratsche), davor gibt es auf der CD das zwölfte Quartett von Dvorák, das mir heute Abend etwas zu sehr „im Volkston“ daherkommt.

Das Bruckner’sche Streichquartett liegt mir auch vor, in einer jüngeren Aufnahme des Zehetmair Quartetts. Dazu dann später einmal.

soulpopeHi gypsy, das „monumental Erschlagende“ verändert sich durch konsequentes Hören ins monumetale Erleuchtende mit scheinbar einfachen, jedoch in der Feindeutung komplexen – jedoch schlüssigen – Strukturen …. zu Celibidache/Bruckner/EMI wie gesagt ein vom Herzen kommendes JA

Das Bruckner Streichquintett im „Volkston“ …. eigentlich war (im positiven Sinn der Volksmusik) der Volkston ja integraler Bestandtteil des Brucknerschen Musikuniversums – aber das Sreichquintett hat mich bis dato auch noch nicht erreicht, mglw auch mangels einer wirklich zwingenden Einspielung – obwohl hier der Wiener Philharmonische Quintett auf Decca bzw L’Archibudelli auf Sony hörenswertes leisten ….

soulpopeUnd diese Aufnahme haben ich auch noch im „Fundus“ …. :

gypsy-tail-windDer „Volkston“ bezog sich aber auf das Dvorák-Quartett … das Bruckner-Quintett fand ich vom ersten Eindruck her recht ansprechend, aber die eine Aufnahme reicht mir wohl vorerst (wenn nicht überhaupt).

soulpopeDas habe ich übersehen, my bad – aber war wohl ein Freudscher Verleser, da eben Bruckner – wie auch Dvorak – in seinen Kompositionen eine starke Bindung zum jeweiligen Lokalkolorit nachweist …. hörte übrigens letzten Freitag eine ganz gute Aufführung von Bruckner 4 (Wiener Symphoniker unter Ingo Metzmacher) in welcher eben dieser Aspekt (und dessen Nachwirkungen auf Mahler) besonders gut zu tragen kam …. übrigens auch eine spürbare Wechselwirkung von Bruckner mit Richard Wagner ….

gypsy-tail-windDas dachte ich mir schon, dass die Bemerkung auf Bruckner auch passen dürfte … aber bei der Neunten hörte ich davon wenig – und bei der ersten (und den beiden davor) auch nicht viel mehr. Aber ich bin da ja erst am Anfang – die Aufnahmen (vgl. Bruckner-Thread, wobei sich in der Liste dort ein paar Fehler eingeschlichen haben) sind jetzt allesamt bereitgelegt, die Haitink-Symphonies-Box bestellt, liebäugle noch mit der cpo-Box von Venzago (bei JPC für einen Fünfziger).

soulpopeWelchen Anreiz hast Du für diese Aufnahmen ?

gypsy-tail-windKeinen gar zu konkreten, nur da und dort Positives über einzelne Aufnahmen aus dem Zyklus aufgeschnappt (aber einzeln kaufen macht wohl weniger Sinn). Im GMG-Forum gibt es z.B. eine akkumulierte Bruckner-Bestenliste, auf der Venzago da und dort auftaucht.
http://www.good-music-guide.com/community/index.php/topic,29.msg986731.html#msg986731

soulpopeMich haben diese Aufnahmen nicht sonderlich beeindruckt, denn es wird versucht durch ein schlankeres Orchester ein dementsprechend de facto kammermusikalisches Klangbild zu erzeugen – einerseits schaffen das die „Brucknerversteher“ in den dementsprechenden Passagen auch unter konservativen Umständen und andrerseits muss ja ein satter Orchesterklang nicht synonym für aufgebläht bzw unproportional etc sein …. nur meine 5 Cent Meinung, möchte Dir das aber keinesfalls madig machen ….

gypsy-tail-windMadig machst Du mir soweit gewiss nichts. Denke wir befinden uns im Rahmen valider Ansätze und mich macht gerade der schlanke Ansatz neugierig, rein vom Konzept her, und sei es bloss als Kontrast. Aber ich bin ja erst am Anfang mit Bruckner …

clasjazMeine Zeit ist so sehr begrenzt gerade, ich kann mich gar nicht recht beteiligen. Gypsy, noch einmal das Wort „valide“ und ich schleppe Dich doch noch in die Bacon-Sache. Ich bin, wenn ich ihn einmal höre, stets völlig gebannt von Bruckner, so, dass ich ihn nur hören kann, wenn ich gebannt werden kann. Und das beschränkt sich bisher tatsächlich auf Bruckner VII und IX, ich habe noch ein paar andere hier, aber ich komme da nicht hin, komme nicht weiter, ich legs auf und – nichts. Nicht mal zu VIII, obwohl ich die ständig, kein Witz, mit VII verwechsele. Größtes Brucknererlebnis war die Siebte mit Celibidache, Münchner, hatte ich mal mitgeschnitten aus dem Fernsehen auf Kassette, kein Witz, und dann in einer Nachtfahrt von Holland nach Hause gehört. Nicht einmal die f-moll-Messe bringt mir was, das Quintett zog heillos vorbei. Wenigstens weiß ich jetzt, dass meine ständige Parallelbeschallung mit Wagners „Parsifal“-Vorspiel usw. und Bruckner irgendwas hat, also, wenn sie geschieht. Selten.

Bei alledem steht Mahler weniger vor als hinter der Tür und wartet.

Hier gerade viel Allan Pettersson, auch so einer, der einem das vorsichtige Hören beibringt, um nicht zu schnell begeistert zu sein.

soulpopeSchön von Dir wieder zu lesen – weil Forum ist hier ja nicht (mehr) viel …. bei mir Bruckner der Architekt wichtig ab 4 bis 9. Präferenzen für V und VII – diese habe ich u.a sehr oft in diversen Interpretationen (und hier passt dieser Begriff vollinhaltlich) von Celibidache gehört und diesem Zauber – so dieser situativ gefragt ist – kann ich mich nicht entziehen …. VIII+IX sind Monumente welchen ich mich noch immer Schrittweise annähere – und wann immer ich näher wähne, öffnet sich eine neue Verästelung (in retrospektiv offensichtlicher Struktur) …. bleiben IV und VI, Letztere ein misteriös faszinierender „Dark Horse“ ohne (für mich) fasbare Ecken und Enden und die IVte welche je nach Deutung ganz unterschiedliche Gestalt annimmt – ich erwähnte meine Konzertbesuch am letzten Freit und fand dann im Netz folgenden Kritik :

Metzmacher macht aus Bruckners Vierter „Die Unromantische“
„Die Romantische“ hat Anton Bruckner selbst seine Vierte Symphonie getauft. Entsprechend wohlig-weich und in satten Farben malen die Orchester dieses Werk gern – in seiner berühmt gewordenen letzten Fassung mit dem allerberühmtesten „Jagdscherzo“ als drittem Satz. Wenig Musik scheint besser zu taugen als Klanguntermalung für Filme von wogenden Kornfelder und Waldesrauschen als diese; zumal der Komponist den ersten Takten sogar eine entsprechend pittoreske Bildbeschreibung mit auf den Weg gegeben hat.
Nun ist das, versteht sich, nur die halbe Wahrheit. Bruckner, den Gustav Mahler oder Hans von Bülow – die Forschung ist sich da nicht sicher – mit dem Epitheton „halb Genie, halb Trottel“ bezeichnet haben soll, war ja sogar demnach zumindest zur Hälfte auch Genie! Und als solches alleinverantwortlich für die letzte große Entwicklungsstufe der Symphonie-Form – und führte konsequent wie kein anderer Richard Wagners harmonische Innovationen in Richtung Moderne fort.

Das kann man bei einem Dirigenten wie Ingo Metzmacher auch hören, der mit den Wiener Symphonikern für das einstündige Sieben-Uhr-Konzert am Freitag der „Romantischen“ jegliche Romanik austrieb, nicht die geringsten Rubati zuließ, die nicht in den Noten stehen, und poetischen Klangzaubereien gar nicht erst hervorzurufen suchte.

Stattdessen lichtete er die Klangbalance auf: Man hört bei Bruckner hierzulande selten so deutlich sämtliche Bläserstimmen und dermaßen rigoros befolgte dynamische Abstufungen. Die Schichtungstechnik, so ausgeleuchtet, macht aus der Vierten ein durchaus „modernes“ Stück, dessen Schroffheiten weit vorausweisen in die Klangwelten der Wiener Schule. Die kommt ja (auch) von Bruckner her; doch hörend kann man diese Binsenweisheit selten nachvollziehen.

Diesmal konnte man; wobei sich die Macht, die der Symphoniker-Klang in den großen Steigerungen entwickelt, durchaus ebenso beeindruckend zu entfalten schein wie in Wiedergaben, die stärker der wienerischen Spieltradition verpflichtet sind.
Ein Aperçu vielleicht, aber doch bezeichnend: Anton Bruckner hat, um dem Publikum zu gefallen und sein Werk endlich hören zu dürfen, das ursprüngliche Scherzo, das inhaltlich inniger mit den drei anderen Sätzen verbunden war, gegen das dann tatsächlich höchst populäre „Taratta tatatata“ ersetzt – und Metzmacher bringt es fertig, dass diese nachkomponierte, gefälligere Musik plötzlich wild und ungezügelt klingt, nicht wie die „lustige Jägerei allhier auf grüner Heid“, sondern wie die heidnische Wilde Jagd; genau so, wie die Urfassung das ungeschminkt beabsichtigt hatte. Eine originelle musikhistorische Umwertung.

Und ja bezüglich der (Ver)bindung zu/an Wagner und Mahler …. das Parsifal Vorspiel (ich sage nur Kubelik) ist da eine treffliche Position – und und der Konnex zu Mahler belegt wiederum, wie modern – hier im Sinne einer Festlegung der eigenen Wurzeln (und deren Reflexion) als Ausgangspunkt für grenzenlose Suche – Bruckner tatsächlich war ….
P.S Allan Pettersson – bei mir „dark horse revisited“ ..

soulpopeSonntagmorgen mit …. Bruckner …. :

Dieser Kurt Eichhorn hatte die Gabe die Größe von Bruckners Kompostionen darzustellen und dabei doch die darin enthaltenen kleinen Geschichten zu erzählen …. wohl eine meiner besonders geschätzten Bruckner 5 Einspielungen (und von den besonders feinen gibts da doch genügend Kompetition) ….

clasjazZu Eurem Bruckneraustausch, ich finde ihn sehr interessant: Es zeichnet sich doch ab, dass diese Symphoniengebirge, vor denen Beethoven materiell fast wie ein Wicht dasteht, sehr weitgegangen sind. Aber verlassen lässt sich in der ästhetischen Historie fast nichts, das sind mehr oder weniger kuriose Wege der Überschreitung, es gibt keinen Maßstab (so war das mit Beethoven nicht gemeint, purer Zufall) und ich verwette meine sieben Großmütter, dass die Raummonstren von Bruckner und Mahler (ich lehne mich hinaus und sage schlicht, dass mir demgegenüber Silvestrovs irdische Tonmeisterlängen eher überflüssig erscheinen) – den ich gegenüber Bruckner fast als spitzbübischen Harlekin wahrnehme – letztlich kleine Huldigungen an Buxtehude oder an ein unschuldiges Kind mit Steingeklopfe vor der Höhle von Lascaux sein könnten, also, so richtig letztlich, aber es geht ja zum Glück weiter. – Gut, dass der Satz zuende ist.

Metzmacher mit Bruckner scheint mir sehr möglich, obwohl ich nie an die beiden gedacht hätte. Vielen Dank für den Text.

soulpopeSchön wieder von Dir zu lesen – Deine Gedanken zu Musik haben oft eine irreführende Trefflichkeit …. obwohl schon einige Zeit in der Nähe (insofern dies überhaupt möglich ist) zu Bruckner ist mir erst kürzlich die Verbindung zu Mahler deutlich spürbar geworden – nämlich wie zukunftsweisend Bruckner komponierte und gleichzeitig wie Mahler in gewichtigen Teilen der Tradition verhaftet blieb (ohne diese jedoch rückblickend ergo bewahrend zu inkorporieren) ….

clasjazVorhin vergessen:

IX , lässt sehr das Rätsel offen, ohne es auf den Seziertisch zu legen – oder vielmehr, das bleibt unentschieden.
Dann noch eine der größten Pettersson’schen Dehnungen, im Zögern eines Anfangs, der trotzdem sofort ohne Zögern da ist, maßlos – wenn Bruckner noch ein Scherzo brauchte, Mahler es zur Besessenheit einbaute, kennt Pettersson diese Unterscheidungen nicht mehr, kein rhetorisches Moment:

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