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Wie einer scheitert, enttäuschte Erwartungen, Ambivalenzen/Unentschiedenheit nicht nur aushalten, sondern wirklich zulassen – das alles begreife ich als Vorgänge und Resultate, die nicht nur in der Musik ihren ganz wichtigen Stellenwert haben. Und es ist einfach nicht wichtig, ob ich Tschaikowskis Material als ungeeignet erlebe. Aber dass es Begegnungen gibt, in welchen Tschaikowskis vermeintliches Scheitern vermittelbar ist oder sein Ringen um die Form bei soulpope sogar zum sinnlichen Fest geführt hat, ist für mich entscheidend.
Clasjaz, bei meiner Online-Suche nach weiteren Stimmen zum Finale fielen mir nach deiner Frage zur Akzeptanz von Offenheit/Ungelöstheit/Widersprüchlichkeit(?) zwei ins Auge, die sehr namhaft und bezeichnenderweise kontrovers sind: Die eine, von Andris Nelsons, kann dem Satz etwas zusprechen, das ich nicht teilen, aber sehr gut in meinen Blick darauf aufnehmen kann. Nelsons spricht von einem unerfüllten Finale, das in einem Konflikt endet und damit sogar als (hinsichtlich Tschaikowski wohl biografische) Reflektion von konfliktbehaftetem Leben gelten kann. Wie man unschwer erkennen kann, ist das so ziemlich das Gegenteil von dem, was ich höre – ich verstehe dies aber nicht als eine negative Problematik. Und ganz abgesehen davon, dass es Nelsons ist und er das im Gegensatz zu mir nicht laienhaft plappernd in die Welt setzt: Beim nächsten Mal werde ich die Musik sicherlich anders hören – da ist Lebendigkeit, die aber mit Beliebigkeit für mich nichts zu tun hat.
Die andere Stimme kommt vom Komponisten selbst und springt einem auf Wikipedia entgegen: Tschaikowski habe die Fünfte als „misslungenes Werk“ abgewertet und damit wohl auf die Finalproblematik abgehoben. Gut, dass der Schöpfer nicht auch noch Deutungshoheit beanspruchen kann. Die Musik kann sich über sein Urteil hinwegsetzen.
Zu Gould: Ich kenne dessen Eingriff in das Mozart-Konzert nicht, aber (auch) ich stehe dem zunächst offen – und bei Gould parteiisch und positiv vorurteilend – gegenüber. Der von dir weniger geschätzte Brendel steht in meiner Erinnerung als deutlicher Gould-Kritiker da. Und ich meine, dass dies in erster Linie mit dem von Brendel ja so hochgehaltenen Prinzip der „Werktreue“ zu tun hat oder zumindest haben müsste. Und so sehr ich Brendel selbst verehre und die Werktreue (wahrscheinlich unter etwas anderen Vorzeichen) ebenfalls als künstlerische Verpflichtung verstehe, schlage ich mich schon mal grundsätzlich auf Goulds Seite. Der wiederum sieht ja Möglichkeiten zur Veränderung des und zum Eingriff ins Material, wenn dies durch eine erhöhte musikalische Überzeugungskraft gerechtfertigt sei. Kurz gesagt: wenn man die Komposition dadurch verbessern könne. Im Sinne der Lebendigkeit musikalischer Überlieferung und auch der Mündigkeit von Interpreten und Hörern nehme ich Gould sein schöpferisch orientiertes Selbstverständnis als Künstler nicht nur ab, sondern es mit großer Dankbarkeit entgegen. Ich muss mir den Mozart aber wirklich zulegen, die Spannung lässt mich wohl jetzt nicht mehr los.
Vor dem Schlafengehen werde ich mir jetzt noch Kopatchinskajas wie auch immer „werktreues“ oder „exzentrisches“ Verständnis des zweiten Prokofieff- sowie des Strawinski-Konzertes vergegenwärtigen.
zuletzt geändert von gruenschnabel--