Antwort auf: Ich höre gerade … klassische Musik!

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gruenschnabel

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clasjaz Die Erfindung, der bloße Einfall, muss sich wohl erweisen in den folgenden Verbindungen, also komponierend gezügelten Erfindungen, die dann den „Kontext“ herstellen und als komponiertes „Werk“ bekräftigen. Da kommt einfach so unglaublich viel zusammen an Fragen, auch die nach der offenen und geschlossenen Form, nach der Offenheit, die sich noch in der Verwandlung von Zitaten, die selbst eine Erfindung ist, zeigt.

Oh ja. Toll formuliert. Das sind Dinge, die einem echt Angst machen (gerade wenn man selbst komponiert :twisted:), im schönsten Fall aber auch überwältigende Gesamtschauen ermöglichen können. Ich hoffe, dass jeder z.B. diese Erfahrung kennt, wenn im Finalsatz einer Sinfonie blitzartig die ganze Komposition vor einem steht – dieser der Zeitkunst Musik enthobene Moment, in dem alles sich fügt (muss längst nicht immer im harmonisierenden Sinne sein) zu einer lebendigen Architektur, deren Ansicht wie eine Begegnung ist, die echte Veränderung bewirkt.
[Wenn Gielen in diesen Interviews zu Mahlers Sinfonik so oft von Transzendenz redet und andererseits auch die Bedeutsamkeit der Kompositionstechnik derart nachdrücklich herausstellt, dann nehme ich an, dass er das mit den „komponierend gezügelten Erfindungen“ auch so gesehen oder gar formuliert und darauf hingewiesen hätte, dass (nur?) die kunstvolle Zügelung Transzendenz ermöglicht. Und dass die Transzendenz, dieser Moment der Veränderung, dann das Materialverhaftete auch selbstverständlich übersteigt und hinter sich lässt, ohne es zu diskreditieren.
Ähnlich sehe ich es auch auf der Ebene der Interpretation: Was müssen sich Instrumentalisten/Dirigenten bei der Erarbeitung für Daumenschrauben und Fesseln anlegen, welche Selbstkasteiungen fügen sie sich mitunter zu, um den Werk-Berg unter eine schlüssellochgroße Linse zu pressen, die dann noch möglichst günstig vom Sonnenlicht getroffen diese eine konzentrierte, aber „freie“ Sicht auf das Ganze zulässt.]

Als ich gestern über Beethoven V schrieb, fiel mir leider dann auch Tschaikowski V ein – „leider“ nicht deswegen, weil ich ein übermäßig gestörtes Verhältnis dazu hätte, sondern weil ich mich eines leichtfertig emotionalen Zynismus nicht enthalten habe, der dann Nachfragen provozierte. Vorweg also: Tschaikowski ist wundervoll. Vor einem Jahr saß ich im „Nussknacker“ und war hingerissen und verzückt von der Musik. Ich sehe kein Problem bei Tschaikowski, subjektiv sehe ich eines bei der Auswahl seines Materials resp. seiner kompositorischen Verarbeitung:
Tschaikowski etabliert das „Schicksals“-Motiv als Leitthema bereits zu Beginn der Fünften, in der Einleitung des ersten Satzes. Seine Gestaltung erlebe ich hier wie auch bei seinem Auftauchen in den Sätzen 2 und 3 als gelungen. Es durchzieht als Schicksalssymbol das Leben der Sinfonie wie ein roter, Kohärenz stiftender Faden.
Nun will Tschaikowski ganz offensichtlich im Finale – die Parallele zu Beethoven V muss ihm klar gewesen sein – so eine Art „per aspera ad astra“-Wirkung erzielen. Und was bietet sich dafür besser an, als das Leitthema in Dur zu propagieren. Oh, hier wird meine Wortwahl wieder etwas zynisch. Aber für mein Geschmacksempfinden ist in diesem Moment die Sinfonie – und zwar leider komplett – verloren. Das Thema trägt in Dur nicht mehr. Das hängt hier wohl auch stark mit den harmonischen Anlagen der Melodie zusammen, aber egal: Es entsteht plötzlich ein einfältiger pathetisch-hymnischer Gestus, der platter kaum sein könnte. Das Material macht seine Umformung hier nicht mit. Und einmal in dieser Idee verfangen, kommt Tschaikowski aus der zu materialschwachen Pathos-Nummer nicht mehr raus: Erst ist es der Streicherapparat, der es richten soll. Man braucht ja Steigerungsmöglichkeiten. Später schmettert dann das Blech das Schicksal in einen wohl euphorisch indizierten Kontext, und allerspätestens dort war die Geschichte auch heute für mich entschieden versemmelt – ich hörte Cleveland in einer wirklich sehr, sehr guten Aufnahme unter Szell. Aber es ist da für meine Begriffe nichts mehr zu retten, die Komposition wirkt gewollt, weil das Material diesem Finalkontext und dessen Entwicklung nicht standhält. Platt, klischeehaft, überstrapaziert. Schließlich kommt das Thema dann sogar nochmals wohl augmentiert (oder verlangsamt) als so eine Art hymnischer Marsch… zum Weglaufen.
Das muss man alles ja nicht so hören. Das Dumme ist aber, dass ein solches empfundenes Defizit für einen selbst das Ganze mitentscheidet. Gerade weil die Komposition durch die Leitthematik explizit den Gesamtzusammenhang betont, wird durch die Lächerlichkeit des Finalpathos im Nachhinein der gesamte Vorlauf in Frage gestellt. Die Materialermüdung macht deutlich, dass von Anfang an ein Konstruktionsfehler vorlag. Und das sind Probleme, um die ich Komponisten nicht beneide.

zuletzt geändert von gruenschnabel

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