Antwort auf: blindfoldtest #19 – vorgarten

#10032767  | PERMALINK

vorgarten

Registriert seit: 07.10.2007

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wahr
Track 01
Schönes Sax, das mir was erzählen will. Nichts Spirituelles, nehme ich an. Klingt wie recht heutig eingespielt, irgendwie skandinavisch-atheistisch.

skandinavisch-atheistisch gefällt mir. ist aber deutsch. und heutig. aber wohl tatsächlich nichts spirituelles.

wahr
Track 02
Kleine Big Band, ich tippe auf Anfang der Sechziger, ist mir etwas zu brav, sowohl in der Groovebearbeitung als auch in der Melodieführung. Wenn Musik zu sehr gefallen will, dann hat sie es meist etwas schwerer bei mir.

kann ich verstehen. hier ging es mir um den solisten, der auf sehr eigene art schon auch immer gefallen will, aber hier steht er dem spaß ein bisschen im wege.

wahr
Track 03
Das ist schon wieder fortschrittlicher. Diese Musik hat Bossa Nova gehört, ohne ihn spielen zu wollen. Schön zurückgenommen, der Bass hypnotisch, eine dunkle Note in der Musik. Das ist später, ich tippe auf Ende 60er. Vielleicht ein Soundtrack. Guter Aufbau, auch wenn das jetzt etwas unkreativ ausgeblendet wird.

oja, bossa nova haben die hier alle gehört, auch wenn es keine brasilianer sind. kein soundtrack, sondern programmmusik. ein seufzer zur lage der nation, sozusagen. ende der 60er stimmt. ausgeblendet wird es wohl, weil das letzte thema eigentlich das hauptmotiv des ganzen albums ist, da schließt sich hier eine bewegung und soll woanders fortgesetzt werden. (ich finde es aber auch schade.)

wahr
Track 04
Kleines Jazz-Ditty, ich kenne das Stück, also nicht den Track, aber das Stück. Oder blde mir das ein. Ist so ganz schön als Verbindung von Vorherigem zu Nachfolgendem, ohne sich wichtig zu nehmen. Es bringt andere Tracks zum Glänzen, aber mir ist das irgendwie zu harmlos, obwohl ich den Groove wieder gut finde.

die meisten hier lieben den tenormann. und eigentlich auch den rest der mannschaft. ich finde es mit jedem mal hören toller, wie er da so mitgeht.

wahr
Track 05
Wenn Sax-Noten in Strömen fließen, muss ich an Coltrane denken. Kaum geschrieben, schweigt das Saxofon und lässt Klavier und Bass sprechen, ein Drum-Solo. Ich finde es immer cool, wenn das Sax kurz loslegt und dann für eine Ewigkeit schweigt, einfach nur zu Anfang zeigt, dass es da ist, ohne alles vollzuspielen (den Gedanken habe ich aus der Wire geklaut, glaube ich). Schon zu Ende.

schöne beschreibung. der saxer lässt wirklich mal kurz seinen coltrane aufblitzen und gibt dann den anderen raum.

wahr
Track 06
Das geht bei mir rein, fließt ein bisschen durch den Organismus und die angeschlossenen Gedanken und dann wieder raus, eben ein Stream Of Unconsiousness, bei dem man am Ende nicht mehr weiß, was genau man gerade gehört hat, aber es hat dafür gesorgt, dass man seinen Zustand geändert hat. Meine Frau mag Jazz eher nicht, für sie ist das meist zu sehr „Mathematik“, was es manchmal auch ist, auch hier hat es etwas sehr genaues, gerade jetzt bei dem Bass-Solo, begleitet vom ultragenauen, stoischen Rhythmus, aber das ist toll, weil sehr hypnotisch. Das Drum-Solo ist ein, äh, Drum-Solo, ich bin da nicht der große Freund. Dann geht’s wieder weiter mit der ganzen Band ins Thema – und Schluss. Die hypnotischen Stellen haben mir am besten gefallen. Guter Track.

oja. mathematisch ist das nicht, zum teil sogar ziemlich schlampig – es geht also schon um sowas wie eine direkte und raue emotionalität, und dafür hat der leader ein inspiriertes thema geschrieben, was er wie wenig andere konnte. und damit hat er sich als musiker wohl selbst ein bisschen sehr herausgefordert – für mich klingt es aber auch nach einem hastigen halben tag studiozeit.

wahr
Track 07
Spannender Anfang mit dem dezenten Geklingel, dem nervösen Bass, der Flöte, dem Raum dazwischen. Besonders dem Raum dazwischen. Das klingt großartig. Ich mag es, wenn Musik Geheimnisse aufbaut und sie nicht gleich ausplappert. Das muss irgendwas Modernes sein, klingt fantastisch, ich hoffe es bleibt die nächsten Minuten so in der Schwebe. (Minuten später) Ja, es bleibt so, jetzt kommt ein bisschen mehr Dichte hinein, Flöte und Vibraphon, der Track ist nach ca. 5 Minuten an einem gefährlichen Punkt angelangt, er darf jetzt nicht zuviel preisgeben, dann war alles vorher umsonst. Er bleibt aber in diesem Zustand, der Track ist schlau. Er löst nichts wirklich auf, verschwindet einfach wieder und lässt die Fragen da. Bester Track bisher.

das freut mich wirklich sehr, ich höre das ähnlich. ich weiß nicht, was du mit „modern“ meinst, das ding ist jedenfalls auch schon 40 jahre alt. aber es baut geheimnisse auf und öffnet räume.

wahr
Track 08
Fängt auch verhalten an, aber da tut sich schon so viel im Hintergrund, das auf spätere Sensationen hinarbeitet, dass ich sicher bin, da passiert noch was. Der Track überrascht mich nicht, gegenüber 07 ist das ein kleiner Rückschritt, ich glaube, ihn könnte retten, wenn jetzt plötzlich Robert Wyatt zu singen anfängt. Stattdessen wird die Trompete nervöser, was schon mal gut ist. Mehr als die Hälfte ist um, plötzlich fadet es aus, Stille, die überraschend kommt, es sind noch zweieinhalb Minuten, ok, das hat mich jetzt positiv überrascht. Der Track geht dann aber recht melodieaffin weiter, das ist schön, aber irgendwie nicht mehr. Andererseits ging er dann doch anders weiter, als ich vermutet habe. Das gefällt mir wieder.

ja, es ist eins von mehreren stücken, die mittendrin nicht unbedingt ihren charakter, aber ihre tonlage ändern. robert wyatt ist bei mir eine große leerstelle, aber was jemand zum ersten teil singen könnte, würde mich jetzt doch interessieren…

wahr
Track 09
Erster Track mit Gesang. Klingt sehr schön. Gute Frauenstimme, die nicht zu sehr zeigen will, dass sie technisch gut singen kann, sondern einfach gut singt. Gefällt mir sehr gut, hat ein bisschen was fusion-eskes, ich muss an Beanfield denken, wobei die das garantiert nicht sind. Es könnte aber aus diesem Umfeld stammen. Fauna-Records (?), oder Compost, so die Richtung. Ein wirklich schöner Track.

das ist älter, also etwas, was leute wie die bei compost ausgraben und leicht modernisieren würden. aber es passt natürlich sehr in die ecke. die dame ist dort sicher bekannt – dass sie selbst erst richtung jazz ging, um dann den vorbestimmten r&b-weg zu nehmen, war ungewöhnlich (weil sie ja wirklich anders singt als eine jazzsängerin), aber es war halt noch nicht alles so schubladisiert. ich finde es eigentlich sehr schön, dass sie hier nicht anders singt als sie es gelernt hat.

wahr
Track 10
Das ist 100% Mojo-Club-kompatibel, auch wenn die das noch hochpitchen würden. Wieder so Fusion-Zeug, mit dem man mich früher jagen konnte, dem ich aber dann doch irgendwann was abgewinnen konnte und kann. Sowas wie Lonnie Listen Smith. Schön schnuffelig. Könnte auch von Blue Note stammen, oder was rares von der Westküste. Bay Area-Zeug. Toll.

ist eigentlich gut eingeordnet, aber von der herkunft her etwas bunter. auf jedenfall auch übelstes crate digger zeugs, ich kenne es auch durch eine dj-empfehlung.

wahr
Track 11
Anfang klingt gleich gut mit der Gespenstergitarre, weit im Hintergrund. Jetzt kommt sie nach vorne, elektrisiert sich noch. Diese Musik hat ein bisschen No Wave im Gepäck, zumindest die Gitarre. Klingt schön kaputt, das ist irgendwas aus den 80ern. Jetzt zieht sich die Gitarre wieder zurück, geistert im Hintergrund. Der Raum wird gut genutzt. Gefällt mir ausnehmend gut.

vor no wave und den 80ern. es klingt etwas moderner als es eigentlich ist – pioniermusik. weiß nicht, ob er wirklich hendrix mal die hand geschüttelt hat, er ist auf jeden fall ein sehr früher epigone.

wahr
Track 12
Wir bleiben moderner, ein Synthesizer spielt kurz mit, jetzt so leichtes indifferentes Keyboard- oder Bass-Gebrummel, alles verhalten, der Synthie simuliert Feldgeräusche: Vögel, Dschungel, ich höre Grünzeug, das wird dem Track dann selbst zuviel und er grätscht ein paar hässliche (gesampelte?) Dub-Effekte rein, das ist eine gute Entscheidung. Der Track geht einen guten entspannten Weg durchs Gebüsch, er hat technische Hilfsmittel dabei, der Synthie wird hässlicher, das Grünzeug lichtet sich, man hört eine Maschine mit Antriebsmotor. Sie startet. Die Expedition ist beendet, das Team entfernt sich, die Vögel werden wieder sich selbst überlassen.

warum die da pfeifen, weiß ich auch nicht. die effekte sind auf jeden fall live erzeugt, nicht gesampelt. komplizierte apparaturen, die einigen in der band großen spaß gemacht haben, während die anderen schon an ihrer popkarriere arbeiten.

wahr
Track 13
Dr. Phibes, I presume? Wenn ich eine kirchenorgelähnliche Orgel höre, muss ich einfach immer an Vincent Price denken, auch wenn das jetzt schon nichts mehr mit dem Track zu tun hat. Ein Auf- und Abschwellen von Orgel und dezenten Schellen. Das Schwellen wird mehr, das ist recht elaboriert und ernst, baut gut Spannung auf, die Orgel sollte jetzt bitte nicht die Führung übernehmen, leider macht sie es aber, verändert den Ton, übertönt die anderen etwas, das ist jetzt keine so gute Richtung, der Track verliert etwas an Demokratie. Liebe Orgel, halt dich bitte etwas zurück, andere wollen doch auch ein bisschen mit dabei sein. Der bass leistet Widerstand, das Ganze fadet aus. War ok, aber nicht so richtig gut.

an vincent price denke ich bei einer solchen orgel auch, den film liebe ich seit meiner kindheit. der, der sie hier spielt, hat oft auch eine sehr verschrobene ausstrahlung, die allerdings eher an eine starre erinnert. sich mit einer kirchenorgel zurückzunehmen, fällt wahrscheinlich ziemlich schwer, aber ich bin sicher, dass die anderen ihr das nicht übel nehmen hier. die band ist hier nicht in ihrem üblichen format unterwegs, normalerweise spielen sie sowas eine stunde am stück, vielleicht gefielen sie dir auf der langstrecke besser.

wahr
Track 14
Ein D&B-Fundament, über das schön kantig fusioniert wird. Der D&B-Groove baut schöne Verzögerungen ein, die Gitarre hält fredfrithig dagegen und vorbei.

fred frith ist es nicht, aber ansonsten wurde alles erkannt ;)

wahr
Track 15
Ein neues Kapitel wird aufgeschlagen. Ein kurzes Interlude. Klavier, reduziert.

ja, ein pianist, den ich 2016 häufiger gehört habe als irgendeinen anderen, deshalb musste er dabei sein. mit sowas wie #16 hat er eigentlich nichts zu tun.

wahr
Track 16
Perkussion, reduziert. Wir befinden uns wieder ein paar Jahrzehnte zurück, ein schöner Aufbau mit dem Klavier. Vielleicht ist das doch moderner, als ich denke. Die Produktion ist auch sehr sensibel, man hört kleinste Treatments. Jetzt in dem Zusammenspiel mit dem Bass/der Gitarre, alles sehr zurückgenommen. Gefällt mir gut. Ich mag es, wenn im Hintergrund noch Resonanzen resonieren, Details nachschwingen, längst nachdem sie angeschlagen wurden, sie werden geboren, werden erwachsen und führen ihr Leben. Wieder werden leise Geräusche gesetzt und in den Vordergrund gerückt. Ich tippe auf einen Track Anfang der Nullerjahre. Sehr vorsichtiges Ende.

sehr schön beschrieben. die aufnahme ist aber tatsächlich eine der jüngsten hier. sie steht auch auf dem album am schluss. und hier haben wir auch endlich was spirituelles. es freut mich sehr, dass das allgemein so gut ankommt; den rest des albums mag ich eigentlich gar nicht so.

wahr
Tolle Zusammenstellung, wird so Einzug halten in meinen Auto-USB-Stick. Ich kannte keinen Track, aber bin sicher, ich werde das ein oder andere als Ausgangspunkt für weitere Erforschungen nutzen. Hat schon mal großen Spaß gemacht. Danke, vorgarten!

sehr gerne. hat mich sehr gefreut, dass du dich auf den mix eingelassen hast. deine kommentare sprechen insgesamt für einen sehr offenen zugang zu musik, das ist etwas, was ich auch immer versuche ;)

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