Vom regelgemässen (und anderen) Setzen von Tönen – Gedanken zum Komponieren

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    gypsy-tail-wind
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    Jahresendauslagerung aus dem Hörthread (2/2) – Im Hörthread läuft gerade eine höchst anregende Diskussion über Aspekte des Komponierens. Wir haben hier im Forum bereits einen Thread zum Thema Text und Interpretation, da geht es eben um die Umsetzung der (mehr oder weniger fertigen) Komposition durch den Interpreten (und den Hörer); überdies den Rezeptions-Thread. Es scheint mir daher recht und billig, auch einen über Komposition zu starten, den ich zum Auftakt mit besagter Diskussion alimentieren möchte.

    Die Diskussion setzt mehr oder weniger nahtlos an einem längeren Austausch über Bruckner an, den ich hier zusammengetragen habe.
    (Hier geht es zur Stelle im Hörthread, wo es in etwas loging.)

    Los ging es mit einem Zitat von Michael Gielen:

    gypsy-tail-wind… streue ich das gestern im Booklet zur Gielen-Box aufgeschnappte Zitat von dessen (Gielens) Onkel Eduard Steuermann ein: „Mein Gott, wenn der Bruckner die Kompositionstechnik von Mahler gehabt hätte oder dem Mahler die Einfälle von Bruckner gekommen wären, was wäre das für eine Musik geworden.“ Gielens Nachsatz im Booklet, dessen Text wohl auf einem Gespräch beruht: „Nein, nein, es ist schon richtig so: es muss ja nicht alles so raffiniert komponiert sein, es kann ja sehr wohl mit der Axt gehauen sein und trotzdem großartig. Anselm Kiefer habe ich mal beobachtet bei der Arbeit, der hat mit der Axt gemalt, und es ist großartig.“ (Paul Fiebig, Liner Notes zu: Michael Gielen Edition Vol. 2, 1968-2013: Bruckner, Symphonies No. 1-9, 10 CD, SWR Music, 2016)

    soulpopeDie Axt mitunter als Skalpell …. was man bei Bruckner oft erst bemerkt wenn das Blut aus dem Feinschnitt drängt ….

    clasjazDas Steuermannwort ebenso wie die Gielenergänzung finde ich sehr treffend! Treffend auch in dem Befund, der dahintersteckt, dass man verdammt in Verlegenheit ist oder kommt, Verbindungen zu ziehen, ohne mit dem Wissen der Späteren belastet zu sein. Zu Steuermann fällt mir dazu gleich die Frage ein: „Was, wenn Mahler zwar zu den Einfällen tauglich gewesen wäre – sie aber nicht wollte?“ Worauf Steuermann natürlich zurückfragen könnte: „Und wieso nicht?“ In diesem und in der zugehörigen Gegenfrage „Warum gerade so?“ liegt eine Schwingung, in die uns die Jecken versetzen und sie sind zumindest veritable Fragen im Kunstenthusiasmus, der, wie jeder Post von soulpope schön erinnert, Arbeit ist oder doch auf ihr beruht.

    […]

    Das Inkorporieren, soulpope, könnte doch also auch in der Negation liegen? Ist das nicht eine sehr schlichte Sache, diese Abgrenzung, weil man andere, jugendlich forsch wie die Jugend ist, nicht wiederholen möchte – man tuts natürlich trotzdem, was das Alter dann später gelassen hinnimmt und also Spuren beibehält, „bewahrt“? Mir stellt sich diese Frage gerade auch – Zufall oder Akzidenz oder Fügung -, bei Allan Pettersson. Das ist im Gestus, wie einer die Hand ausstreckt, eine Verbindung von Bruckner und Mahler, völlig egal, ob Pettersson die beiden nun gekannt hat oder nicht. Da ist das beharrende Ausgreifen Bruckners, der auch nicht immer weiter will und eine Bewegung anhält, bloß um sie wieder aufzunehmen, und zugleich die bei Mahler handgreifliche Abbrecherei eines Motivs – das also im Abbrechen vollendet ist – und zum Kaleidoskop des Zirkus führt, dem er sich aber doch verweigern möchte, was dann Ende von Symphonie III etwas säuselnd, in VIII völlig aufgehoben ist, weil thematisch gelöst, in Ende IX einfach hingenommen wird und in die Breite gewälzt. „Lied von der Erde“ ist schlüssig zu VIII, aber ein Zögern ohne Gefahr gleichsam vor dem Risiko, das folgt. V und VI scheinen mir die Bruchstellen zu sein und weil Mahler so oft versucht hat, doch noch in die seligen Gefilde Bruckners zu kommen, der eher schamlos agiert, haut er in V gleich zweimal das Militär raus und lässt in VI den Herrgott einen guten, aber belanglosen Mann sein.

    Und bei all diesen Scharmützeln ist Pettersson womöglich die unverbindlichste Stimme, weil am wenigsten versprechende. Er beschränkt sich auf einen Einfall und hat sich und das, was er gehört hat, und trifft die Entscheidung, lange und sehr lange nur eine Stimme sprechen zu lassen. So reime ich mir das gerade zusammen. Warum er das gerade so macht und nicht wie sein schulmeisterlicher Lehrkopf Leibowitz – seltsame Jugendfigur mit seinen eigenartigen Nachplappereien im Zuge der „Neuen“ -, dürfte im Ernst seiner, Petterssons, Sache begründet sein.

    soulpopeBrückner 9 ein (mglw so geplantes) Labyrinth ohne Ein- und Ausgang – wenn Du jetzt eine formbefreite Fortschreibung bei Pettersson (dessen Euvre ich viel zu wenig kenne) empfindest dann werde ich dem mal nachgehen …. seine 9te ist übrigens auch ein unfassbares Gebilde ….

    gruenschnabel

    gypsy-tail-wind Und da ihr bzw. Du @clasjaz gerade darüber spricht, streue ich das gestern im Booklet zur Gielen-Box aufgeschnappte Zitat von dessen (Gielens) Onkel Eduard Steuermann ein: „Mein Gott, wenn der Bruckner die Kompositionstechnik von Mahler gehabt hätte oder dem Mahler die Einfälle von Bruckner gekommen wären, was wäre das für eine Musik geworden.“ Gielens Nachsatz im Booklet, dessen Text wohl auf einem Gespräch beruht: „Nein, nein, es ist schon richtig so: es muss ja nicht alles so raffiniert komponiert sein, es kann ja sehr wohl mit der Axt gehauen sein und trotzdem großartig. Anselm Kiefer habe ich mal beobachtet bei der Arbeit, der hat mit der Axt gemalt, und es ist großartig.“ (Paul Fiebig, Liner Notes zu: Michael Gielen Edition Vol. 2, 1968-2013: Bruckner, Symphonies No. 1-9, 10 CD, SWR Music, 2016)

    Zum Thema ‚Einfall und Kompositionstechnik‘ bei Mahler und Bruckner (+ Beethoven): Im Interview mit Paul Fiebig antwortet Gielen auf die Frage nach einem womöglich „vergessenswert[en]“ Eklektizismus in Mahlers Fünfter: „Die Erfindung ist doch nicht der Punkt. Wie kärglich sind viele Beethoven-Themen. Was man komponiert damit, das ist das Entscheidende. Was nützt mir die genialste Erfindung Bruckners, wenn er damit nichts anfangen kann. Gut, er kann relativ… Nein, nein, man kann sich nicht aufs hohe Roß setzen und der Meinung sein, daß Kompositionstechnik etwas aus den Niederungen ist, man kann nicht hinunterschauen auf die technische Errungenschaft, gut zu komponieren. Das ist ja auch eine techné. Was ist denn Kunst ohne ihre inhärente Technik? Ein billiger Einfall ist scheußlich, wenn man nicht komponieren kann; wenn einer komponieren kann, stört er mich überhaupt nicht.“

    gypsy-tail-wind… weil er dann nicht mehr als „billiger Einfall“ erkannt wird?

    gruenschnabelIch kann nicht für Gielen sprechen… gleich danach äußert er sich dann zu Brahms: „man muß ja doch das Thema der Passacaglia so erfinden, daß das alles möglich wird, wie in der c-moll-Passacaglia von Bach (…). Die Erfindungen sind schon danach, auch wenn es natürlich Dreiklänge und Skalen sind. Aber was ist denn nicht Dreiklang und Skala in der klassischen Musik? (…) es ist ein Wechselspiel zwischen der Materie, in der er sich bewegt und dem, was er daraus macht.“

    Letzteres kommt mir persönlich vollends überzeugend vor. Es scheint mir irgendwie sinnlos, über die Ästhetik nur der ersten vier Takte von Beethovens Fünfter zu urteilen. Für sich genommen ist das sicherlich nichts Bewegendes, aber ein Gedanke bewahrheitet sich eben grundsätzlich nur im Kontext. Und auch Bachs Fugenthemen führen ja der Reihe nach vor, dass ihr „Gelungensein“ sich erst in der Verarbeitung wirklich zeigt.

    Was mir dabei wichtig wäre: Beethovens obiges Anpochen ist ja auch überhaupt nichts „Anstößiges“ im Sinne von ‚plakativ‘ oder ‚banal‘. Damit ist ja im Gegensatz zum Finalthema von Tschaikowski Fünf nichts versaut, sondern nur erst angelegt und angeregt.

    soulpope@gruenschnabel : Dank für Deine Beiträge welche den Diskurs hier endlich wiederbeleben. Bin momentan außerstande vertieft zu antworten – meine Interesse inwieweit was bei Tschaikowsky 5 „versaut“ ist möchte ich nichtsdestotrotz bereits jetzt deponieren ….

    gypsy-tail-windDanke auch von meiner Seite, finde es ja interessant, überhaupt solche Gedankengänge zu lesen. Oder auch mal selbst anzustellen versuchen, aber da bin ich in der Klassik noch nicht sehr weit, mein Verständnis davon, was nun Kompositionstechnik genau ist, wie man das anstellt, wie das in der Umsetzung genau klingt, ist äusserst rudimentär (will sagen, ich verstehe das Orchester als Klangkörper nicht, komme da ja schon bei einer Jazz-Big-Band an die Grenzen, wo ich kleine Combos noch begreife oder das wenigstens denke).

    Aber gut, die obligate Folgefrage: Was ist denn beim Finale von Tschaikowskis Fünfter daneben gegangen? Ich habe bewusst noch nie Symphonien von Tschaikovsky gehört, aber – wie inzwischen üblich, wenigstens beim weiteren Kernrepertoire – liegen natürlich einige Aufnahmen bereit für den Tag, an dem es mich dahin treibt (komplette Zyklen von Dorati, Bernstein, Karajan und Abbado, dazu diverse einzelne Einspielungen, 1-3 mit Pletnev, 4-6 mit Mravinsky und Böhm …), aber da bin ich wirklich noch nirgendwo, kenne eigentlich nur das Violinkonzert und halbwegs die Klavierkonzerte bzw. v.a. das erste.

    clasjazZu Tschaikowsky V und dem verdorbenen Satz möchte ich auch fragen, weil ich davon noch gar nicht gehört habe, mir aber auch Tschaikowsky kaum bekannt ist. Hie und da was. Und Beethovens Fünfte, das Anpochen, ich kann das sehr gut nachvollziehen, was Du schreibst, gruenschnabel. Zumal das ja auch noch ein Zitat eines der Revolutionslieder damals ist, rudimentär zwar. Die Erfindung, der bloße Einfall, muss sich wohl erweisen in den folgenden Verbindungen, also komponierend gezügelten Erfindungen, die dann den „Kontext“ herstellen und als komponiertes „Werk“ bekräftigen. Da kommt einfach so unglaublich viel zusammen an Fragen, auch die nach der offenen und geschlossenen Form, nach der Offenheit, die sich noch in der Verwandlung von Zitaten, die selbst eine Erfindung ist, zeigt. Beethoven mit Diabelli und auf andere Weise zigmal mit Mozart sind Beispiele, die Kontrafakturen Bachs, seine Ausflüge zu Vivaldi, und, ich lasse nicht nach, die wie selbstverständlich als endgültige Sprache genommenen Variationen Petterssons. Der Mann irritiert mich gerade mächtig, mit dieser eigenen Stimme, die in der Wertschätzung der anderen Stimmen keine Grenze zu kennen scheint. Mahler nach meinem begrenzten Wissen zuvörderst. Angenommen, Mahler selbst sei ein Mann der Brüche, mit fast schon quengeligen Bezügen auf Bruckner, ist das, was Pettersson macht, beinahe eine tour de force der strengen Emotion, die sich kompositorisch nicht aufhalten lässt.

    Also kurz, ich folge Euch mit Spannung.

    gruenschnabel

    clasjaz Die Erfindung, der bloße Einfall, muss sich wohl erweisen in den folgenden Verbindungen, also komponierend gezügelten Erfindungen, die dann den „Kontext“ herstellen und als komponiertes „Werk“ bekräftigen. Da kommt einfach so unglaublich viel zusammen an Fragen, auch die nach der offenen und geschlossenen Form, nach der Offenheit, die sich noch in der Verwandlung von Zitaten, die selbst eine Erfindung ist, zeigt.

    Oh ja. Toll formuliert. Das sind Dinge, die einem echt Angst machen (gerade wenn man selbst komponiert :twisted:), im schönsten Fall aber auch überwältigende Gesamtschauen ermöglichen können. Ich hoffe, dass jeder z.B. diese Erfahrung kennt, wenn im Finalsatz einer Sinfonie blitzartig die ganze Komposition vor einem steht – dieser der Zeitkunst Musik enthobene Moment, in dem alles sich fügt (muss längst nicht immer im harmonisierenden Sinne sein) zu einer lebendigen Architektur, deren Ansicht wie eine Begegnung ist, die echte Veränderung bewirkt.

    [Wenn Gielen in diesen Interviews zu Mahlers Sinfonik so oft von Transzendenz redet und andererseits auch die Bedeutsamkeit der Kompositionstechnik derart nachdrücklich herausstellt, dann nehme ich an, dass er das mit den „komponierend gezügelten Erfindungen“ auch so gesehen oder gar formuliert und darauf hingewiesen hätte, dass (nur?) die kunstvolle Zügelung Transzendenz ermöglicht. Und dass die Transzendenz, dieser Moment der Veränderung, dann das Materialverhaftete auch selbstverständlich übersteigt und hinter sich lässt, ohne es zu diskreditieren.

    Ähnlich sehe ich es auch auf der Ebene der Interpretation: Was müssen sich Instrumentalisten/Dirigenten bei der Erarbeitung für Daumenschrauben und Fesseln anlegen, welche Selbstkasteiungen fügen sie sich mitunter zu, um den Werk-Berg unter eine schlüssellochgroße Linse zu pressen, die dann noch möglichst günstig vom Sonnenlicht getroffen diese eine konzentrierte, aber „freie“ Sicht auf das Ganze zulässt.]

    Als ich gestern über Beethoven V schrieb, fiel mir leider dann auch Tschaikowski V ein – „leider“ nicht deswegen, weil ich ein übermäßig gestörtes Verhältnis dazu hätte, sondern weil ich mich eines leichtfertig emotionalen Zynismus nicht enthalten habe, der dann Nachfragen provozierte. Vorweg also: Tschaikowski ist wundervoll. Vor einem Jahr saß ich im „Nussknacker“ und war hingerissen und verzückt von der Musik. Ich sehe kein Problem bei Tschaikowski, subjektiv sehe ich eines bei der Auswahl seines Materials resp. seiner kompositorischen Verarbeitung:

    Tschaikowski etabliert das „Schicksals“-Motiv als Leitthema bereits zu Beginn der Fünften, in der Einleitung des ersten Satzes. Seine Gestaltung erlebe ich hier wie auch bei seinem Auftauchen in den Sätzen 2 und 3 als gelungen. Es durchzieht als Schicksalssymbol das Leben der Sinfonie wie ein roter, Kohärenz stiftender Faden.

    Nun will Tschaikowski ganz offensichtlich im Finale – die Parallele zu Beethoven V muss ihm klar gewesen sein – so eine Art „per aspera ad astra“-Wirkung erzielen. Und was bietet sich dafür besser an, als das Leitthema in Dur zu propagieren. Oh, hier wird meine Wortwahl wieder etwas zynisch. Aber für mein Geschmacksempfinden ist in diesem Moment die Sinfonie – und zwar leider komplett – verloren. Das Thema trägt in Dur nicht mehr. Das hängt hier wohl auch stark mit den harmonischen Anlagen der Melodie zusammen, aber egal: Es entsteht plötzlich ein einfältiger pathetisch-hymnischer Gestus, der platter kaum sein könnte. Das Material macht seine Umformung hier nicht mit. Und einmal in dieser Idee verfangen, kommt Tschaikowski aus der zu materialschwachen Pathos-Nummer nicht mehr raus: Erst ist es der Streicherapparat, der es richten soll. Man braucht ja Steigerungsmöglichkeiten. Später schmettert dann das Blech das Schicksal in einen wohl euphorisch indizierten Kontext, und allerspätestens dort war die Geschichte auch heute für mich entschieden versemmelt – ich hörte Cleveland in einer wirklich sehr, sehr guten Aufnahme unter Szell. Aber es ist da für meine Begriffe nichts mehr zu retten, die Komposition wirkt gewollt, weil das Material diesem Finalkontext und dessen Entwicklung nicht standhält. Platt, klischeehaft, überstrapaziert. Schließlich kommt das Thema dann sogar nochmals wohl augmentiert (oder verlangsamt) als so eine Art hymnischer Marsch… zum Weglaufen.

    Das muss man alles ja nicht so hören. Das Dumme ist aber, dass ein solches empfundenes Defizit für einen selbst das Ganze mitentscheidet. Gerade weil die Komposition durch die Leitthematik explizit den Gesamtzusammenhang betont, wird durch die Lächerlichkeit des Finalpathos im Nachhinein der gesamte Vorlauf in Frage gestellt. Die Materialermüdung macht deutlich, dass von Anfang an ein Konstruktionsfehler vorlag. Und das sind Probleme, um die ich Komponisten nicht beneide.

    clasjazVielen Dank für diese Ausführungen. Du bist also Wagnerfreund … zumindest im Prinzip, dass zum Raum gerne einmal die Zeit werden dürfe. Das Moment, dass nach Ablauf von Zeit – im Schlusssatz – eine Erwartung des „Auf-einmal-ist-alles-gebündelt-da“ möglich sei, verstehe ich gut, dehne es aber inzwischen aus auch auf den Anfang der Komposition, in dem dann schon alles steckt. Kann man das so sagen, dass wir hier bei dem Problem von Erfindung und ihrer Vollendung stecken – und notwendig stecken bleiben? Vielleicht ist ja stets die Tatsache einer möglichen Durchführung das, was jeweils bleibt. Grund zur Angst, wohl, und darin dann einer Beschränkung, die natürlich – stelle ich mir vor, weil ich selbst nicht komponieren kann – ständig aufs Neue über sich hinaus will.

    Mit der Dur-Geschichte bei Tschaikowsky – ich finde den bisher gar nicht so toll, aber immerhin hat mir Gitlis kürzlich mal das Violinkonzert erklärt, seitdem verstehe ich es auch von anderen – erinnerst du mich an Goulds Aufbesserung von Mozarts Klavierkonzert Nr. 24, KV 491. Halte ich, nebenbei, immer noch für die packendste Einspielung des Konzerts. Also na ja, wenn ich mich richtig erinnere, hat Gould eine Dur-Geschichte im Schlusssatz gestört, die er hopps geändert hat.

    „Materialermüdung“ ist gewiss ein nachdenkenswertes Wort. Es schließt gedanklich die Vorbereitung, Erwartung und Erfüllung zusammen – und schließt die Enttäuschung nicht aus. Also die Summe irdischen geneigten Lebens, obwohl das auch wieder Temperamentssache ist. Und dann kommen noch die Vervielfachungen der Interpretation hinzu, die Leute, die da an der Musik arbeiten und die einfachen Hörer wie ich, die sich auch wieder eine Meinung bilden, irgendwie im Lebensklabums geschult, mit Vorbereitungen, Erwartungen usw. Könnte doch sein, dass der einfältige pathetisch-hymnische Gestus von Tschaikowsky hingenommen wurde von ihm selbst? Mit Absicht? Und dann mit Übertreibung? Es bleibt da wohl nur die Offenheit, die sich trotzdem Gedanken macht, um nicht ins Beliebige rutschen. Ach, immer diese Arbeit, selbst im Vergnügen. Immerhin würde ich den Komponisten, die sich eine Materialermüdung zu Schulden kommen lassen, diese erlassen. Konstruktionen blühen doch selten, Bach ist zwar ein Dauergärtner, aber lassen wir ihn besser dort, wo er ist, tief im Herz, das im Leben kein Maßstab ist. Nicht ohne Enttäuschung.

    soulpopeIch will weder die gut strukturierte Argumentation von „gruenschnabel“ noch Deine Replik entwerten muss aber anmerken dass mich bspw vor vielen Jahren Svetlanov mit dem London Philharmonic Orchestra durch eine (be)rauschende Tschaikowsky 5 in einem Fest der Sinne trug …. ermüdet war danach nur ich und zwar vor ausgelebter Begeisterung …. mglw hätte das Svetlanov an diesem Abend auch mit ein Doktor Zhivago Potpourri erreicht – das kann ich nicht ausschließen …

    Bach als Gärtner …. bei mir wohl eher ein uralter knorriger Rebstock der sich Jahr für Jahr aus Untiefen den Saft für die Blüte holt ….

    gruenschnabelWie einer scheitert, enttäuschte Erwartungen, Ambivalenzen/Unentschiedenheit nicht nur aushalten, sondern wirklich zulassen – das alles begreife ich als Vorgänge und Resultate, die nicht nur in der Musik ihren ganz wichtigen Stellenwert haben. Und es ist einfach nicht wichtig, ob ich Tschaikowskis Material als ungeeignet erlebe. Aber dass es Begegnungen gibt, in welchen Tschaikowskis vermeintliches Scheitern vermittelbar ist oder sein Ringen um die Form bei soulpope sogar zum sinnlichen Fest geführt hat, ist für mich entscheidend.

    Clasjaz, bei meiner Online-Suche nach weiteren Stimmen zum Finale fielen mir nach deiner Frage zur Akzeptanz von Offenheit/Ungelöstheit/Widersprüchlichkeit(?) zwei ins Auge, die sehr namhaft und bezeichnenderweise kontrovers sind: Die eine, von Andris Nelsons, kann dem Satz etwas zusprechen, das ich nicht teilen, aber sehr gut in meinen Blick darauf aufnehmen kann. Nelsons spricht von einem unerfüllten Finale, das in einem Konflikt endet und damit sogar als (hinsichtlich Tschaikowski wohl biografische) Reflektion von konfliktbehaftetem Leben gelten kann. Wie man unschwer erkennen kann, ist das so ziemlich das Gegenteil von dem, was ich höre – ich verstehe dies aber nicht als eine negative Problematik. Und ganz abgesehen davon, dass es Nelsons ist und er das im Gegensatz zu mir nicht laienhaft plappernd in die Welt setzt: Beim nächsten Mal werde ich die Musik sicherlich anders hören – da ist Lebendigkeit, die aber mit Beliebigkeit für mich nichts zu tun hat.

    Die andere Stimme kommt vom Komponisten selbst und springt einem auf Wikipedia entgegen: Tschaikowski habe die Fünfte als „misslungenes Werk“ abgewertet und damit wohl auf die Finalproblematik abgehoben. Gut, dass der Schöpfer nicht auch noch Deutungshoheit beanspruchen kann. Die Musik kann sich über sein Urteil hinwegsetzen.

    Zu Gould: Ich kenne dessen Eingriff in das Mozart-Konzert nicht, aber (auch) ich stehe dem zunächst offen – und bei Gould parteiisch und positiv vorurteilend – gegenüber. Der von dir weniger geschätzte Brendel steht in meiner Erinnerung als deutlicher Gould-Kritiker da. Und ich meine, dass dies in erster Linie mit dem von Brendel ja so hochgehaltenen Prinzip der „Werktreue“ zu tun hat oder zumindest haben müsste. Und so sehr ich Brendel selbst verehre und die Werktreue (wahrscheinlich unter etwas anderen Vorzeichen) ebenfalls als künstlerische Verpflichtung verstehe, schlage ich mich schon mal grundsätzlich auf Goulds Seite. Der wiederum sieht ja Möglichkeiten zur Veränderung des und zum Eingriff ins Material, wenn dies durch eine erhöhte musikalische Überzeugungskraft gerechtfertigt sei. Kurz gesagt: wenn man die Komposition dadurch verbessern könne. Im Sinne der Lebendigkeit musikalischer Überlieferung und auch der Mündigkeit von Interpreten und Hörern nehme ich Gould sein schöpferisch orientiertes Selbstverständnis als Künstler nicht nur ab, sondern es mit großer Dankbarkeit entgegen. Ich muss mir den Mozart aber wirklich zulegen, die Spannung lässt mich wohl jetzt nicht mehr los.

    Vor dem Schlafengehen werde ich mir jetzt noch Kopatchinskajas wie auch immer „werktreues“ oder „exzentrisches“ Verständnis des zweiten Prokofieff- sowie des Strawinski-Konzertes vergegenwärtigen.

    --

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    #10045237  | PERMALINK

    j-w
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    Beiträge: 40,379

    Klingt nicht so, als könnte ich hier mitreden auch wenn ich schon ein paar Hundert Songs geschrieben habe… ;-) (but that’s okay!)

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    Staring at a grey sky, try to paint it blue - Teenage Blue
    #10045241  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 67,059

    Nun, übers Handwerkliche kann ich nun überhaupt nicht mitreden, das könntest Du dann wohl deutlich besser … mag sein, dass das hier alles nur Rumgemeine ist, aber ich werde auf jeden Fall anders an die Fünfte von Tschaikowski herangehen, wenn ich das dann dereinst tue. :-)

    @gruenschnabel: Du erwähnst Interviews von Gielen über Mahler – wo findet man diese bzw. könntest Du sie (privat, falls angebracht) zur Lektüre zur Verfügung stellen?

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    #10045329  | PERMALINK

    gruenschnabel

    Registriert seit: 19.01.2013

    Beiträge: 6,129

    gypsy-tail-windNun, übers Handwerkliche kann ich nun überhaupt nicht mitreden, das könntest Du dann wohl deutlich besser … mag sein, dass das hier alles nur Rumgemeine ist, aber ich werde auf jeden Fall anders an die Fünfte von Tschaikowski herangehen, wenn ich das dann dereinst tue. ?
    @gruenschnabel: Du erwähnst Interviews von Gielen über Mahler – wo findet man diese bzw. könntest Du sie (privat, falls angebracht) zur Lektüre zur Verfügung stellen?

    Michael Gielen/Paul Fiebig: Mahler im Gespräch – Die zehn Sinfonien. Stuttgart 2002.

    Ich habe das ganz klassisch in Buchform hier. Solange du demnächst keinen Norddeutschland-Aufenthalt geplant hast, könnte ich es dir gerne postalisch zur Verfügung stellen.

    Zum Thema „Rumgemeine“: Mir ist nicht ganz klar, warum dieser Ausdruck gerade hier ins Spiel kommt. Weder würde ich ihn auf die Äußerungen Gielens, Tschaikowskis und Nelsons‘ beziehen wollen, die darauf angewiesen sind, künstlerische Haltungen zu entwickeln, die über rein materialästhetische Überlegungen hinausgehen, noch würde ich ihn auf unseren laienhaften Austausch hier münzen wollen: Was können wir denn mehr tun, als uns anhand unserer persönlichen Empfindungen und Gedanken auf bestimmte – im besten Fall begründete und nachvollziehbare, aber in jedem Fall authentischem Erleben entspringende – Aspekte aufmerksam zu machen, um überhaupt an kulturellem Leben teilzunehmen bzw. überhaupt eine lebendige Kultur zu haben?
    Ich stehe ja selbst dem einfachen Besternen von Tracks und Alben nicht kritisch gegenüber – das ist vielleicht die puristischste Form des Rummeinens, aber eben dennoch im sozial-medialen Raum zumindest Teilhabe und Impuls. Wenn aber dann Diskussionen über Werke, Künstler und allgemeinere ästhetische Fragen entstehen, geht das m.E. doch über das „bloße“ Rummeinen hinaus, solange man nicht zusammenhangslos apodiktische Prämissen und Urteile raushaut. Gerade hier wurde doch zu weiten Teilen versucht, über dieses „Ich finde es so und du findest es so und damit aus, Ende und zum Nächsten“ hinauszukommen.
    Was ich für mich entschieden ablehnte und auch weder dem Wesen dieses Forums noch dem von Kunst (keine weitere Definition an dieser Stelle) entspräche, wäre der Verzicht auf Kundgabe und ästhetische Reflexion, auf eine Ausdehnung von Dialogizität über nackte Faktizität hinaus.

    zuletzt geändert von gruenschnabel

    --

    #10045373  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    gruenschnabelMichael Gielen/Paul Fiebig: Mahler im Gespräch – Die zehn Sinfonien. Stuttgart 2002.
    Ich habe das ganz klassisch in Buchform hier. Solange du demnächst keinen Norddeutschland-Aufenthalt geplant hast, könnte ich es dir gerne postalisch zur Verfügung stellen.

    Ach so, so naheliegend … danke für das Angebot, aber das wird gewiss nicht nötig sein, der Band liegt bestimmt hier in der Bibliothek oder ich besorge ihn mir!

    gruenschnabelZum Thema „Rumgemeine“: Mir ist nicht ganz klar, warum dieser Ausdruck gerade hier ins Spiel kommt.

    Das war blöd, zugegeben, aber ich will das nur auf meine eigenen Beiträge verstanden wissen, da ich beim Thema Komponieren ganz auf Zweitmeinungen bzw. Angelesenes bauen muss, anderes Wissen nicht zur Verfügung habe.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #10045405  | PERMALINK

    gruenschnabel

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    gypsy-tail-wind

    gruenschnabelMichael Gielen/Paul Fiebig: Mahler im Gespräch – Die zehn Sinfonien. Stuttgart 2002.
    Ich habe das ganz klassisch in Buchform hier. Solange du demnächst keinen Norddeutschland-Aufenthalt geplant hast, könnte ich es dir gerne postalisch zur Verfügung stellen.

    Ach so, so naheliegend … danke für das Angebot, aber das wird gewiss nicht nötig sein, der Band liegt bestimmt hier in der Bibliothek oder ich besorge ihn mir!

    gruenschnabelZum Thema „Rumgemeine“: Mir ist nicht ganz klar, warum dieser Ausdruck gerade hier ins Spiel kommt.

    Das war blöd, zugegeben, aber ich will das nur auf meine eigenen Beiträge verstanden wissen, da ich beim Thema Komponieren ganz auf Zweitmeinungen bzw. Angelesenes bauen muss, anderes Wissen nicht zur Verfügung habe.

    Entschuldigung, das hätte ich jetzt nicht gedacht, da ich von dir zum Thema „Komponieren“ noch nichts gelesen habe, das ich im abwertenden Sinne mit „Rumgemeine“ in Zusammenhang gebracht hätte. Mit „Wissen“ ist vieles von dem, was in diesem neuen Thread steht (Dank dafür an dich), m.E. auch nicht getroffen. Aber zwischen „Wissen“ und „Rumgemeine“ gibt es ja glücklicherweise noch so einiges.

    Übrigens steht auf dem Buchrücken dieser Mahler-Gespräche Folgendes: „Dabei geht es ihm [Gielen] nicht um persönliche Bekenntnisse, sondern um die Vermittlung objektiver Einsichten in Form, Struktur und ideellen Gehalt der Musik.“
    Aber der Begriff ‚objektiv‘ ist natürlich auch hier nicht nur mit reiner Faktizität und Unhinterfragbarkeit in Verbindung zu bringen – auch Gielen spricht in so einer Art hermeneutischen Bewegung zwischen materialästhetischer und biografischer Faktizität und schlussfolgernder, weiterführender persönlicher Interpretation.

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    #10045435  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Danke für die Erläuterung zum Buch von/mit Gielen – das klingt tatsächlich interessant! Ich höre ja gerade zum ersten Mal Aufnahmen unter seiner Leitung (nebst der Bruckner-Box ist noch die Fünfer-Box – mit einzeln erhältlichen Aufnahmen – da, die Hänssler zum 75. herausgebracht hat).

    Und Du hast schon recht, das „Rumgemeine“ war eine gar salopp geratene Reaktion auf j.w.s Post. Ich hoffe ja – und bin aufgrund Deiner Aussage diesbezüglich beruhigt – dass meine meist zurückhaltenden Äusserungen nicht als Rumgemeine rüberkommen. Aber ab und zu habe ich halt die Befürchtung, dass die eine oder andere Äusserung in einem weniger wohlgesinnten Umfeld als diesem hier als haltlose Behauptung betrachtet werden könnte bzw. dass man halt merkt, dass mein Wissen angelesen und relativ dürftig ist. Umso mehr schätze ich es, wenn ein solcher Austausch wie der oben zusammengetragene zustande kommt, auch wenn ich dann oft nur am Rand stehe und zuhöre. Meine kurze Einlassung zum „billigen Einfall“, die ja immerhin zum Fortlaufen der Diskussion führte, war ja z.B. ein Versuch, einen ähnlichen Nachtrag zu liefern, wie @clasjaz es davor getan hatte, als Reaktion auf das ursprüngliche Gielen-Zitat bzw. die von Gielen wiedergegebene Aussage von Steuermann. Aber in der gedanklichen Tiefe und Schärfe bringe ich das dann eben doch selten hin, dafür ist mir die Klassik als Ganzes noch zu unvertraut. Ich habe zwar Unmengen gehört in den letzten Jahren, aber sehr wenig darüber gelesen und daher ausser unmittelbaren Höreindrücken wenig Basis zur Reflexion. Das will ich aber ändern, doch wie so oft mit diesen Plänen wird das dauern (der Lektürestapel ist hoch und besteht zu gleichen Teilen aus Romanen, Historischem und Musikbüchern, von letzteren sind dann aber drei Viertel dem Jazz gewidmet). Doch genug von mir.

    --

    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #10045545  | PERMALINK

    Anonym
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    Also wirklich, man kommt ja nicht mehr hinterher … Vielmals danke, gypsy, für’s Zurechtrücken! Den Gielen-Band, ich hatte ihn nur aus der Bibliothek geliehen, kann ich gleichfalls sehr empfehlen, auch eben für ein Exempel, wie aus vielen Querverbindungen, die sich aufwerfen lassen (gruenschnabel hat’s gesagt mit dem Zusammengehen von Biografischem), dennoch immer wieder ein zündendes Gespräch möglich ist, womöglich sogar gerade dadurch ermöglicht wird. Zum Buchrücken-Text möchte ich zustimmend ergänzen, dass in der Kunst Subjektivität immer den Anspruch auf Objektivität erhebt, die alte Geschichte des „Ansinnens“ einer Übereinstimmung in der Auffassung des Schönen – aber nicht die Oktroyierung einer Meinung. Darin liegt neben der gesetzlosen, raschen Auslegung an Stammtischen, von der wir uns hier doch sehr angenehm fernhalten, schlicht etwas Tröstliches.

    Was die Werktreue betrifft, so stolpere ich seit jeher darüber: dass angeblich werktreue Interpretationen mir so unsäglich langweilig erscheinen können, andere – mit Freiheiten – gar nicht. Und ich meine nicht Brendel; mit ihm kann ich zuweilen schon etwas anfangen, aber seine Aversion gegen Gould halte ich für einen weisen Mann eher unpassend. Was mich nicht abhalten würde, ihn zu hören. Dies aber nur als Einstreu. Das Bizarre mag doch sein, dass eine Treue zu etwas gewahrt sein soll, das sich erst im Spiel überhaupt als etwas herausstellen kann, auf das erst dann Bezug genommen werden könnte, um ihm treu zu sein. Also so etwas wie die rhetorische Figur des Späteren vor dem Ersteren. Und was ist schon ein „Andante“? Man kann auf verschiedene Weise leicht bewegt latschen. Wo erweist sich da die Treue? Gewiss in den Noten, wie sie dann latschen, aber der Blick ist nun einmal gelenkt, ein Wirrspiel fast zwischen Notentext und Interpretenaugen. Jeder Jeck machts anders: Arrau hat die halbe Kulturgeschichte, habe ich gelesen, um ein Werk und den Komponisten herum gelesen, trotzdem ist ihm auch nicht mehr Grandioses gelungen (die Etudes von Chopin!, die Préludes, die ich ihm fast nicht zugetraut hätte) – ich meine Inselgeschichten – als anderen, die weniger belesen waren. Und von Allegri zu schweigen, was für ein Gehüpfe ist möglich und erst so etwas wie das Prestissimo in op. 109 von Beethoven oder der Schlusssatz aus Chopins zweiter Klaviersonate, in dem fast nichts übrig bleiben darf.

    Wenn da nun jemand etwas „verbessert“, tut er es aus dem weiteren Gang der Dinge heraus. So gesehen könnte man auch sagen – aber immer unter der Voraussetzung, dass einem teleologisches Denken zumindest für eine Weile gefällt -, dass Mendelssohn Beethovens Streichquartette verbessert hat, oder Beethoven diejenigen Mozarts. In der Regel spricht man da eher von „Einfluss“. Aber ein Interpret könnte ja doch einfach seine Einflüsse auch ausdehnen und Werktreue würde dann Abweichungen vom Notentext zulassen, nicht so sehr im moralischen Sinn des Verbesserns, sondern in der schlichten Bemühung ums „Sehen“, wie die Dinge sein können.  Ein Ansinnen eben, ein Vorschlag. Wo jeder die Grenze zur Albernheit zieht, steht dann wieder auf einem anderen Blatt.

    Dass Tschaikowsky die fünfte Symphonie für misslungen hielt, könnte ein Zeichen dafür sein, dass er an einem wunden Punkt war. Gewöhnlich kommt man mit ihnen nicht klar, sondern ist wund. (Es würde mich nicht wundern, wenn Svetlanov genau das herausgetrieben hat damals.) Ich habe da tatsächlich keine Ahnung, aber wie hat die Sechste Abhilfe schaffen können, für Tschaikowsky? Und, gruenschnabel, kennst Du die „Symphonie Pathétique“ von Klaus Mann? Das ist so lange her, dass ich das Buch gelesen habe, ich erinnere mich aber sehr gut an den  Versuch, aus dem Komponisten herauszuschauen beim Komponieren. Das gelang Klaus Mann, immer auf Abgrenzung zum Herrn Papa bedacht, der in Ironie, wenn auch etwas langweiliger, bewanderter war, vielleicht. Also, Einstreu zwei, Klaus Mann kannte keine Ironie. Tschaikowsky vermutlich, so wie ich ihn bisher gehört habe, auch nicht.

    Nicht, dass Ironie erforderlich wäre, um Himmels willen. Und Ironie erleichtert auch nicht das Scheitern. Es sind die Gedankengesten, die man einnehmen kann, und auch eine Fixierung auf eine Treue zum Werk, das schlichterdings nicht so existiert wie ein Apfel auf dem Tisch (pardon, Cézanne et al. würden mich hier zerfleischen, ich sags ja auch nur zum Reizen), ist eine gedankliche Geste. Eine Selbstorientierung, die das Selbst – gleiche Geschichte wie mit dem Werk – auch erst herstellt in der Orientierung. Und diese Gedankengesten werden dann übersetzt in Sprachen: musikologische, metaphorische, meinende. Es bleibt das Kaleidoskop. Und z. B. die Befriedigung, wenn Leute wie Kopatchinskaja auftauchen.

    Das Mozartkonzert – unter Walter Susskind (Süßkind) – ist wirklich das viele Hören wert. Es gibt noch andere Mitschnitte, aber entscheidend ist die Sache unter Susskind. Und ich rätsele jetzt mal weiter, warum die Juilliards damals keinen Bock mehr auf Gould bei Schumann hatten (Bernstein hat dann übernommen).

    Gould nehme ihnen das Heft aus der Hand, sagte man. Glaube ich ja nicht, also gut, noch einmal.

    Ja, und Horszowski mit dem WTK. Warum hat er nicht auch noch das Zweite Buch eingespielt, bitteschön? Der Mann hat eine rätselhafte Diskografie, fast so, als hätte er meist anderes zu tun gehabt als Platten aufzunehmen.

    --

    #10045623  | PERMALINK

    gruenschnabel

    Registriert seit: 19.01.2013

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    clasjaz
    Was die Werktreue betrifft, so stolpere ich seit jeher darüber: dass angeblich werktreue Interpretationen mir so unsäglich langweilig erscheinen können, andere – mit Freiheiten – gar nicht. Und ich meine nicht Brendel; mit ihm kann ich zuweilen schon etwas anfangen, aber seine Aversion gegen Gould halte ich für einen weisen Mann eher unpassend. Was mich nicht abhalten würde, ihn zu hören. Dies aber nur als Einstreu. Das Bizarre mag doch sein, dass eine Treue zu etwas gewahrt sein soll, das sich erst im Spiel überhaupt als etwas herausstellen kann, auf das erst dann Bezug genommen werden könnte, um ihm treu zu sein. Also so etwas wie die rhetorische Figur des Späteren vor dem Ersteren. Und was ist schon ein „Andante“? Man kann auf verschiedene Weise leicht bewegt latschen. Wo erweist sich da die Treue? Gewiss in den Noten, wie sie dann latschen, aber der Blick ist nun einmal gelenkt, ein Wirrspiel fast zwischen Notentext und Interpretenaugen. Jeder Jeck machts anders: Arrau hat die halbe Kulturgeschichte, habe ich gelesen, um ein Werk und den Komponisten herum gelesen, trotzdem ist ihm auch nicht mehr Grandioses gelungen (die Etudes von Chopin!, die Préludes, die ich ihm fast nicht zugetraut hätte) – ich meine Inselgeschichten – als anderen, die weniger belesen waren. Und von Allegri zu schweigen, was für ein Gehüpfe ist möglich und erst so etwas wie das Prestissimo in op. 109 von Beethoven oder der Schlusssatz aus Chopins zweiter Klaviersonate, in dem fast nichts übrig bleiben darf.
    Wenn da nun jemand etwas „verbessert“, tut er es aus dem weiteren Gang der Dinge heraus. So gesehen könnte man auch sagen – aber immer unter der Voraussetzung, dass einem teleologisches Denken zumindest für eine Weile gefällt -, dass Mendelssohn Beethovens Streichquartette verbessert hat, oder Beethoven diejenigen Mozarts. In der Regel spricht man da eher von „Einfluss“. Aber ein Interpret könnte ja doch einfach seine Einflüsse auch ausdehnen und Werktreue würde dann Abweichungen vom Notentext zulassen, nicht so sehr im moralischen Sinn des Verbesserns, sondern in der schlichten Bemühung ums „Sehen“, wie die Dinge sein können. Ein Ansinnen eben, ein Vorschlag. Wo jeder die Grenze zur Albernheit zieht, steht dann wieder auf einem anderen Blatt.
    Dass Tschaikowsky die fünfte Symphonie für misslungen hielt, könnte ein Zeichen dafür sein, dass er an einem wunden Punkt war. Gewöhnlich kommt man mit ihnen nicht klar, sondern ist wund. (Es würde mich nicht wundern, wenn Svetlanov genau das herausgetrieben hat damals.) Ich habe da tatsächlich keine Ahnung, aber wie hat die Sechste Abhilfe schaffen können, für Tschaikowsky? Und, gruenschnabel, kennst Du die „Symphonie Pathétique“ von Klaus Mann? Das ist so lange her, dass ich das Buch gelesen habe, ich erinnere mich aber sehr gut an den Versuch, aus dem Komponisten herauszuschauen beim Komponieren. Das gelang Klaus Mann, immer auf Abgrenzung zum Herrn Papa bedacht, der in Ironie, wenn auch etwas langweiliger, bewanderter war, vielleicht. Also, Einstreu zwei, Klaus Mann kannte keine Ironie. Tschaikowsky vermutlich, so wie ich ihn bisher gehört habe, auch nicht.
    Nicht, dass Ironie erforderlich wäre, um Himmels willen. Und Ironie erleichtert auch nicht das Scheitern. Es sind die Gedankengesten, die man einnehmen kann, und auch eine Fixierung auf eine Treue zum Werk, das schlichterdings nicht so existiert wie ein Apfel auf dem Tisch (pardon, Cézanne et al. würden mich hier zerfleischen, ich sags ja auch nur zum Reizen), ist eine gedankliche Geste. Eine Selbstorientierung, die das Selbst – gleiche Geschichte wie mit dem Werk – auch erst herstellt in der Orientierung. Und diese Gedankengesten werden dann übersetzt in Sprachen: musikologische, metaphorische, meinende. Es bleibt das Kaleidoskop. Und z. B. die Befriedigung, wenn Leute wie Kopatchinskaja auftauchen.
    Das Mozartkonzert – unter Walter Susskind (Süßkind) – ist wirklich das viele Hören wert. Es gibt noch andere Mitschnitte, aber entscheidend ist die Sache unter Susskind. Und ich rätsele jetzt mal weiter, warum die Juilliards damals keinen Bock mehr auf Gould bei Schumann hatten (Bernstein hat dann übernommen).

    Gould nehme ihnen das Heft aus der Hand, sagte man. Glaube ich ja nicht, also gut, noch einmal.

    Im Booklet steht dazu: „Fest steht jedenfalls, dass es während der Produktion zu einem regelrechten Zerwürfnis zwischen Gould und dem Julliard Quartet gekommen war.“ Das bei denen zumindest emotional der Eindruck entstanden war, ihnen sei das Heft des künstlerischen Handelns „aus der Hand“ genommen worden, kann ich mir schon vorstellen. Frau Schwarzkopf womöglich ebenfalls, würde sienoch leben.
    Dass aber ausgerechnet Bernstein dann am Klavier „übernommen“ hat, ist ja schon fast witzig. Wie war das noch beim ersten Brahms-KK:
    „I have only once before in my life had to submit to a soloist’s wholly new and incompatible concept and that was the last time I accompanied Mr. Gould.“
    Aber nun: Ich höre das Klavierquartett – und keinerlei Brüchigkeit des Ensembles, sondern Hitze. Beim Quintett hingegen etwas eher „Gepflegtes“. Ich kenne Bernstein als Pianist sonst überhaupt nicht. Aber über eine stützend-begleitende „Rolle“ kommt er hier für meine Ohren nicht hinaus.

    Klaus Mann: Ja, den Roman habe ich vor vielleicht 20 Jahren gelesen. Kann und möchte mich dazu aber nicht äußern. Mit der Erinnerung hakt es leider öfter mal bei mir, und bevor ich einen ähnlichen Unsinn schreibe wie über Brendels Verhältnis zur ‚Werktreue’…

    Das tut mir nämlich jetzt echt furchtbar leid. Furchtbarer Quatsch war das mit Brendel, meine Erinnerung hat mich sowas von im Stich gelassen… und da sie zu mir gehört, habe ich die volle Verantwortung: Was auch immer Brendels Vorbehalte gegen Gould sein mögen, das mit der ‚Werktreue‘ nehme ich völlig zurück. Brendel geht sehr differenziert und kritisch mit dem Begriff um und plädiert sogar dafür, ihn und auch den Begriff der „Textreue aus dem Sprachgebrauch zu entfernen“. Er spricht sich gegen pedantische Buchstabengläubigkeit und -folgsamkeit aus, ohne jedoch einer „Protesthaltung der Autorität des Komponisten gegenüber“ zu frönen.
    Clasjaz, deinen Einwänden würde er wohl mindestens zu einem guten Teil beipflichten.

    Um überhaupt noch etwas zum Thread-Titel beizutragen: Ich bin mittlerweile zur Überzeugung gelangt, dass sich Künste und damit auch Musik ziemlich unfein, kratzbürstig und absichtsvoll einem „Regelmaß“ entziehen. Kaum haben Musikwissenschaftler (jeweils epochal gebundene) ästhetische Tendenzen, Kriterien und Regeln entdeckt und formuliert, dreht ihnen die Avantgarde rasch eine lange Nase.
    Richard Strauss hatte darunter kraft seines Gemüts zwar vielleicht nicht so viel zu leiden, aber er galt ja zumindest als reaktionärer Spätromantiker, als überholter Komponist alten Schlages.
    Nur: Auch das ist ja dann nicht das letzte Wort. Ich traue mich fast nicht mehr, meiner Erinnerung zu vertrauen, aber hat Gould nicht ausdrücklich Strauss‘ Qualität als Komponist als ausschlaggebenden Grund für seinen verdient hohen Stellenwert betont? Nach dem Motto: Ein guter Komponist wird nicht ein schlechter Komponist, weil er zur falschen Zeit gut komponiert?

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    #10045719  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Zum Threadtitel liess ich mich von der Bemerkung von @clasjaz drüben im Bruckner-Thread bzw. auch ursprünglich im Hörthread inspirieren – wo natürlich umgehend das Dementi folgte: „so war das mit Beethoven nicht gemeint, purer Zufall“.

    Aber das passt doch ganz gut, ist doch in der Musik immer so, dass Regeln aufgestellt werden, mal von denen, die die Musik machen, mal von anderen: sei es das Publikum, seien es – selbsterklärte oder andere – „Autoritäten“, oder sei es das Publikum, das letzteren wie Schafe blökend nachfolgt. Dass Regeln auf diese Weise oft erst nach dem oder hinter dem Werk, oder auf dem Rücken des Werks formuliert werden, ist ja auch nichts Neues. Dass Musiker diese Regeln dann wiederum als Sprungbrett nehmen, diese Regeln zu überschreiten, sei es nun bewusst oder auch nicht (im Glauben, sich noch in diesen Regeln zu befinden – und dann mit grosser Verwunderung auf folgende Ablehnung reagierend, wenn die Schafe oder deren Hirten vor den Kopf gestossen sind), ist ja wiederum auch nichts als logisch. Mir gefällt die Diskussion hier insgesamt sehr, denn gerade solche Überlegungen stellte ich bisher beim Hören klassischer Musik noch nicht oft an – und sie helfen doch auch, das Mass irgendwie aufs Menschliche zurückzubinden. Ich gucke gerade auch die sechsteilige TV-Serie „Mythos Beethoven“ (lief neulich … wohl auf 3sat), da wird auch zwischen Biographie, äusseren Ereignissen, Begegnungen, inneren Befindlichkeiten, körperlichen Gebrechen usw. jongliert, auf eine durchaus anregende Art und Weise finde ich … die Biographie von Jan Cayers, der da – neben Rudolf Buchbinder, der natürlich auch viel spielt – am häufigsten zu Worte kommt, habe ich bereits bestellt. Allerdings ist es dann doch auch wieder so, dass Beethoven – gerade in seinem sichtbar gemachten Menschsein, wiederum unglaublich beeindruckt – aus der Demaskierung wächst gewissermassen ein neuer, noch eindrücklicherer Mythos, wenn man so will – oder wenigstens eine Gestalt, die denen der Mythen in der einen oder anderen Eigenheit durchaus ebenbürtig zu sein scheint.

    --

    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #10045989  | PERMALINK

    Anonym
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    Bernstein als Pianist kenne ich sonst auch nur – wieder mit den Juilliards – von Mozarts Klavierquartetten. Die ich als ziemlich zupackend in Erinnerung habe, ich müsste suchen, habe ich vor langer Zeit aus dem Radio mitgeschnitten (nein, keine Liveübertragung …).

    Danke für die Ergänzung zu Brendel, das hört sich gut an. Ich bin auch wirklich kein Brendelbeschimpfer, es ist nur, dass ich bisher von seinem Spiel noch nicht so getroffen wurde, wie er es womöglich meint. Das, der Gedanke und die reale Umsetzung bleiben so oft zwei verschiedene Dinge, weshalb die Wahrnehmung ihres Zusammentreffens durch einen Dritten, vulgo Hörer, diesen dann so beglückt. Das kann sich bei mir gewiss noch ändern. Und die Äußerungen der Musikerkollegen unter- und übereinander sind wohl nicht selten einfach einer Lässigkeit des Betriebs (da spielen auch die von gypsy erwähnten Schäfchen eine Rolle, denen der Wolfinterpret auf einmal folgt, ohne es letztlich zu wollen) geschuldet. Eines habe ich, soweit ich Goulds Schriften bisher vor mir hatte, immer geschätzt: Gould ist selten abfällig in seinen Äußerungen. Manchmal deutlich, aber wenn er etwas nicht nachvollziehen kann, dann belässt er es dabei.

    Zu seiner Verteidigung von Strauss. Ich werfe mal ein, dass die Wertschätzung des Theoretischen – der musikalischen Kenntnis, des Komponierens – bei Gould reichlich auf einem präzise emotionalen Enthusiasmus beruht und auch nur auf diesem Bathos für ihn interessant zu sein schien. Dann ist es unerheblich, ob etwas „veraltet“ oder nicht „zeitgemäß“ ist oder je aktuellen Regeln zuwiderläuft. Es gibt da einen Text von Gould über einen Fälscher von Gemälden, ich habe den Namen vergessen, jedenfalls hatte da ein Mann, Holländer oder Belgier, Bilder wie Vermeer van Delft gemalt und das auch druntergeschrieben. Hoch gelobt und begrüßt, die neuen Vermeers. Bis die Sache aufflog, da waren die Bilder auf einmal nur Schrott wert. Da setzt Gould dann an und fragt sich, was das denn, übertragen auf die Verhältnisse in der Musik, überhaupt heißen solle, Mendelssohn sei so gut wie Beethoven oder wahlweise er habe ihn ja nur kopiert. Das Wissen um den zeitlichen Kontext – fast hätte ich gesagt: die zeitliche Zeit – scheint entscheidend zu sein, obwohl auch albern. Für die Werktreue bedeutet das etwas Seltsames, was Brendel vielleicht auch meinte: Es gibt sie nicht, wir haben nur die Fetzen, die uns vorgelegt werden und es ist eine nicht geringe Arbeit, aus Fetzen ein halbwegs sitzendes Kleid oder einen Anzug, die nicht von der Stange kommen, zu schneidern. Und dann wieder die tausend Geschmäcker …

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    #10047023  | PERMALINK

    gruenschnabel

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    Nochmals zu clasjaz, der oben Folgendes sagte: „Mit der Dur-Geschichte bei Tschaikowsky (…) erinnerst du mich an Goulds Aufbesserung von Mozarts Klavierkonzert Nr. 24, KV 491. Halte ich, nebenbei, immer noch für die packendste Einspielung des Konzerts. Also na ja, wenn ich mich richtig erinnere, hat Gould eine Dur-Geschichte im Schlusssatz gestört, die er hopps geändert hat.“ Und dann später: „Das Mozartkonzert – unter Walter Susskind (Süßkind) – ist wirklich das viele Hören wert. Es gibt noch andere Mitschnitte, aber entscheidend ist die Sache unter Susskind.“

    Die Susskind-Aufnahme kenne ich, aber ich habe gar nicht in Erinnerung, dass Gould da irgendwo eine Tonart verändert. Deshalb dachte ich nach deiner ersten Äußerung, dass du wohl eine andere Einspielung meinen müsstest. Weißt du, in welcher Variation oder an welcher Stelle genau die Abänderung vorkommen soll?

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    #10047039  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    „Meine“ Version von KV 491 bleibt wohl die von Rubinstein mit Krips … aber ich wüsste auch zu gerne, welche Stelle Gould denn geändert hat, um das gelegentlich mal vergleichend zu hören.

    Dass Gould einen Vergleich mit Gemälden macht, ist natürlich interessant. Gestern schaute ich die letzten beiden Folgen der Reihe „Mythos Beethoven“ (tatsächlich auf 3sat, also wohl in keiner Online-Mediathek oder sowas), und gegen Ende macht Rudolf Buchbinder auch einen Vergleich, aber anderer Art: ein Gemälde, wenn es denn mal fertig sei, an der Wand hänge, bleibe für immer gleich, die Musik hingegen (er bezieht sich da natürlich primär auf die Klaviersonaten von Beethoven, die er über die ganze Reihe gespielt und kommentiert hat) sei „unsterblich“, weil es keine Gewissheit darüber geben könne, wie Beethoven es gemeint habe, wie er es genau gespielt haben wollte etc. (Und ich würde anfügen: auch bei Zeitgenossen, die das vielleicht artikulieren, mag das nicht die letzte Wahrheit sein … ich halte recht wenig von der Deutungshoheit der Urheber, zumal im abschliessenden Sinne, auch wenn ich deren Ansichten natürlich auch nicht unbegründet zur Seite wischen wollte, bloss bin ich für ständiges Hinterfragen, fürs Lesen zwischen den Zeilen und durchaus auch fürs Aufzeigen argumentatorischer Schwächen oder Fehler oder blinder Flecke etc. … und in diesem Sinne kann man natürlich auch über ein Gemälde, eine Plastik, noch Jahrhunderte nach seiner Schöpfung trefflich debattieren, aber das wäre dann endgültig was für den Interpretations-Thread ;-) )

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    #10047935  | PERMALINK

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    Meine Hausaufgaben habe ich jetzt gemacht; mit den anderen Mitschnitten meinte ich die von Gould existierenden; Rubinstein und Krips sind auch bei mir an der Baumgrenze, aber für den Beginn des Klaviers im c-moll-Konzert und etliche andere, ständig wie von selbst überlegende, nicht einfach nur schöne-gute Dinge, bleibt es für mich bei Gould.

    Ich habe mich geirrt und etwas durcheinandergebracht. Wir hatten hier vor Jahren einmal die Frage, wie sehr das Zitieren erlaubt sei – finde ich immer noch sehr bekloppt; wer etwas sagt, solls sagen und zitiert werden können, ohne Geld nehmen zu müssen, andere Geschichte. Da ist eine Bemerkung bei Kevin Bazzana („Glenn Gould – oder die Kunst der Interpretation“), Gould habe eine Neigung zu Ergänzungen gehabt (S. 73). Es gebe einige Hinzufügungen – gibt es auch  (Takt 9-12, 190 – 194, erster Satz).  Jedenfalls hätte ich mich hier schon geirrt, ist ja nicht der Schlusssatz von KV 491 und außerdem keine Modulationsveränderung.

    Nicht, dass mir Bazzana wichtig wäre, er ist so ein Plauderer, sehr deutlich mit dem PC arbeitender Mensch, also Wiederholungen … Egal, weiter. Meine Erinnerung stammte aus Monsaingeon, „Le dernier puritain“, der Mozart-Text dort, es muss auch noch den Plattentext zur damaligen Veröffentlichung geben, Mozart kombiniert mit Schönbergs Klavierkonzert, und jedenfalls habe ich da etwas verwechselt. Das zitiere ich jetzt mal halbwegs – weil ich nicht weiß, wer hier Französisch spricht – aus Stegemanns Gouldbuch. Es ging bei der Tonart nicht um KV 491, sondern um 482. Für Gould hört sich da etwas nach Kreide an, es kratzt wie auf einer Schiefertafel, ein Behelf wäre gewesen, dem C-Dur-Akkord eine Ausweichung nach c-moll folgen zu lassen, um dann über den Umweg einer Doppeldominante das eingestrichene d zu erreichen, damit das wenigstens hier halbwegs klar würde. Falls Monsaingeon nicht etwas nach Art von Mendelssohn und Hummel bevorzugen würde.

    Im Übrigen sei – und da sind die Änderungen im c-moll-Konzert, Mozart ein rechtshändiger Komponist gewesen, weshalb man ihm – Gould weiß, dass Mozart da überhaupt ziemlich viel Spiellaune zulässt und wenig vorschreibt also offenlässt – ein paar linkshändige Stützen geben könne. Und die seien eben im c-moll-Konzert erfolgt. Und da sind sie tatsächlich, nur ich habe das alles verschwurbelt.

    Gould in Stegemann, S. 186:

    „Trotz seiner sanft-schwindelnden, ekstatischen Melodien, seiner sorgsam ausgewählten Kadenzpunkte, trotz seiner stabilen und architektonisch tadellosen Form ist das [c-Moll-]Konzert ein exzellentes Beispiel für meine Behauptung, daß Mozart kein besonders guter Komponist war. Aber um fair zu sein: die Betonung liegt auf Komponist, denn Mozart war unbestritten ein großartiger Musiker. Und ich nehme nichts zurück, wenn ich auf diese Unterscheidung Wert lege.“

     

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    #10048201  | PERMALINK

    gruenschnabel

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    Danke, clasjaz! Die Gould-Einspielung mit dem CBC Symphony Orchestra finde ich übrigens auch unglaublich toll – und das nicht deswegen, da sie womöglich weniger „exzentrisch“ ist als andere Mozart-Aufnahmen. (Ich habe gerade neulich die entsprechende 5CD-Collection Goulds als eines meiner 10 Inselalben aufgeführt. Und da sind eben auch die sehr umstrittenen Mozart-Sonaten etc. drauf.)
    Aber um zum Thema ‚Komposition‘ zurückzukommen: Da lobt Gould also Melodien, Form, Architektur – um einfach unbegründet hinterherzuschieben, Mozart sei als Komponist ja gar nicht so doll. Nun ja. Dass er Homophonie und Mozarts angeblichen Hedonismus nicht so geschätzt hat – geschenkt. Und dann wundert es natürlich nicht, dass er sich dem „gedankenschweren“ c-Moll-Konzert mit seinen polyphonen Passagen, verhältnismäßig viel Chromatik usw. gewidmet hat. Aber was er dennoch hier konkret an der Komposition zu bemängeln hat, verschweigt er? Och komm, Glenn.
    Da kann man zur Ehre Mozarts noch locker den bekannten Umstand einschieben, dass es Beethovens c-Moll-Konzert ohne das Mozarts schwerlich in dieser Form gegeben hätte – zu ähnlich sind die Unsisono-Anfänge der Streicher in beiden Konzerten mit der volltaktigen Aufwärtsbewegung vom Grundton über die Terz noch weiter nach oben. Beethoven zitiert Mozart hier nicht – bzw. wenn, dann mit eben diesem ähnlich instrumentierten kleinsten melodischen Anfangsstückchen -, aber er nimmt bei einem solchen gewichtigen Unterfangen wohl zweifellos Bezug auf ihn. Mozart scheint ihm da eine kompositorische Tür geöffnet zu haben, durch welche sein Weg dann weiterführt. Intertextualität in der Musik vollzieht sich manchmal – so wie hier – auf recht eindeutig belegbare Weise.

    zuletzt geändert von gruenschnabel

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