Sterne an Thomas Bernhard

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  • #1195981  | PERMALINK

    irrlicht
    Nihil

    Registriert seit: 08.07.2007

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    PatrikTrollEinfach zum Dussmann gehen, das gewünschte Buch aus dem Regal nehmen und mal zwei Seiten lesen – voilá. Auch kein Unterschied zum Hören irgendeines Songs auf irgendeiner LP, auf der noch vierzehn weitere drauf sind – da kann die „Qualität“, wie wir aus den Song-Sternethreads wissen, ja auch erheblich schwanken. Es gibt genug Platten, die man 5x hören muss, bevor es zündet. Das ist also kein Argument, von wegen „Eindruck schnell gefestigt“. Und Bücher, ja sogar Autoren haben sehr wohl auch „einheitliche Stimmungen“ bzw. überhaupt eine Grundstimmung. Notfalls eben 200 Seiten vorblättern und nochmals zwei Seiten lesen bzw. einen weiteren Song der LP anspielen.

    Nja. Allerdings sind geschriebene Worte deutlich verwinkelter und auch nicht ganz so unmittelbar, wie das, was sich bei Musik, noch an Ton und ggf. Bild dazugesellt. Natürlich gibt es Konzeptalben, natürlich ist nicht jeder Song sofort erschlossen, natürlich kann man oft schon nach der ersten Seite den Erzählstil, die Sprache, die Farb- und Formvielfalt erkennen – natürlich! Aber Bücher sind nunmal kein Argument für 3:30, Geschichten lassen sich nicht kurz nach zwei Seiten et voilá goutieren, bei Literatur gibt es in vielen Fällen die Art der Vorahnung (Spannung!) nicht schmackhaft für die Mittagspause vorserviert. Was ja auch den eigentlichen Reiz ausmacht. Kurz: Literatur ist weitaus mehr phantastisch.

    PatrikTrollEs geht hier ja darum, festzuhalten, wie gut resp. nicht gut einem etwas gefällt – und das funktioniert bei Büchern genauso wie bei Filmen oder LPs oder von mir aus Eissorten im Eiscafé Deiner Wahl.[…]Das eine gefällt einem, das andere eben weniger – oder bestenfalls gefällt eben alles.

    Du hast wesentliche Punkte ja bereits genannt – ich ergänze aber noch um den Zeitfaktor, der für mich wesentlich ist. Nehmen wir mal an, Du bewertest jetzt direkt „Krieg und Frieden“ salopp mit schlanken drei Sternen. Ein klares Gesamturteil. Was denkt der Leser: Gefiel dem ollen Troll nicht. Warum? Schwer zu sagen. Nachprüfen? O tausensiebenhundert Seiten, nahezu.

    Bei einem Song kann man anders vorgehen, ich höre ein, habe nach kurzer Zeit eine Ahnung – aber seien wir ehrlich: Was hat man hier nach dem Lesen von, ich erhöhe, gar zehn Seiten? C’mon.

    Natürlich ein Extrembeispiel, gilt aber für unzählige andere Werke auch. Gerade im Kanon der Literatur, bei der nicht schon die erste Seite zeigt, dass schon nach der ersten Zeile alles gesagt ist.

    nerea87Nicht so zaghaft!
    Was wertet man denn? Das Buch als ganzes (ich weiß, es gibt hier auch Spezis, die besternen schon, wenn sie das Buchcover angeschaut haben). Und dann ist es beispielsweise ein Kriterium, wieviele unnötige Sätze enthalten sind. Für mich ist es ein Kennzeichen eines sehr guten Buches, wenn dort keinerlei Gramm Fett zu finden ist und jede Faser der „Geschichte“ dient[…]Gerade für die Beurteilung von Literatur gibt es doch vielfältige Kriterien, die oft unproblematischer objektivierbar sind, als die für die Beurteilung von Musik üblicherweise herangezogenen. Außerdem sollte man auf diese Besternerei nicht allzuviel geben, das ist doch meist kaum mehr als ein spassiger Zeitvertreib.

    Ja, unbedingt, das will ich auch gar nicht abstreiten. Natürlich kann man auch Bücher bewerten. Man legt sie zur Seite, horcht, was Bauch und Kopf gemeinsam erbrüten und vergleicht mit anderem; der entscheidende Punkt ist hier für mich allerdings, dass Bücher in ihrer Stimmung ganz anders schwanken und pendeln, als es Musik je tun könnte, zumindest die meiste. Wenn ich das veranschauliche: Selbst bei meinen Lieblingen zeigen sich Stellen, die überlang werden, die mich vielleicht sogar unruhig auf die Uhr sehen lassen, weil ich endlich wieder zur Haupthandlung, zum Essentiellen zurück will, aber dann finden sich wieder Stellen, die nicht nur Melancholie ins Herz treiben, sondern es kurzerhand aus der Brust reißen. Da gilt es dann aufzuwiegen – ich kann es schlicht nicht. Ich kann es – um die Brücke zu schlagen – allerdings auch bei klassischer Musik nicht wirklich. Weil mir dieses riesige geschichtliche Mosaik einfach zu vielfältig ist. Und ja, mir ist vieles in der Kunst zu wichtig und lebensnah, als dass ich daraus auf brich oder stirb einen „spassigen Zeitvertreib“ durchexerzieren müsste.

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    #1195983  | PERMALINK

    tavis

    Registriert seit: 07.08.2011

    Beiträge: 167

    @ nerea 87

    Nur so viel:

    Wer sich den Beschreibungsorgien (bzw. Überlängen) gewisser Romane nicht gewachsen fühlt, überspringe lieber Prousts Kindheitsband Combray und beginne gleich mit Forsyths Roman Der Schakal. Hier prasseln die Intrigen, und es herrschen Gegenintrigen, mechanisch-technische Perfektion im Romanaufbau, maschinenähnlich funktionierende Wesen…Hier ist kein Gramm zuviel: ein Stück Strukturalismus, in Romankunst übersetzt.

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    #1195985  | PERMALINK

    witek-dlugosz

    Registriert seit: 19.11.2010

    Beiträge: 5,114

    pinchBitte nicht. Tavis‘ sinnfreies Geschwafel ist auch so schon unerträglich genug.

    Ich bin mir nicht sicher, ob es immer sinnfrei ist.

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    #1195987  | PERMALINK

    johannes_reiter

    Registriert seit: 08.02.2004

    Beiträge: 410

    pinchWeil das ein makelloser Text ist. Ich halte ihn für einen von Bernhards besten Monologen.

    Sprachlich brilliant, wie immer. Aber inhaltlich ist er halt nicht ganz so großartig wie „Wittgensteins Neffe“ oder gar die „Auslöschung“.

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    The basis of optimism is sheer terror. Oscar Wilde
    #1195989  | PERMALINK

    Anonym
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    Registriert seit: 01.01.1970

    Beiträge: 0

    Eine Kostbarkeit im Netz: MRR über Thomas Bernhard. Unverzichtbar!

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    #1195991  | PERMALINK

    bodacious-cowboy

    Registriert seit: 18.01.2009

    Beiträge: 3,580

    Hui, diese Serie kenne ich ja noch gar nicht. Vielen Dank für den Hinweis, da ist sicherlich nicht nur Bernhard interessant :-)

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    #1195993  | PERMALINK

    Anonym
    Inaktiv

    Registriert seit: 01.01.1970

    Beiträge: 0

    Bodacious CowboyHui, diese Serie kenne ich ja noch gar nicht. Vielen Dank für den Hinweis, da ist sicherlich nicht nur Bernhard interessant :-)

    Nein, auch die anderen Ausgaben sind sehr, sehr sehenswert (gibt es eine Literatursendung mit Reich-Ranicki die nicht interessant wäre?). Bernhard ist mir von allen „Patienten“ nur der wichtigste, die 45-minütige Werkeinführung von MRR hierbei die gründlichste und beste.

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    #1195995  | PERMALINK

    scorechaser

    Registriert seit: 02.05.2003

    Beiträge: 46,551

    Ich schaue auch gerade fasziniert die Folgen an, vielen Dank für den Link, pinch. MRR ist in der Tat immer sehenswert. Läuft die Reihe eigentlich noch?

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    "Film is a disease. And the only antidote to film is more film." - Frank Capra
    #1195997  | PERMALINK

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    scorechaserLäuft die Reihe eigentlich noch?

    Nein, schon lange nicht mehr. Die wurde vor über 10 Jahren ausgestrahlt.

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    #1195999  | PERMALINK

    udw
    so little gets done

    Registriert seit: 22.06.2005

    Beiträge: 3,284

    pinchEine Kostbarkeit im Netz: MRR über Thomas Bernhard. Unverzichtbar!

    Toller Link, danke!

    Zum Glück findet MRR ja den Faden immer wieder, Peter Voß versucht ihn zwanghaft mit seinen biographischen Deutungstapsereien abzulenken.

    Für meinen Geschmack ist mir allerdings zu wenig auf das Frühwerk Bernhards eingegangen; die ersten Romane unterscheiden sich doch formal in wesentlichen Punkten von den späteren.

    --

    so little is fun
    #1196001  | PERMALINK

    Anonym
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    Beiträge: 0

    UDWFür meinen Geschmack ist mir allerdings zu wenig auf das Frühwerk Bernhards eingegangen; die ersten Romane unterscheiden sich doch formal in wesentlichen Punkten von den späteren.

    Äußerung zum Frühwerk Thomas Bernhards wirst du bei Reich-Ranicki so gut wie nirgends finden.

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    #10303787  | PERMALINK

    gipetto
    Funk 'n' Punk

    Registriert seit: 04.02.2015

    Beiträge: 12,678

    Auch wenn der Faden schon lange nicht mehr gefüttert wurde, ist der ein oder andere hier vertretene Bernhard-Leser ja noch immer im Forum aktiv und kann vielleicht weiterhelfen. Da ich im und für den Job viel Fachliteratur lesen muss, reicht der Akku in der Freizeit fast nur noch für das Lesen von Biographien und eher seichter Lektüre. Anspruchsvollere Werke, die ich bis Ende des Studiums regelmäßig las, waren in jüngerer Vergangenheit eher die Ausnahme. Durch Ingeborg Bachmanns Malina bin ich wieder auf den Geschmack gekommen und möchte mich künftig im Bereich der Literatur wieder etwas mehr fordern.

    Durch @harry-rag bin ich auf Thomas Bernhard aufmerksam geworden und habe heute in der Mittagspause bei meinem Trödler den Suhrkamp-Sammelband mit sämtlichen Romanen aufgestöbert und für schmales Geld mitgenommen. Welche der neun Werke eignen sich für den Einstieg? Oder macht es Sinn, mit Frost beginnend chronologisch vorzugehen, auch auf die Gefahr hin, nie bei den (vermeintlichen) Highlights Holzfällen und Auslöschung anzukommen? Ich freue mich auf Eure Ratschläge.

    --

    "Really good music isn't just to be heard, you know. It's almost like a hallucination." (Iggy Pop)
    #10303837  | PERMALINK

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    Beiträge: 0

    Ich habe damals chronologisch begonnen und es nicht bereut. „Frost“ ist etwas karger und härter als die späten Werke, aber sehr faszinierend.
    EDIT: „An der Baumgrenze“ war mein erster Bernhard, eine Kurzgeschichtensammlung. Zuvor bin ich durch die Tagebücher von Hennetmair auf Bernhard aufmerksam geworden, die ich kurzentschlossen als Mängelexemplar erworben hatte.

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    #10303869  | PERMALINK

    Anonym
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    Registriert seit: 01.01.1970

    Beiträge: 0

    Zweite Expertise: Als philologisch deformierter, der chronikalischen Vorgehensweise leider zu oft nicht Abgeneigter, würde ich eher zum spontan lustbetonten Zugriff raten. Fang mit dem an, was Dich am ehesten ankickt, aus welchen Gründen auch immer. Gerade wenn Du zeitlich im Ungewissen bist, sprich nichts gegen beherzte short cuts. Du wirst bei Gefallen den Rest (Rest is gut) ohnehin lesen.

    Wenn ich jetzt davor stehen würde: hätte ich gleich die Stamina für was längeres, täte ich gleich Auslöschung hernehmen. Bei der Wahl – erstmal kürzer – ist Der Untergeher nicht die schlechteste Wahl.

    Sage das nur weil ich mir da oft auch selber schon im Weg gestanden habe bei der Bewältigung von Gesamtwerken. Es ist dann oft charmanter, wenn man über einen längeren Zeitraum liest. Ich merke bei mir selbst, dass die Aufgeschlossenheit Nebenwerken gegenüber größer wird. Die durchgehende Qualität bei Bernhard ist aber schon außerordentlich. Zwischendurch auch das vom maliziösen Bernhard, Unseld vorenthaltene Autobiographie Projekt, im Residenz Verlag in Erwägung ziehen.

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    #10306533  | PERMALINK

    gipetto
    Funk 'n' Punk

    Registriert seit: 04.02.2015

    Beiträge: 12,678

    Vielen Dank Euch beiden für Eure Überlegungen. Ich habe mich nun gegen ein chronologisches Vorgehen entschieden und werde morgen mit Holzfällen beginnen. Bin gespannt!

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