"Handgemachte Musik" – Sinnvoller Begriff oder überholte Vorstellung?

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  • #9441169  | PERMALINK

    demon

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    grünschnabelZum anderen sind mir gewisse Dinge, die hier zuweilen mit dem Attribut „ehrlich“ in Verbindung gebracht werden, völlig egal. Von mir aus kann z.B. ein Song, den ich mag, gerne innerhalb von drei Minuten auf dem Klo entstanden sein, während sein Urheber beim Scheißen Dollarzeichen in den Augen hatte.

    Ich bin überzeugt, dass unter solchen Umständen bestenfalls Fahrstuhlmusik entstehen kann. (Ich bin allerdings auch ein Idealist und Romantiker.)

    gypsy tail wind
    Denn Kunst ohne Aufrichtigkeit und Wahrheit (oder die Suche danach, das Thematisieren von […]) interessiert mich nicht. Ich könnte mir kaum vorstellen, ohne sie zu leben […].

    Große Worte … die mich zum Nachdenken angeregt haben. Mir scheint, ausgehend von meiner oben formulierten Einstellung gelange ich – wenn auch sozusagen aus einer anderen Richtung – zur selben Schlussfolgerung.

    Demnach wären „Aufrichtigkeit und Wahrheit (oder die Suche danach, das Thematisieren von)“ notwendige Bedingungen für gute Kunst, oder gar typische Merkmale? Nicht übel, wohin diese Diskussion jetzt geführt hat!

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    #9441171  | PERMALINK

    gruenschnabel

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    gypsy tail windLässt mir irgendwie keine Ruhe. Unterteilst Du einen Pop-Diskurs von einem „hochkulturellen“, so eine E- vs. U-Geschichte?

    Denn Kunst ohne Aufrichtigkeit und Wahrheit (oder die Suche danach, das Thematisieren von – natürlich nicht auf plumpe, an der Oberfläche und für Lesefaule sichtbare Weise) interessiert mich nicht. Ich könnte mir kaum vorstellen, ohne sie zu leben (und ja, ich beziehe da z.B. Lana Del Rey durchaus mit ein, es geht nicht um Abgrenzung sondern um Wahrnehmung).

    Nein, auf eine Teilung / Kategorisierung wollte ich nicht hinaus. Wahrscheinlich verstehe ich gar nicht, worauf du abzielst.

    Dass Kunst mit „Wahrheit“ zu tun haben kann, möchte ich nicht bestreiten. Mit dem Begriff „Aufrichtigkeit“ habe ich da schon größere Schwierigkeiten, den kann ich mit Musikstücken z.B. kaum in Verbindung bringen.

    Läuft es vielleicht darauf hinaus, dass ich Kunst grundsätzlich als ästhetisches Spiel begreife? Dass mein Interesse also primär keinen weiteren „Zielen“ (?) oder „Eigenarten“ (?) oder „Beschaffenheiten“ (?) von Kunst gilt, sondern sich im Wesentlichen daran orientiert, ob mir das Spiel „zusagt“?
    Ich möchte aber betonen, dass ich durchaus viel dafür übrig habe, wenn ich im „Kunstwerk“ selbst so etwas wie Wahrhaftigkeit (ist mir lieber als ‚Wahrheit‘) erkenne. Nur – gerade bei Musik als begriffsloser Kunstform wüsste ich oftmals nicht, was das sein soll.

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    #9441173  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
    Moderator
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    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 67,000

    DemonGroße Worte … die mich zum Nachdenken angeregt haben. Mir scheint, ausgehend von meiner oben formulierten Einstellung gelange ich – wenn auch sozusagen aus einer anderen Richtung – zur selben Schlussfolgerung.

    Demnach wären “ Aufrichtigkeit und Wahrheit (oder die Suche danach, das Thematisieren von)“ notwendige Bedingungen für gute Kunst? Nicht übel, wohin diese Diskussion jetzt geführt hat!

    Man kann natürlich die Begriffe ändern („Schönheit“ wäre auch kein übler), man muss als Empfänger die ganze Zeit selbst daran arbeiten (das tut man sowieso unentwegt, auch wenn man sich dessen nicht immer bewusst ist). Ich will auch gar kein hehres Ideal aufstellen – l’art pour l’art kann so wenig sein, wie es angeht, *nur* auf Songebene (Textanalyse, Beschreibung) zu analysieren, wie ein Werk halt eben funktioniert. Ohne Kontext und Subtext und was weiss ich (ja, ich werfe jetzt auch noch das Meta ins Rund) geht nichts, wir sind ja gar nicht in der Lage, unser „Weltwissen“ beiseite zu lassen, wenn wir etwas hören oder anschauen.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #9441175  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Registriert seit: 25.01.2010

    Beiträge: 67,000

    grünschnabelLäuft es vielleicht darauf hinaus, dass ich Kunst grundsätzlich als ästhetisches Spiel begreife? Dass mein Interesse also primär keinen weiteren „Zielen“ (?) oder „Eigenarten“ (?) oder „Beschaffenheiten“ (?) von Kunst gilt, sondern sich im Wesentlichen daran orientiert, ob mir das Spiel „zusagt“?
    Ich möchte aber betonen, dass ich durchaus viel dafür übrig habe, wenn ich im „Kunstwerk“ selbst so etwas wie Wahrhaftigkeit (ist mir lieber als ‚Wahrheit‘) erkenne. Nur – gerade bei Musik als begriffsloser Kunstform wüsste ich oftmals nicht, was das sein soll.

    Auf der Ebene des Spiels ist es allerdings auch so, dass es Regeln gibt, dass mit denen irgendwie umgegangen werden muss (man kann und soll sie auch brechen – die Offside-Regel z.B. sollte man auch endlich mal abschaffen ;-)) – anders gesagt: Wenn einer etwas nur aus purem Zynismus tut, dann fehlt auch im Spiel die Aufrichtigkeit (oder was auch immer, wie gesagt, bei den Begriffen fühle ich mich auch nicht richtig wohl) oder wie immer man es nennen will, und damit entfällt auch das Interesse, denn es ergibt keinen Sinn mehr, zuzuschauen. Das heisst jetzt nicht, dass ich z.B. musikalische Wendehälse als unaufrichtig empfinden würde – die Sache ist viel komplizierter als das.

    Und klar, soviel sei dem genossen zugestanden, es mag tatsächlich Schlagerleute geben, die bei der Sendung mit dem volksdümmlichen Klobürstenmoderator auftreten und dennoch mit Überzeugung ihre Musik machen … man sieht denen ob ihrem profesionell eingefrorenen Grinsen (Botox?) auch gar nicht an, ob da nicht doch auch mal ein kleines Unbehagen mit im Spiel ist. Aber das Format als solches würde ich sofort dem puren monetären Zynismus zuordnen, der Volksverdummungsindustrie, den Opiaten.

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    #9441177  | PERMALINK

    gruenschnabel

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    Beiträge: 6,126

    gypsy tail windAuf der Ebene des Spiels ist es allerdings auch so, dass es Regeln gibt, dass mit denen irgendwie umgegangen werden muss (man kann und soll sie auch brechen – die Offside-Regel z.B. sollte man auch endlich mal abschaffen ;-)) – anders gesagt: Wenn einer etwas nur aus purem Zynismus tut, dann fehlt auch im Spiel die Aufrichtigkeit (oder was auch immer, wie gesagt, bei den Begriffen fühle ich mich auch nicht richtig wohl) oder wie immer man es nennen will, und damit entfällt auch das Interesse, denn es ergibt keinen Sinn mehr, zuzuschauen.

    Ja, die Regeln. Ich stelle es mir immer so vor, dass sich der Künstler ein bestimmtes Spielfeld absteckt, in dessen Grenzen er kreativ tätig wird. Ich finde es oftmals unglaublich aufregend und faszinierend zu erkennen, dass die Beschränkung des Spielfeldes mitnichten eine Beschränkung der ästhetischen Möglichkeiten bedeutet, sondern immer wieder die allerschönsten Blüten hervorbringt. Es gibt aber wohl auch die Fälle, in denen der Künstler im Zuge eines Schaffensprozesses die Grenzen seines Spielfeldes verändern oder erweitern muss, um ihn fortführen zu können.

    Als Zuschauer fühle ich mich allerdings nicht. Als Rezipient bringe ich mich hingegen als Teil des Spiels ein, was die Sache dann wirklich noch viel komplexer macht. Aber das Spiel funktioniert eben ohne uns nicht, es wird gar nicht erst angepfiffen. Wir sind sicherlich keine Zaungäste, die sich dann lediglich beiwohnend von den Mechanismen des Spiels beeindrucken lassen, wir stehen mit auf dem Feld. (Klar, wenn man will, kann man auch von außen zuschauen, aber das wird dem Wesen von Kunst m.E. nicht gerecht.)

    Ich glaube nicht daran, dass sich in jedem Spiel ablesen lässt, aus welchem Antrieb heraus sein Urheber das Ganze gestaltet hat (das ist – wie gesagt – auch gar nicht das, was mich interessiert). Ganz davon abgesehen, dass jedes kreative Ergebnis / Ereignis wohl aus einer Fülle unterschiedlichster Antriebsrädchen hervorgegangen ist. Jedenfalls: Das Spiel soll bitte seinen eigenen Reiz, seine eigene Wahrheit innerhalb des Spielfeldes entfalten.

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    #9441179  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Registriert seit: 25.01.2010

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    Ich gehe noch einen Schritt weiter und denke, der Antrieb dessen, der ein Werk schafft, ist nicht hinreichend, um das Resultät eindeutig zu prägen. Das hatten wir ja oben schon angetönt: die Möglichkeit, dass Meys Text vielschichtiger sein könnte als von ihm selbst intendiert; allgemein die Möglichkeit, dass ein Werk breiteres – oder auch anderes, „falsches“ – Publikum findet als erwartet.

    Auch nehme ich Aussagen von Künstlern über ihr Werk nie für bare Münze bzw. ohne die Möglichkeit im Hinterkopf zu haben, dass der Künstler selbst sein Werk nicht vollumfänglich begreifen kann (so er es denn in seiner Aussagbe überhaupt tut – und wenn ein Künstler über sein Werk lügt, macht ihn das noch längst nicht „unaufrichtig“). Jede Aussage kann auf verschiedene Weisen verstanden werden – und richtig: es braucht auch stets Sender und Empfänger, insofern Kunst einen kommunikativen Charakter haben soll (kann auch sein, dass ich in die Berge gehe und was installiere, was nie einer sehen wird – aber dann bin wohl irgendwie ich selbst der Empfänger, einen Antrieb muss ich ja haben, so etwas zu tun).

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #9441181  | PERMALINK

    gruenschnabel

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    gypsy tail windIch gehe noch einen Schritt weiter und denke, der Antrieb dessen, der ein Werk schafft, ist nicht hinreichend, um das Resultät eindeutig zu prägen. Das hatten wir ja oben schon angetönt: die Möglichkeit, dass Meys Text vielschichtiger sein könnte als von ihm selbst intendiert; allgemein die Möglichkeit, dass ein Werk breiteres – oder auch anderes, „falsches“ – Publikum findet als erwartet.

    Auch nehme ich Aussagen von Künstlern über ihr Werk nie für bare Münze bzw. ohne die Möglichkeit im Hinterkopf zu haben, dass der Künstler selbst sein Werk nicht vollumfänglich begreifen kann (so er es denn in seiner Aussagbe überhaupt tut – und wenn ein Künstler über sein Werk lügt, macht ihn das noch längst nicht „unaufrichtig“). Jede Aussage kann auf verschiedene Weisen verstanden werden – und richtig: es braucht auch stets Sender und Empfänger, insofern Kunst einen kommunikativen Charakter haben soll (kann auch sein, dass ich in die Berge gehe und was installiere, was nie einer sehen wird – aber dann bin wohl irgendwie ich selbst der Empfänger, einen Antrieb muss ich ja haben, so etwas zu tun).

    Da bin ich ganz nah bei dir. Es gibt in Reich-Ranickis Biographie diese Passage, in welcher er über eine Begegnung mit Anna Seghers und das gemeinsame Gespräch über ihren Roman „Das siebte Kreuz“ schreibt:
    „Diese bescheidene, sympathische Person, die jetzt (…) gemächlich über ihre Figuren schwatzte, (…) hat den Roman (…) überhaupt nicht verstanden. Sie hat keine Ahnung von der Rafinesse der hier angewandten künstlerischen Mittel, von der Virtuosität der Komposition. (…)
    Was habe ich aus dem Gespräch mit Anna Seghers gelernt? Daß die meisten Schriftsteller von der Literatur nicht mehr verstehen als die Vögel von der Ornithologie. Und daß sie am wenigsten ihre eigenen Werke zu beurteilen imstande sind.“

    Ob es nun wirklich so „schlimm“ um die meisten Autoren bestellt ist, kann ich natürlich überhaupt nicht einschätzen. Aber diese Art der Betrachtung überzeugt mich. Ein schöner Effekt liegt darin, dass man nicht in Versuchung gerät, diese elende Frage nach der „Intention“ des Künstlers zu vertiefen. Als ich das für mich begriffen habe, verspürte ich eine geradezu befreiende Wirkung: Kunst war damit kein Acker mehr, den man auf der Suche nach dem einen verborgenen Schlüssel mühsam durchpflügen musste – und finden konnte man den ja ohnehin nicht, sondern es waren immer Dritte, die einem solche Schlüssel als die jeweils vermeintlich richtigen andrehen wollten. Oder aber es wurden irgendwelche Aussagen der Künstler zu solchen Schlüsseln erklärt, was mich ebenfalls nie richtig überzeugt hat.

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    #9441183  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Hm, da kommt der gute MRR ja mal wieder reichlich arrogant rüber – das war aber auch eine seiner Kernkompetenzen ;-)

    So kategorisch würde ich das nie formulieren, denn die Möglichkeit, dass ein Buch eben so gelesen werden will, ja muss (mit einem „Schlüssel“, wie Du es formulierst), ist ja nicht ausgeschlossen. Es ist einfach nicht die einzige, sondern eine von vielen möglichen Herangehensweisen – und welche man wählt, kann natürlich auch kein purer Zufall oder Resultat von Vorlieben sein, sondern soll dem „Text“ angemessen sein, sprich: die Argumentationsweise sollte nachvollziehbar, plausibel und stimmig sein – das Öffnen des Feldes, dessen befreienden Effekt Du schön beschreibst, erschwert letzlich die Lektüre auch wieder, weil man sich das Feld eben stets abstecken muss (und nichts langweilt mich dabei so sehr wie Leute, die einer „Schule“ anhängen und ein Schema haben, in das sie alles pressen können). Ob man so auf Unehrlichkeit entlarven kann, wäre dann die Frage … man kann sich vermutlich selten sicher sein, aber man kann so z.B. – wie oben ja verlangt – mit einem einzelnen Song arbeiten und sich ein Fundament schaffen, auf dem man wiederum Hypothesen oder Argumente formuliert. Allerdings ist das mit dem einzelnen Song so eine Sache – dieser besteht ja nicht nur aus dem Songtext. Es wird also in den seltensten Fällen ausreichen, bloss mit dem Text zu arbeiten. Wir hatten ja oben auch Randy Newman. Würde man allein den Texten über die red necks die zweifelsfrei vorhandene Ironie anmerken?

    Und nein, natürlich muss man nicht andauernd so Musik hören und analysieren – das wäre ja furchtbar anstrengend. Aber gewisse Dinge, Denkvorgänge, laufen doch einfach mit, und wenn man ab und zu noch einen Dreh weiterdenkt, schadet das gewiss nicht ;-)

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    #9441185  | PERMALINK

    gruenschnabel

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    gypsy tail windHm, da kommt der gute MRR ja mal wieder reichlich arrogant rüber – das war aber auch eine seiner Kernkompetenzen ;-)

    Obwohl ich mit dieser arroganten Art überhaupt keine Schwierigkeiten habe, kann ich deinen Einwand verstehen. RR war ja letztlich auch oftmals dabei, seinen Zuständigkeitsbereich als Kritiker zu sichern, erweitern… Hinter einer solchen Äußerung steckt womöglich auch ein Kalkül der Macht – aber was soll’s: Grundsätzlich messe ich der Äußerung Wahrhaftigkeit bei. Und das mit den Vögeln lässt sich so wunderbar auf die Musik übertragen: Ich meine schon mehrere Musiker kennen gelernt zu haben, die das, was sie in wundervoller Art besingen, gar nicht groß durchschauen – und auch nicht so genau wissen, wie sie das machen. Und das ist ja dann auch sowas von nebensächlich.

    gypsy tail windSo kategorisch würde ich das nie formulieren, denn die Möglichkeit, dass ein Buch eben so gelesen werden will, ja muss (mit einem „Schlüssel“, wie Du es formulierst), ist ja nicht ausgeschlossen. Es ist einfach nicht die einzige, sondern eine von vielen möglichen Herangehensweisen – und welche man wählt, kann natürlich auch kein purer Zufall oder Resultat von Vorlieben sein, sondern soll dem „Text“ angemessen sein, sprich: die Argumentationsweise sollte nachvollziehbar, plausibel und stimmig sein – das Öffnen des Feldes, dessen befreienden Effekt Du schön beschreibst, erschwert letzlich die Lektüre auch wieder, weil man sich das Feld eben stets abstecken muss (und nichts langweilt mich dabei so sehr wie Leute, die einer „Schule“ anhängen und ein Schema haben, in das sie alles pressen können). Ob man so auf Unehrlichkeit entlarven kann, wäre dann die Frage … man kann sich vermutlich selten sicher sein, aber man kann so z.B. – wie oben ja verlangt – mit einem einzelnen Song arbeiten und sich ein Fundament schaffen, auf dem man wiederum Hypothesen oder Argumente formuliert.

    Genau. Ich halte auch nichts von Beliebigkeit in dem Sinne, dass man die Kunst als Projektionsfläche für seine eigene beschränkte Sicht der Dinge gebraucht (das tue ich wohl dennoch oft genug, z.T. ohne es zu merken). Und selbstverständlich „verträgt“ die Beschäftigung mit Kunst auch eine Hinwendung zum Sub- und Kon- und Meta-Text, ja das kann mitunter die Auseinandersetzung sogar erheblich befördern / bereichern. Aber wie du sagst: Das Kunststück selbst sollte in seiner unbedingt anzuerkennenden Eigenart nicht übergangen oder von vornherein in eine bestimmte Zone verwiesen werden. Denn bei aller Rätselhaftigkeit, Vielschichtigkeit, Offenheit gibt es ja in der Tat auch „Antworten“, die man bekommt, wenn man es befragt.

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    #9441187  | PERMALINK

    gruenschnabel

    Registriert seit: 19.01.2013

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    Was mich heute sehr, sehr berührt hat: Mein Ältester (11 J.) saß heute erneut wie gebannt neben dem CD-Player und hörte sich immer und immer wieder den Song „Ich bin wie ich bin“ von den Wise Guys an. An diesem Song hat er schon seit Längerem einen Narren gefressen. In dem Text geht es um das uns allen gegenwärtige „I am what I am“ in Reinkultur, da ist nichts, was irgendwie besonders oder neu wäre. Aber in dem Text steckt für den Jungen, der selbst auch weiß, dass er ein etwas spezieller Typ ist, so viel Wahrhaftigkeit, so viel Identifikation, dass ich hier auch mal gerne sagen möchte, dass so etwas auf jeden Fall auch für Popsongs, und nicht immer nur für „große“ oder „klassische“ oder „ernste“ Kunst gelten kann.
    Die Ehrlichkeit dahinter ist auch in diesem Fall völlig wurst. Aber der Song selbst bietet meinem Sohn eine ganz stark wirkende Verdichtung dessen, was er emotional und gedanklich wohl ohnehin schon in sich trug, aber in dieser Form noch nie wie in einem Brennglas fokussiert „gesehen“ hat.
    Ein Hoch auf gute Gebrauchs-, Gelegenheits- und Poplyrik, die eben auch eine Berechtigung hat, wenn sie Wahrhaftiges in sich trägt.
    Und „handgemachter“ als die Wise Guys geht ja kaum… bleib mir wech mit irgendwelchen Schrammelgitarren, die machen alles mit körpereigenem Instrumentarium! Wie ehrlich ist das denn bitteschön!

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    #9441189  | PERMALINK

    nicht_vom_forum

    Registriert seit: 18.01.2009

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    gypsy tail windAuch nehme ich Aussagen von Künstlern über ihr Werk nie für bare Münze bzw. ohne die Möglichkeit im Hinterkopf zu haben, dass der Künstler selbst sein Werk nicht vollumfänglich begreifen kann […]

    Wo verläuft denn hinsichtlich des „vollumfänglich“ für Dich die Grenze zwischen Werk und Umwelt? Der Künstler kann ja m. E. prinzipiell nur sinnvolle Aussagen zu seiner Intention und zum Vorgehen während der „Erstveröffentlichung“ treffen, da nur das seiner Kontrolle unterliegt (und das dann schon „vollumfänglich“). Das Werk hat dagegen ja das Potential weit darüber hinaus Auswirkungen zu haben, die von der Umwelt und den durch das Kunswerk ausgelösten Diskursen abhängen. Dahingehend ist der Künstler dann ja auch eher „Dritter“. Ist in diesem Sinn eine klare Abgrenzung von Werk und Umwelt für Dich überhaupt zu treffen und falls nicht: Wie ist dann „vollumfänglich“ für irgendjemand, egal ob für den Künstler selbst oder das Publikum, möglich?

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    Reality is that which, when you stop believing in it, doesn't go away.  Reality denied comes back to haunt. Philip K. Dick
    #9441191  | PERMALINK

    nicht_vom_forum

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    gypsy tail wind
    Denn Kunst ohne Aufrichtigkeit und Wahrheit (oder die Suche danach, das Thematisieren von – natürlich nicht auf plumpe, an der Oberfläche und für Lesefaule sichtbare Weise) interessiert mich nicht. Ich könnte mir kaum vorstellen, ohne sie zu leben (und ja, ich beziehe da z.B. Lana Del Rey durchaus mit ein, es geht nicht um Abgrenzung sondern um Wahrnehmung).

    Welche Konsequenzen ziehst Du denn aus diesem Anspruch bei der Rezeption von Kunst und wie gehst Du damit konkret um? Gerade wenn – um Tom Waits oder Bob Dylan als Beispiel herauszugreifen – Kunswerk, reale Person und Bühnenpersönlichkeit einerseits offensichtlich voneinander unterschiedlich sind, sich auf der anderen Seite aber offensichtlich gegenseitig beeinflussen? Gerade wenn die Bühnenpersönlichkeit anscheinend wenig mit der Privatperson zu tun hat und letztere nicht gut bekannt ist, finde ich stichhaltige Urteile über „Aufrichtigkeit und Wahrheit“ schwierig, egal ob es Tom Waits oder Helene Fischer ist. Dass mich die Werke von einer dieser beiden Personen mehr ansprechen, ist davon ja nicht betroffen.

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    nicht_vom_forum

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    grünschnabelEs gibt in Reich-Ranickis Biographie diese Passage, in welcher er über eine Begegnung mit Anna Seghers und das gemeinsame Gespräch über ihren Roman „Das siebte Kreuz“ schreibt:
    „Diese bescheidene, sympathische Person, die jetzt (…) gemächlich über ihre Figuren schwatzte, (…) hat den Roman (…) überhaupt nicht verstanden. Sie hat keine Ahnung von der Rafinesse der hier angewandten künstlerischen Mittel, von der Virtuosität der Komposition. (…)
    Was habe ich aus dem Gespräch mit Anna Seghers gelernt? Daß die meisten Schriftsteller von der Literatur nicht mehr verstehen als die Vögel von der Ornithologie. Und daß sie am wenigsten ihre eigenen Werke zu beurteilen imstande sind.“

    Müsste man für das was MRR (nach meinem Verständnis des Textstücks) meint, nicht andere Formulierungen finden, mit denen scharf zwischen Künstler und Kunswerk unterschieden wird? Mit Rafinesse und Virtuosität verbinde ich eher Eigenschaften des Künstlers und nicht des Kunstwerks. Ich halte eine Unterscheidung zwischen den beiden Aspekten „Intention und Fertigkeit des Künsters“ und „Eigenschaften des Werks“ bei der Rezeption für durchaus wichtig. Jedenfalls solange man den ersten Aspekt nicht komplett beiseite lässt und sich nur auf die Analyse des Kunswerks beschränkt.

    Ein schöner Effekt liegt darin, dass man nicht in Versuchung gerät, diese elende Frage nach der „Intention“ des Künstlers zu vertiefen. […] Oder aber es wurden irgendwelche Aussagen der Künstler zu solchen Schlüsseln erklärt, was mich ebenfalls nie richtig überzeugt hat.

    Die -echte oder vermeintliche- Intention des Künstlers vollständig außen vor zu lassen erscheint mir aber, gerade wenn es Aussagen des Künstlers oder biographische Informationen gibt, dann auch zu kurz gegriffen. Kunst entsteht ja auch nicht im Vakuum und nur aus innerem Zwang des Künsters heraus sondern mit einer zugrundeliegenden Absicht. Sei es als Kommentar oder (beabsichtigte oder unbeabsichtigte) aktive Beeinflussung von künstlerischem und gesellschaftlichem Umfeld oder Publikum und Kollegen.

    Als ich das für mich begriffen habe, verspürte ich eine geradezu befreiende Wirkung: Kunst war damit kein Acker mehr, den man auf der Suche nach dem einen verborgenen Schlüssel mühsam durchpflügen musste – und finden konnte man den ja ohnehin nicht, sondern es waren immer Dritte, die einem solche Schlüssel als die jeweils vermeintlich richtigen andrehen wollten.

    Das klingt ein wenig nach einem Trauma aus der Schulzeit. ;-)

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    #9441195  | PERMALINK

    gruenschnabel

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    Nicht_vom_ForumMüsste man für das was MRR (nach meinem Verständnis des Textstücks) meint, nicht eine andere Formulierung finden, mit denen scharf zwischen Künstler und Kunswerk unterschieden wird? Mit Rafinesse und Virtuosität verbinde ich eher Eigenschaften des Künstlers und nicht des Kunstwerks. Ich halte eine Unterscheidung zwischen den beiden Aspekten „Intention und Fertigkeit des Künsters“ und „Eigenschaften des Werks“ bei der Rezeption für durchaus wichtig. Jedenfalls solange man den ersten Aspekt nicht komplett beiseite lässt und sich nur auf die Analyse des Kunswerks beschränkt.

    Ja, das ist sprachlich nicht astrein, sehe ich auch so. Ich denke, dass RR sich auf Eigenschaften des Romans beziehen möchte, die Seghers nach seinem Verständnis intuitiv so gestaltet hat, dass sich eine komplexe und beziehungsreiche Architektur und damit der Eindruck von Rafinesse ergab. Die von dir formulierte Trennung finde ich sehr bedenkenswert. Und welche Ebene ich ungleich
    wichtiger finde, ist dann eh klar.

    Nicht_vom_ForumDie -echte oder vermeintliche- Intention des Künstlers vollständig außen vor zu lassen erscheint mir aber, gerade wenn es Aussagen des Künstlers oder biographische Informationen gibt, dann auch zu kurz gegriffen. Kunst entsteht ja auch nicht im Vakuum und nur aus innerem Zwang des Künsters heraus sondern mit einer zugrundeliegenden Absicht. Sei es als Kommentar oder (beabsichtigte oder unbeabsichtigte) aktive Beeinflussung von künstlerischem und gesellschaftlichem Umfeld oder Publikum und Kollegen.

    Äußerungen des Künstlers sind sicherlich nicht unwichtig. Aber ich muss sagen, dass ich die mittlerweile mit ganz spitzen Fingern anfasse, wenn es darum geht, in eine lebendige Wechselbeziehung mit einem Werk einzutreten. Mit dem Vakuum – das ist natürlich richtig. Aber ist es nicht das Kunstwerk selbst, das den Kommentar zu seinem Entstehungskontext „aussprechen“ sollte? Wäre es nicht eher ein Defizit der Kunst, wenn man noch eine Bedienungsanleitung vom Künstler bräuchte?

    Nicht_vom_ForumDas klingt ein wenig nach einem Trauma aus der Schulzeit. ;-)

    Eigentlich nicht. In der Schule habe ich eher stumpf auf sowas reagiert. Die Sehnsucht nach einer Eindeutigkeit des Verstehens, nach einem Schlüssel, der Kunst für alle gleichermaßen einsehbar aufschließt, der das Rätsel knackt, die „richtige“ Interpretation offenbar werden lässt, die findet man eigentlich auch außerhalb von Schule immer und immer wieder. Und das „Was will der Dichter uns damit sagen?“ ist ja einerseits schon fast eine kollektiv verständliche Karikatur von Kunstverstehen, andererseits scheint die Frage auch einem Bedürfnis vieler zu entsprechen. Aber Kunst ist kein Quiz, kein Rätselraten, keine Schatzsuche, keine simple Belehrung.

    --

    #9441197  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Nicht_vom_ForumWo verläuft denn hinsichtlich des „vollumfänglich“ für Dich die Grenze zwischen Werk und Umwelt? Der Künstler kann ja m. E. prinzipiell nur sinnvolle Aussagen zu seiner Intention und zum Vorgehen während der „Erstveröffentlichung“ treffen, da nur das seiner Kontrolle unterliegt (und das dann schon „vollumfänglich“). Das Werk hat dagegen ja das Potential weit darüber hinaus Auswirkungen zu haben, die von der Umwelt und den durch das Kunswerk ausgelösten Diskursen abhängen. Dahingehend ist der Künstler dann ja auch eher „Dritter“. Ist in diesem Sinn eine klare Abgrenzung von Werk und Umwelt für Dich überhaupt zu treffen und falls nicht: Wie ist dann „vollumfänglich“ für irgendjemand, egal ob für den Künstler selbst oder das Publikum, möglich?

    Guter Punkt – das war wohl schludrig formuliert, „vollumfänglich“ geht, denke ich, prinzipiell nicht. Was ich sagen wollte ist schlicht, dass ich nicht daran glaube, dass ein Autor sein Werk in jeder möglichen Hinsicht begreift – auch nicht die Erstveröffentlichung, selbst wenn er die (was ja bei Musikern oder Autoren auch höchst selten der Fall ist) vollumfänglich kontrollieren kann.

    Und nein, klare Abgrenzungen scheinen mir wenig sinnvoll – die Rezeptionsgeschichte gehört doch unweigerlich zum Werk dazu, man kann sie nicht wegdenken – man kann Heidegger nicht ohne braune Sosse denken, Wagner ohne Antisemitismus, was weiss ich … wenn irgendwelche Irren sich im Werther-Kostüm das Leben nehmen, gehört das nunmal mit dazu, unabhängig davon, wie man sich in der Schuldfrage stellt.

    Nicht_vom_ForumWelche Konsequenzen ziehst Du denn aus diesem Anspruch bei der Rezeption von Kunst und wie gehst Du damit konkret um? Gerade wenn – um Tom Waits oder Bob Dylan als Beispiel herauszugreifen – Kunswerk, reale Person und Bühnenpersönlichkeit einerseits offensichtlich voneinander unterschiedlich sind, sich auf der anderen Seite aber offensichtlich gegenseitig beeinflussen? Gerade wenn die Bühnenpersönlichkeit anscheinend wenig mit der Privatperson zu tun hat und letztere nicht gut bekannt ist, finde ich stichhaltige Urteile über „Aufrichtigkeit und Wahrheit“ schwierig, egal ob es Tom Waits oder Helene Fischer ist. Dass mich die Werke von einer dieser beiden Personen mehr ansprechen, ist davon ja nicht betroffen.

    Gut möglich, dass das eine Anmassung ist – aber wir wären dann auch wieder bei einer Diskussion, die wir vor ein paar Monaten schon einmal führten (und die zu etwas bösem Blut führte – in der Klassik-Ecke war das glaube ich?), nämlich der Tatsache, dass wir nicht wahrnehmen können ohne zu urteilen oder wenigstens zu taxieren, dass wir nicht hinter unser Wissen treten können (und natürlich auch nicht vor unser Unwissen – aber daran zu arbeiten scheint mir eine nicht ganz unsinnige Betätigung, die ich hoffentlich meiner Lebtag nie aufgeben werde – stirbt die Neugierde, kann ich getrost auch abtreten).

    Die ganze Diskussion wird mir aber etwas zu abgehoben, so ganz im luftleeren Raum. Wenn ich mir aber die Inszenierung von jemandem wie Helene Fischer anschaue, diese „Helene Fischer Show“, die gerade über alle Kanäle flimmerte, wie sie direkt in die Kamera (ins Herz des TV-Zuschauers) spricht, irgendwelche angeblich persönlichen Dinge erzählt, die aber genauso platt in jedem Arztroman am Bahnhofskiosk (oder den vollumfänglich kontrollierten selbstverlegten Schundromane unserer Tage) steht … nun, mich erfasst dann einfach das Grauen, das pure Grauen. Und es beelendet mich, dass sich so viele Menschen dieses verlogene Zeug anschauen und sich dabei noch denken: was für ein hübsches, liebes Mädchen, hätte unser Hermann Rudolph doch bloss so eine nette Frau … das reinste Elend. Und klar ist das ein Urteil und in den Augen mancher wohl eine Anmassung. Aber ich kann nicht anders.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
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