2016: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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    vorgarten

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    vielen dank für den tollen bericht! vieles an den beschreibungen kann ich gut mit bisherigen davis-erfahrungen verbinden – sowohl das kleben an viel zu engen kompositionen (ich verstehe, woran der spaß daran liegt, sowas zu entwickeln, aber es muss an irgendeiner stelle dann auch abheben) wie das mitreißende und manchmal wirklich atemberaubende auseinanderdriften der beiden hände, das sichfestbeißen an einzelnen mustern, da ist vieles, auch sehr aktuelles zwischen mbase und spektralmusik eingeflossen. aber ganz allgemein mag ich ihren drive, wenn man irgendwann keine ausbildung und technik mehr hört, sondern nur noch die kraft dahinter, das drängende.

    toll zu lesen, dass irène schweizer bei solchen gelegenheiten auftaucht, um ihre kolleg_innen auszuchecken. in berlin habe ich oft den gegenteiligen eindruck – wenn einer der „großen“ sich mal zufälligerweise in diese stadt verirrt, kommen gerade die intrumentenkollegen nicht (bei gayle z.b. habe ich keinen saxofonisten gesehen), aber das kann auch daran liegen, dass hier einfach keiner geld hat.

    schade, dass du die revis-cd nicht gleich mitnehmen konntest. stattdessen hast du dieses merkwürdige ding mit den vier bassklarinettisten gekauft (SAVE YOUR BREATH)? oder das trio-album mit hébert und rainey? ihre piano solo sachen kommen bei mit als nächsten dran, AERIOL PIANO und MASSIVE THREADS.

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    #9747241  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Schweizer taucht oft bei anderen Konzerten auf. Als Colin Vallon den ersten (oder ersten „richtigen“) Gig in Zürich hatte, war sie z.B. auch da. Und ja, die vier Bassklarinetten habe ich gekauft … war die einzige, die sie in den Händen hatte, als ich ihr beim Gehen zufällig nochmal begegnet bin, und wohl die einzige, die sie überhaupt (noch) hatte. Das war der Abschluss einer Tour in Europa, da ist ja oftmals nicht mehr viel übrig.

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    "Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba
    #9747243  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Taktlos.16 (33. Ausgabe)
    Aktionshalle, Rote Fabrik, Zürich

    „Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht die Anbetung der Asche.“

    Donnerstag 19.5.

    Matthew Shipp – „I’ve Been to Many Places“ | Den Auftakt des diesjährigen Taktlos-Festivals machte Matthew Shipp, allein am Flügel. Ein etwas schwieriges, nachdenkliches, manchmal brütendes Set, das aber in seiner ganzen Länge letztendlich doch fesselnd war und die tiefe Verwurzelung des Pianisten in der Jazzgeschichte – von Ellington über Tristano zu Cecil Taylor – verdeutlichte. Der Freund, mit dem ich an beiden Abenden da war, meinte, er sei immer wieder rausgefallen und hätte sich wieder um Anschluss an die Musik bemühen müssen. Kann ich nachvollziehen, aber mich fesselte das Set doch über die ganze Länge, ohne mich allerdings umzuhauen. Also eine leise Enttäuschung, aber zugleich auch Futter für die durchaus vorhandene Faszination für Shipps Musik – und Ansporn, dranzubleiben.

    The Tiptons Sax Quartet & Drums | Es folgte der Tiefpunkt, leider. Ein US-Saxophonquartett mit Schlagzeuger, bestehend aus: Amy Denio an Alt und Klarinette, Jessica Lurie an Alt, Tenor und Sopran, Sue Orfield am Tenor und Tina Richardson am Bari sowie Drummer Robert Kainar aus Österreich. Dieser war zwar sehr gut, aber für mein Empfinden zu sehr damit beschäftigt, zu begleiten, wo er doch den Damen durchaus mal eine vor die Fresse hätte knallen sollen, denn die waren mit so viel Mediokrität unterwegs, dass es einigermassen weh tat. Vor allem Orfield mit ihren plumpen Soli voller machistischer Tenorsax-Klischees (und auch noch in entsprechender Pose vorgetragen) hat mich nur genervt (und klar, das mag Persiflage sein, aber über eine ganze Stunde war es – gepaart mit dem überaus mittelmässigen Spiel – nichts als eine Qual). Sehr gut fand ich einzig Jessica Lurie, die am Alt wie am Tenor völlig überzeugend war. Amy Denio war ebenfalls toll, auch mit einer irren Klezmer-Einlage an der Klarinette (bei der Lurie am Alt auf dem Fuss folgte). Die vier zusammen klangen gut, spielten aber relativ wenig Ausgereiftes, oft wurde gesungen (mit und ohne Worte, aber man verstand nicht grad viel) oder mit Stimmgeräuschen gearbeitet, Kainar durfte auch mal ans Cajón wechseln und hatte offensichtlich Spass. Doch genau das, dass die fünf Spass hatten, war vielleicht das Problem, aber nach anscheinend 20 Jahren der Zusammenarbeit ist es vermutlich schwierig, aus den eingefahrenen Bahnen zu entkommen. Na ja. Ich habe dann einfach auf das nächste Solo von Lurie gewartet, das immer wieder kam und jedes Mal gut war.

    Vallon-Michel-Götte-Chansorn | Mit einer Hommage an den electric Miles schloss der erste Abend, mit Colin Vallon am Fender Rhodes, Matthieu Michel an Trompete und Flügelhorn mit unendlichem Delay, Götte am E-Bass und Chansorn am Schlagzeug. Es gab hingeknallte, brachiale und sparsame Beats, harte Bass-Riffs, darüber sphärische Klänge von Flügelhorn und Keys, das ganze wuchs zu einem ziemlich tollen Gruppensound zusammen – was sehr toll war (aber da ich Michel sehr lange nicht mehr gehört hatte auch ein wenig schade, denn ich hätte gerne etwas mehr von ihm gehört). Drummer Domi Chansorn hat mich anfangs etwas irritiert, seine Beats hatten etwa die Raffinesse der Beats der übelsten Euro-Dance-Kommerzkacke aus den Neunzigern, aber mit der Zeit fing mir der Mix zu gefallen an, es gab ja gewiss einen (oder mehrere) Gründe, warum er am Schlagzeug sass und warum er so spielte (ich kenne ihn nicht, weiss nicht, ob er stilistisch auch anderes macht). Jedenfalls entwickelte die Musik des Quartetts einen düsteren Sog, in dem aber auch das Lyrische und das Verspielte keinesfalls zu kurz kam. (Weil ich eh hundemüde war und der Abend kalt und das Taxi teuer sind wir nach einer knappen Stunde raus, so lange noch ein Bus fuhr … die ewigen Verspätungen sind etwas nervig, gerade wenn man zum Lohnsklaventeil der Bevölkerung gehört – aber bon, selber schuld).

    Freitag 20.5.

    Ephrem Lüchinger – „Are You Prepared“ | Wie sich die Musik von Lüchingers tollem Tripel-Album „Are You Prepared“ auf die Bühne übertragen liess, war mir ein grosses Rätsel – und ihm selbst anfänglich auch, wie er in einer sympathischen längeren Ansage, der ersten, nach wohl zwei Dritteln des Sets, meinte: er hätte zwar zunächst mal zwei Tage im Studio am Flügel aufgenommen (2008 war das), das Material aber Jahre später für die Veröffentlichung massiv bearbeitet. Als man ihn angefragt hätte, ob er das auch live aufführe, habe er schon beim Gedanken daran beinah in die Hose gemacht. Um die Musik auf die Bühne zu bringen musste er quasi den umgekehrten Weg nehmen. Dazu dienten zwei Flügel, zwischen denen Lüchinger sass und hin- und herwechselte, der eine von ihnen massiv präpariert (er wurde auch mal mit Schlägeln im Innern bespielt), ein Akai-Synthesizer auf dem unpräparierten anderen Flügel und hinter dem Klavierhocker ein Laptop. Das Set entwickelte einen tollen Flow, Lüchinger bewegte sich behende zwischen den Instrumenten und stapelte Klänge übereinander (das Live-Sampling war wohl der Beitrag von Florian Liechti, der im Hintergrund tätig war, vermute ich mal) und entwickelte immer neue Ideen, griff aber auch bereits gehörte Motive wieder auf, was durchaus für eine Kohärenz in der ansonsten fliessenden Entwicklung führte. Nach der erwähnten Ansage gab es dann eher kürzere Stücke, Segmente aus der Tripel-CD, die wirklich lohnt. Ein NZZ-Portrait, das vor etwas über einem Jahr aus Anlass der Veröffentlichung des Albums erschien, hatte ich wohl bereits einmal verlinkt, aber hier ist es noch einmal, für alle Fälle: http://www.nzz.ch/zuerich/zuercher_kultur/bereit-fuer-abenteuer-1.18499372

    Poing + Maja S. K. Ratkje – „Kapital & Moral“ | Das Trio Poing und die überragende Vokalistin Maja Solveig Kjelstrup Ratkje führen am Vorabend zum 1. Mai in Oslo traditionellerweise ein Programm mit Arbeiterliedern, Songs von Brecht/Weill, Eisler etc. auf. Die Rote Fabrik führt „rot“ nicht nur wegen der Farbe des Backsteinbaus im Namen, vermute ich … man lud das norwegische Quartett ein, sein Programm am Taktlos aufzuführen. Frode Haltli am Akkordeon war quasi Herz und Motor der Combo, während Rolf-Erik Nystrom am Alt (und gelegentlich Sopranino, auch ein paar Male simultan) und Hakon Thelin für Solistisches und ein tolles Fundament („we try to be as taktlos as we can“) sorgten und Ratkje in der Mitte stand und ihre beeindruckenden Sangeskünste darbot. Was für eine Stimme, was für ein Präsenz! Ich hatte sie noch nie live gehört, kenne auch nur wenige Aufnahmen, aber sie ist eine der ganz wenigen, die mir mit keinerlei Vokalakrobatik auf die Nerven gehen – sie darf alles, denn alles wirkt völlig echt, nichts aufgesetzt, alles völlig geerdet. Ratjke griff zum Megaphon, hielt ihr Mikro an ein altes Transistorradio (an dem sie mehr oder weniger ziellos rumzuschrauben schien, irgendwann hörte man schweizerdeutsche Stimmen rauskommen), spielte auch ein paar Male Violine. Los ging es mit einer tollen Version von John Lennons „Working Class Hero“, es folgten Stücke aus der „Dreigroschenoper“ („Die Ballade vom angenehmen Leben“, „Seeräuberjenny“), Hanns Eislers „Solidaritätslied“, gesungen auf Deutsch (das wird wohl je nach Gegend, wo die Formation spielt, angepasst, man soll ja durchaus was verstehen), später auch eine berührende Version von David Bowies „Rock’n’Roll Suicide“, dazwischen auch Lieder von Rudolf Nielsen, einer Schlüsselfigur der norwegischen Sozialdemokratie. Was mir bei der Performance übrigens auch sehr positiv auffiel war, wie entspannt und zugleich professionell alle vier zugange waren – im Gegensatz dazu wirkten die Tiptons nun erst recht wie eine Gymnasiastengruppe, denen die Eltern pausenlos zuflüstern, wie besonders und toll sie doch seien … harsche Worte, ich weiss, aber das beschreibt haargenau meine Eindrücke. Der einzige Wehmutstropfen: weil mal wie die übliche Verspätung herrschte und Poing/Ratkje sogar auf die Uhr guckten und in etwa pünktlich aufhörten, fiel ihr Set etwas kurz aus (eine gute Dreiviertelstunde wohl – ich hätte problemlos nochmal eine Stunde gelauscht).

    Ken Vandermark & Nate Wooley – „All Directions Home“ | Den Abschluss des Abends machte dann das Duo von Ken Vandermark und Nate Wooley – und soviel vorweg: sie spielten ein klasse Set! An sich konnten sie nach dem bisherigen Programm nur noch verlieren, sie waren zudem der einzige eigentliche Jazz-Act des Abends und das Publikum wohl vor allem wegen Lüchinger deutlich zahlreicher in die Fabrik geströmt als am Abend davor (allerdings nach Lüchingers Set auch schon allmählich ausgedünnt, dünkte mich). Die Blaupause für dieses Duo, in dem Vandermark erfreulicherweise etwa die Hälfte der Zeit Klarinette spielte, ist das Duo von John Carter mit Bobby Bradford, so erklang schon zum Auftakt ein Stück von Carter, später ein weiteres (bei dem VDMK dann aber Tenorsaxophon spielte). Es gab dissonante Momente, komplexe Linien, ohne Rhythmusgruppe gewiss keine ganz einfache Sache für das Publikum, aber die beiden spielten entspannt auf (Zirkuläratmung gab es von Wooley in genau einem Stück während einer Passage, und seine Ansagen waren relativ locker – nicht völlig, ich weiss schon, was vorgarten meinte und kann mir gut vorstellen, dass das im anderen Rahmen so ist). Wooley war als Solist für meinen Geschmack wohl etwas zu eklektizistisch – irgendwie nicht völlig unpassend, dass er auf die perverse Idee kam, eine Hommage an den Komponisten Wynton M. einzuspielen … und nicht unpassend, aber das dann wohl die grösste Schwäche, falls es denn eine geben muss (eine andere war das stellenweise etwas mäandernde Trompetenspiel, aber die meiste Zeit waren beide sehr fokussiert). Vandermark hat wirklich die Aura eines Gebrauchtwagenhändlers, aber ihn kannte ich ja schon. Was mir – nach Rolf-Erik Nystrom mit Poing – bei seinem Spiel nochmal sehr stark auffiel war, wie solide das alles war, auf wie sicherem Fundament und wie locker er auf allen drei Instrumenten auf ein grosses Vokabular zurückgreifen konnte und dennoch stets mit eigenem Charakter spielte – auch da drängte sich der Vergleich mit dem Tiefpunkt des Vorabends wieder auf: sich im Probekeller einschliessen und ein paar Monate üben, zunächst allein, danach in der Gruppe, wäre auch noch ein Rat, aber den mag man einer Combo mit zwanzigjähriger Geschichte ja nicht ernsthaft geben). Den Abschluss machte eine berückend schöne Version eines Stückes von Ornette Coleman (ich glaube „I Heard It on the Radio“, ein Outtake von der ersten Session zu „This Is Our Music“, das erst in der Box „Beauty Is a Rare Thing“ erschien – das würde passen, denn in der Ansage wurde erwähnt, dass es sich um ein unveröffentlichtes Stück handle).

    Den Schlussabend heute werde ich weglassen, was aber nicht primär an der Konkurrenzveranstaltung liegt, zu der ich gehen werde (dazu später vielleicht ein paar Zeilen – es gäbe als zweites auch noch Sheila Jordan zu hören … wie man diese Überbuchung an einem einzigen Wochenende hinkriegt, ist mir ein Rätsel, sowas kann man doch etwas besser koordinieren, erst recht wenn danach bis zur Sommerpause auch nur noch wenige interessante Jazzkonzerte stattfinden). Aber gut, das Wiener Programm (Maja Osojnik „All. The. Terms. We. Are“; Blueblut „Hurts so gut“; Madame Baheux), das im Zusammenhang mit einem grösseren Jelinek-Projekt des Schauspielhauses über die Bühne geht, spricht mich nicht sehr an und zwei Festivalabende am Stück sind, zumal wenn man mitten im Alltagstrott steht, auch genug. Aber soweit ein sehr schönes Festival dieses Jahr, bei dem wie schon am Unerhört der eher mit gemischten Gefühlen (klar, ich wusste, dass ich Maja Ratkje verfallen würde, aber sonst …) Abend zum durchschlagenden Erfolg wurde, während der erwartungsfroh angegangene Eröffnungsabend am Ende nicht ganz so toll war wie erhofft.

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    gypsy-tail-wind
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    Zürich, 21. Mai

    Nicolas Masson „Parallels“ mit Colin Vallon, Patrice Moret, Lionel Friedli

    Eine Sternstunde gestern in der Stube eines Freundes in Zürich – auf engstem Raum wohl 50 gespannte Zuhörerinnen und -hörer, darunter einmal mehr Irène Schweizer und die Intakt-Gang um Patrik Landolt und auch ein alter Bekannter, den ich seit Jahren nicht gesehen habe. Das Bechstein-Upright stand links an der abgeschrägten Hausecke, der Kasten geöffnet, sodass Vallon bei Bedarf auch hineingreifen oder Dinge gegen die Saiten drücken konnte, rechts das Schlagzeug von Lionel Friedli, in der Mitte der Bass und davor Masson, von dem alle Stücke des Abends stammten, mit seinem Tenorsaxophon. Auf der bald acht Jahre alten CD (Clean Feed, rel. 2009) spielt Vallon vor allem Fender Rhodes, mit ihm am Klavier klingt die Band schon mal grundsätzlich anders, aber auch Patrice Moret kam mir gestern engagierter und aktiver rüber als meist. Ich hörte ihn bisher entweder mit Colin Vallons Trio oder dem Elina Duni Quartett, Friedli war demnach nach Samuel Rohrer, Norbert Pfammatter und Julian Sartorius der vierte Drummer, mit dem ich Moret hörte – alles exzellente Schlagzeuger, auf die Moret wohl auch jeweils unterschiedlich reagiert. Gestern war er jedenfalls deutlich mehr als die Erdung und der ruhende Pol, der auch rhythmische Impulse gibt – insistierende aber feste, gleichmässige, verlässliche. Er war stärker ins Geschehen eingebunden, wie überhaupt das Quartett trotz des Saxophons, das sehr deutlich im Zentrum stand, zu einem Ganzen zusammenfand. Und das schon früh, in der ersten Nummer, die mich vom Gestus (und entfernt auch von der Linie des Themas) an Miles Davis‘ „second quintet“ erinnerte, obwohl Friedli und Vallon meilenweit von ihren Pendants entfernt sind. Masson trumpfte im langen Set mit einem klasse Ton auf, spielte intensive Soli, die sich völlig organisch entfalteten, selbst da, wo sie aus langen, liegenden Tönen plötzlich zu höchster Intensität fanden. Vallon glänzte mit dichtem, aufmerksamem Klavierspiel, liess aber auch genügend offene Räume, spielte oft mit beiden Händen eng zusammen in der mittleren Lage, brach aber auch zu einigen tollen Soli auf. Auch Moret und Friedli erhielten Raum für solistische Entfaltung, von beiden sehr gut genutzt. Friedli spielte auch mal mit kleinen Becken und Messingschalen auf den Toms, während Vallon wie erwähnt verschiedene Gegenstände – Filzkugeln mit Nägeln dran (an denen er sie halten konnte), eine blechene Bonbondose – gegen die Saiten des Klaviers drückte, quasi in Echtzeit präparierte Töne erzeugte, ganz wie er das auch am grossen Flügel immer wieder macht. Am beeindruckendsten waren aber die Geschichten, die Masson mit seinen Kompositionen und seinen Soli zu erzählen vermochte. Und noch toller war, wie eng geknüpft die Musik dennoch war, wie quasi die epischen Soli von der Band aufgefangen und eingebettet wurden, so dass auch das Ganze völlig stimmig und organisch war. Ein immenses Glück, solche Kunst im Augenblick ihres Entstehens und aus solcher Nähe erfahren zu dürfen!

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    nail75

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    Das Programm von Enjoy Jazz 2016 ist sensationell.

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    Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.
    #9747249  | PERMALINK

    john-the-relevator

    Registriert seit: 16.04.2005

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    nail75Das Programm von Enjoy Jazz 2016 ist sensationell.

    Wunderbar! Da werde ich wohl mal einige Tickets ordern :-)

    Erledigt – die wichtigsten Karten gleich mal gesichert!:sonne:

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    Music is like a river, It's supposed to flow and wash away the dust of everyday life. - Art Blakey
    #9747251  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Elina Duni & Jean-Paul Brodbeck – Zürich, 10. Juni 2016

    Elina Dunis Gesang berührt mich seit Jahren wie keine andere aktuelle Stimme des Jazz. Bisher hörte ich sie im Konzert stets mit ihrem Quartett, in dem sie eine symbiotische Beziehung mit ihren Begleitern eingeht, darunter der Lausanner Pianist Colin Vallon, ebenfalls einer der mir wichtigsten Jazzmusiker der letzten Jahre.

    Dass sie nun im Duo mit Jean-Paul Brodbeck am Klavier auftreten würde – und nicht mit Vallon – sorgte daher zunächst für Stirnrunzeln, dass „A Tribute to Billie Holiday“ angekündigt war für gewisse Bedenken: Kann das denn gutgehen? Die Antwort, in Kürze: Ja, es kann!

    Das Konzert fand in der Wohnung eines Freundes statt, der mit seinen Stubenkonzerten seit ein paar Jahren Grossartiges leistet. Auf engstem Raum drängten sich mehr Leute als je zuvor, manche von ihnen kommen immer wieder, obwohl sie nicht wissen, was sie jeweils erwartet – umso schöner, wenn der Abend sich als so wundervoll entpuppt.

    Duni sass neben dem Klavier, vor sich ein Mikrophon mit einem kleinen Verstärker – nicht unpassend, denn war es nicht gerade Billie Holiday, die als erste Jazzsängerin verstand, wie das Mikrophon zu einer ganz neuen Intimität führen konnte, wenn man es richtig einsetzt? Intim war der Rahmen sowieso. Mit den Texten der Lieder, die Duni ganz wie das grosse Vorbild ernst nimmt, gepaart, fühlte es sich manchmal nahezu verboten an – als erlebe man eine Darbietung, die gar nicht für Publikum gedacht war sondern klandestin, verborgen hinter Mauern stattfinden sollte. So wurde aus dem Konzert ein rite de passage: Duni und Brodbeck führten das Publikum ein in ihre innige Kunst, deren Wirkung eine nahezu Erotische ist – eine äusserst sinnliche Erfahrung mit dem Ergebnis einer Einheit von Körper und Geist (und Seele, so man an sie zu glauben geneigt ist) – die pure Glückseligkeit, in der man aufgeht. Worte kommen abhanden, Gedanken müssen mühsam – und mehr denn widerwillig, denn das bedeutet ja, man tritt wieder in die normale Sphäre zurück – gebündelt werden.

    Die Höhepunkte des Konzertes zu benennen ist müssig, Duni und Brodbeck – ein exzellenter comper, in dieser Rolle sichtlich aufging, aber auch immer wieder als feiner Solist zu hören war – legten los und spätestens beim zweiten Song hatten sie die gebannte Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Die Songs stammten zunächst alle aus dem Repertoire von Holiday. Da waren „Solitude“, „I’ll Be Seeing You“ oder „Gloomy Sunday“, der „Hungarian suicide song“. „I Cover the Waterfront“ erklang in einem raffinierten Arrangement, das vom 4/4 in einen 6/8 wechselte – die Liebe zu diesem Song teilte Holiday sich übrigens mit Lester Young, mit dem sie einige der schönsten Aufnahmen des Jazz machte. Mit einer berührenden Version von „I’m a Fool to Want You“ kam, wie Duni danach sagte, der Punkt, an dem alles endet. Stop. Es folgte zum Abschluss eine heiterere Note mit „The Ballad of the Sad Young Men“ (mit einem bemerkenswerten Text von Fran Landesman, die meinte, es gehe im Lied um „drifting through the town, drinking up the night, trying not to drown“).

    Als Zugabe erklang dann Shirley Horns „Here’s to Life“ wie passend! Aber noch passender die Ansage, in der Duni eine anscheinend auf Youtube zu findende Version erwähnte, in der Horn nach der Amputation eines Fusses nicht mehr selbst Klavier spielte – aber immer noch das Leben besingt:

    I had my share
    I drank my fill
    And even though I’m satisfied
    I’m hungry still
    To see what’s down another road
    Beyond the hill
    And do it all again

    Here’s to life! Here’s to Elina Duni! Here’s to Jean-Paul Brodbeck! Danke für diesen bezaubernden Abend. C’était vraiment sublime!

    zuletzt geändert von gypsy-tail-wind

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    #9885145  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Vor zwei Wochen, zum Auftakt meines Urlaubes, hörte ich in Ravenna im Teatro Rasi zweimal Louis Moholo im Konzert.

    Am ersten Abend (20.6.) spielte er mit dem MinAfric Orchestra um Pino Minafra (der auch hinter dem Italian Instabile Orchestra steht, aus dem viele Leute auch bei MinAfric dabei sind) und seinen Sohn Livio, mit den Gästen Keith Tippett, Julie Tippetts und Louis Moholo-Moholo. Das Konzert hätte Open Air in einer alten Festung, dem Rocca Brancaleone stattfinden sollen (ich hatte mir bei einem Spaziergang am Abend davor den Ort angeschaut, wäre super gewesen), wurde aber wegen unsicheren Wetters (dabei war ab dem Nachmittag bestes Wetter und das änderte sich die kommenden zwei Wochen nicht mehr) in ein Theater verlegt, das in eine ehemalige Kirche eingebaut wurde, das Teatro Rasi. Darin war die wilde Musik der grossen Band (ich glaube 3 tp, 3 tb, 5 sax, 2 p/keys, b, 2 d, Julie Tippetts und drei weitere background Sängerinnen, in einem Stück wurde noch Nerudas „Canto General“ rezitiert – einer der tollsten Momente des Konzertes) irgendwie etwas unpassend, auch der Klang war nicht optimal. Aber es hat doch grossen Spass gemacht, den Arrangements zu lauschen, die sich auf Stücke der Blue Notes und der Brotherhood of Breath bezogen, den beiden Gruppen von/um Chris McGregor, mit dem Moholo damals in den Sechzigern aus Südafrika migrierte – er ist ja der letzte überlebende der Blue Notes. Die Arrangements stammten von Roberto Ottaviano, dem Altsaxophonisten, der auch mitspielte – er kommt eher aus der Lacy/Waldron-Ecke und ist etwas zu zahm für diese Musik, scheint aber ein enorm lieber Kerl zu sein, wie Alexander Hawkins später im Gespräch mehrmals erwähnte (Alex hat mit Ottaviano neulich die Hälfte einer Lacy-Hommage im Duo eingespielt – eine sehr feine Doppel-CD mit Ottaviano im Quartett und dann eben im Duo). Tippetts macht mit seinem „Dedication Orchestra“ ähnliche Dinge, aber mit den Italienern war es wohl eine Spur wilder, lebendiger – und daher für mich besser. (Von diesem Abend stammen die beiden Photos von Moholo, ich sass zwar in der ersten Reihe aber er war weit hinten auf der Bühne, fast etwas versteckt.)

    Am Abend darauf (21.6.) gab es dann Louis Moholo-Moholo „5 Blokes“, seiner regulären Combo dieser Tage, mit Alexander Hawkins am Klavier, John Edwards am Bass sowie den Saxophonen von Jason Yarde (as, ss) und Shabaka Hutchings (ts). Das war dann ein grandioses Konzert, obwohl auch hierfür das (für diesen Abend von Beginn an vorgesehene) Kirchen-Theater nicht perfekt war. Aber die Musik war wahnsinnig gut! Sehr schön fand ich, wie Yarde und Hutchings einander Raum liessen, wie toll sie zusammen spielten (und wie gut das klang), die Musik war zwar geladen, energetisch, aber es gab keinen einzigen Moment der Konkurrenz unter den Saxophonen, überhaupt war das ganz ausgeprägte Gruppen-Musik, in der es nicht um Egos und brillante Soli ging sondern um höchst fokussiertes gemeinsames Spiel. John Edwards war wie üblich beeindruckend – für mich einer der komplettesten Bassisten der gegenwärtigen Szene, zupackend und treibend, mit grossem Ton, aber auch verspielt, den Klängen nachsteigend, den Bass als ganzes spielend. Hawkins glänzte wie alle anderen in erster Linie mit ensembledienlichem Spiel, setzte aber auch zu ein paar tollen Soli an (die natürlich alle fünfe hatten, die Saxophonisten öfter als die anderen, Yarde spielte auch ein paar Male simultan Sopran- und Altsax).

    Danach traten Keith Tippett & Julie Tippetts im Duo auf – und das war eine bekloppte Idee, denn die beiden – die komplett frei improvisierten, was ja gerade wenn eine Stimme dabei ist, wirklich nicht jedermanns Sache ist – hätten ganz klar als Opener auftreten müssen … aber dafür reichte anscheinend das Verständnis der Verantwortlichen vom Ravenna Festival nicht weit genug (das Festival spielt sonst v.a. hochkarätige Klassik). Die Leute, beglückt vom phantastischen (und wohl fast 90 Minuten langen) Moholo-Set, liefen in Scharen raus – und ironischerweise war für die beiden im Duo der Rahmen nun wirklich perfekt, mit rotem Licht im Chor der Kirche, der sich hinter der Bühne öffnete. Da ich aber noch etwas mit Alex reden wollte (am Abend davor landeten wir mit der ganzen Band und diversen Angehörigen in einem Restaurant, ich hatte u.a. die Gelegenheit, mich mit Hazel Miller, der Chefin von Ogun, zu unterhalten), der am nächsten Morgen früh weiter musste, hörte ich nur die letzten ca. 20 Minuten (das Set dauerte wohl 40-45 Minuten), nachdem ich mich weit hinten reingeschlichen hatte.

    Alexander und ich haben auch endlich mal dran gedacht, jemanden zu bitten, ein Photo zu machen (zum Glück noch vor meinem Sonnenbrand …):

    Alexander erwähnte übrigens, dass der Flügel, den er spielte (und der zwischen den Konzerten nachgestimmt wurde) von Arturo Benedetti Michelangeli signiert sei – er hätte ihn bei einem Konzert in Lugano (glaube ich) gespielt und das Instrument so sehr gemocht, dass er es signiert habe.

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    gypsy-tail-wind
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    Ein längerer Post zum Météo folgt dann wohl noch … ich freue mich bereits auf das nächste Festival, gehe mal wieder (war erst ein einziges Mal dort) nach Willisau, Samstag steht (nach einem Solo-Set von John Edwards) folgendes John Zorn-Programm an, Sonntag höre ich dann noch Mat Maneri/Randy Peterson und das Trio von Joachim Kühn (wenn ich eh grad schon dort bin, dachte ich … Kühn sei mit Shepp in Mulhouse super gewesen, aber es ist Maneri, den ich wirklich hören will):

    Masada Quartet
    John Zorn (as)
    Dave Douglas (t)
    Greg Cohen (b)
    Joey Baron (d)

    Banquet of the Spirits plays Masada — The Book Beriah
    Shanir Blumenkranz (b)
    Tim Keiper (d)
    Brian Marsella (keys)
    Cyro Baptista (perc)

    Cleric plays Masada -The Book Beriah
    Matt Hollenberg (g)
    Nick Shellenberger (keys, voc)
    Dan Kennedy (b)
    Larry Kwartowitz (d)

    Simulacrum
    John Medeski (org)
    Matt Hollenberg (g)
    Kenny Grohowski (d)

    Gyan Riley and Julian Lage play The Bagatelles
    Gyan Riley (g)
    Julian Lage (g)

    Asmodeus plays The Bagatelles
    Marc Ribot (g)
    Trevor Dunn (b)
    Tyshawn Sorey (d)
    John Zorn (cond)

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    #9937209  | PERMALINK

    gypsy-tail-wind
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    Joachim Kühn Trio „Beauty & Truth“ – Jazzfestival Willisau, 4.9., 14:00 * * * * *

    Mit zwei jungen Mitstreitern an Kontrabass und Schlagzeug beendete Joachim Kühn das diesjährige Jazzfestival Willisau mit einem fulminanten Set. Ekstatische Musik, die aber auch Raum für das elegische liess. Kühn entlockte dem grossen Konzerflügel singende, schwebende Töne, griff aber auch mächtig in die Tasten, wurde stürmisch wie man es von Cecil Taylor kennt. Chris Jennings glänzte am Kontrabass mit einem riesigen Ton und vielen Ideen, während Eric Schaefer am Schlagzeug für zupackende Beats sorgte. Auf dem Programm standen Stücke von Kühn selbst, das Titelgebende Stück von Ornette Coleman wurde als bezaubernder Opener für „The End“ von The Doors verwendet, von Ornette stand auch noch „Researching Has No Limits“ auf dem Programm, als zweite und letzte Zugabe hörte das begeisterte Publikum Kühns Arrangement von Gil Evans‘ „Blues for Pablo“, nach Evans‘ Arrangement, das auf dem ersten Columbia-Album mit Miles Davis zu finden ist. So wurde der erste Besuch Kühns in Willisau seit 1973 zu einer Sternstunde!

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    gypsy-tail-wind
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    Joachim Kühn Trio „Beauty & Truth“ – Jazzfestival Willisau, 4.9., 14:00 *

    Joachim Kühn trat zuletzt 1973 in Willisau auf. Bei seinem neuerlichen Besuch wurde er vom Publikum abgefeiert – für eine Musik, die ziemlich ausgeleiert klang, um nicht zu sagen: abgedroschen. Der Titel des Konzertes, zugleich der Titel der aktuellen CD des Trios, stammt von Ornette Coleman – das Stück erklang früh im Konzert, als angepappter, elegischer Auftakt zu einer Version von The Doors‘ „The End“. Dieses mag als Beispiel gelten, warum Kühn goes EST keine gute Idee ist. Eric Schaefer (der mit dem bejubelten Trio [em] bereits ähnliche Pfade beschritt) hämmerte plumpe binäre Beats, wenn es mal swingen sollte, war das nach Lehrbuch sicherlich korrekt ausgeführt, aber weder von Groove noch von Swing gab es in dem langen Set auch nur die geringste Spur. Überzeugender war Chris Jennings, der Mann am Kontrabass, mit singendem, voluminösen Ton und auch solistisch mit recht guten Ideen. Kühn selbst spielte manchmal nur zusammenhanglose Fragmente, aufgereiht an dem Faden der Pop-Beats – und vom Publikum intensiv beklatscht. Anderswo begann er verhalten, steigerte sich aber rasch zu dichten Arpeggi und hingehämmerten Clustern – es wurde ihm mit lauten Rufen und Pfiffen verdankt. Die Begeisterung, die in der Festhalle herrschte, konnte ich nun leider absolut nicht nachvollziehen – das war zum zweiten, dritten Mal aufgekochter Kaffee, alter Wein in alten Schläuchen, rhythmisch eindimensional, melodisch anspruchslos, das Verarbeiten von Pop-Material hat sich längst auch in Kühns eigenes kompositorisches Schaffen eingeschlichen – was dieses nicht besser macht. Schade, dass ich nicht nach dem tollen Duo-Set von Mat Maneri und Randy Peterson gegangen bin.

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    gypsy-tail-wind
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    So.

    Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen, dachte ich gestern noch, als ich auf den Zug wartete, der mich aus dem Hinterland zurück in die Zivilisation bringen sollte … mit etwas mehr Abstand schreibe ich die geplante dritte Rezension nicht auch noch und tendiere zum Verriss.

    Wenn ich nett bin (und das bin ich wohl meistens, wenn ich Konzerte bewerte), gebe ich knapp * * *.

     

    Zu Zorn, dem Maneri-Konzert und mehr (auch zu Mülhausen) schreibe ich hoffentlich im Verlauf der Woche noch ausführlicher.

    zuletzt geändert von gypsy-tail-wind

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    gypsy-tail-wind
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    Météo – Mulhouse Music Festival – 23.-27. August 2016

    Mit einiger Verspätung doch noch ein paar Zeilen zum grossartigen Météo | Mulhouse Music Festival, das vom 23. bis am 27. August stattfand. Das Festival verteilt sich über grössere Teile der Stadt, wobei der Auftakt jeweils um 12:30 in der Chapelle Saint-Jean stattfand (eine Stunde früher gab es direkt nebenan jeweils noch ein kurzes Konzert für Kinder, im Innenhof der Bibliothèque Grand’rue). Auch der Abschluss fand jeweils am selben Ort statt, dem Noumatrouff, einer Halle etwas ausserhalb (zwischen Automobilmuseum, Polizeigebäuden und dem Depot der Strassenbahnen und Busse). Die Nachmittagskonzerte, die jeweils um 17:30 (am Samstag blöderweise um 17:00) beginnen, verstreuten sich aber über vier verschiedene Orte. Dass man sich mal etwas die Füsse vertritt (oder halt mit dem kostenlosen Shuttle-Service durch die Stadt fährt) ist allein deshalb gut, weil das Programm so dicht ist, dass man sonst kaum dazu kommt, einen Blick auf die Stadt zu erhaschen (in die grossen Kirchen z.B. habe ich es nicht geschafft, obwohl ich ein Zimmer in einem Hotel direkt bei der zentralen Place de la Réunion hatte).

    Ich stiess leider erst am Mittwoch 24.8. für das Konzert um 17:30 dazu – liess mir sagen, das Konzert von Archie Shepp/Joachim Kühn am Eröffnungsabend sei ganz ordentlich gewesen, während Supersonic „Play Sun Ra“ völlig daneben gegangen sei. Gut, mit Kühn machte ich dann ja meine Erfahrung (s.o.). Wirklich schade war es aber wohl um das Mittagskonzert am Mittwoch, das einerseits das Duo Luft (Mats Gustaffson an Saxophonen und Erwan Keravec am Dudelsack), andererseits den Bassklarinettisten Christer Bothén solo präsentierte (er schien an der Gimbri begonnen zu haben, merkte aber dass das Ding die doch ordentlich grosse Kapelle nicht zu füllen vermochte). Zum Abschluss holte Bothén die beiden anderen auch nochmal nach vor und sie spielten zu dritt.

    Um 17:30 ging es ins Entrepôt, auch das ein altes Industriegebäude, umgebaut zur kleinen Konzerthalle mit Vorraum (Bar, ein paar Tische). Da traf ich dann schon bereits die anderen Bekannten, um deren Anwesenheit ich wusste (darunter die beiden Mitstreiter vom Warschau-Besuch im März, deren einer mich überhaupt erst aufs Météo gluschtig gemacht hatte – danke noch einmal dafür!).

    Als erstes spielte Zeena Parkins solo, an ihrer eigenen (!) traditionellen Harfe sowie an der kleinen elektrischen, die sie meines Wissens auch immer dabei hat (ich habe sie bisher nur einmal im Konzert gehört, mit Phantom Orchard, ihrem Duo mit Ikue Mori – grossartige Sache, am Taktlos 2005). Sie hatte ihre Instrumente vor der Bühne, direkt im Publikum aufgebaut. Vor beiden Harfen lagen unzählige Pedale (auf dem Photo diejenigen für die elektrische Harfe), mit denen Parkins den Sound ihrer Instrumente bearbeitetete. Das Solo-Set war intensiv und beeindruckend, ganze Klanglandschaften türmte Parkins, manches war wohl geplant, aber das Set wirkte spontan und riss mit.

    Weiter ging es mit dem Duo Clayton Thomas/Anthea Caddy – an gestrichenem Kontrabass und Cello (auf der erhöhten Bühne) erzeugten sie Drone-Klänge, die an LaMonte Young erinnerten. Bei grossen Teilen des Publikums kam das nicht gerade gut an, aber der Saal war so dunkel, dass die meisten sich gezwungen sahen, es durchzustehen … das Problem war wohl, das gewisse Frequenzen als sehr laut empfunden wurden, dabei war das Konzert nicht besonders laut, doch die Klänge teils in der Tat sehr durchdringend. Ich fand auch dieses Set faszinierend, war jedoch etwas enttäuscht, da vorgarten mir Clayton Thomas mehrmals ans Herz gelegt hat, man aber in diesem Kontext natürlich nichts davon mitkriegte, wie der es denn so mit dem Jazz, der Improvisation hält.

    Am Abend ging es ins Noumatrouff, wo es jeweils einen Teller vom senegalesichen Food-Stand gab (es gab drei verschiedene Essensstände, eine Weinbar und ein Stand mit Bier (schlechtem notabene, man ist ja in Frankreich, die halten – wenn man vom Norden mal absieht – diesbezüglich weiterhin was auf sich).

    Den Auftakt machte die Gruppe Louis Minus XVI, ein französisches Quartett mit zwei Saxophonen, Bassgitarre und Schlagzeug. Sie spielten brachiale, ausgespaarte Stücke, rhythmisch sehr ansprechend, aber die kreischenden Saxophonduelle fand ich auf die Dauer etwas ermüdend – dieses permanente (musikalische) Macho-Gehabe … und davon würde es mit The Thing ja noch mehr als genug geben.

    Als zweites spielte ein Trio, das sich die Pianistin zusammenstellen durfte: Sophie Agnel/Joke Lanz/Michael Vatcher. Das Trio, so verstand ich, hatte zuvor nie zusammengespielt – und war selbst vom Erfolg ihres Sets gerade so begeistert wie das Publikum. Agnel spielte das ganze Klavier, Tasten wie Saiten und Gehäuse, Lanz legte eine fabelhafte Performance voller überraschender Haken hin, bewies dabei enormes Einfühlungsvermögen, grossen Humor und – pardon, ich bin da altmodisch und skeptisch – beeindruckende Musikalität, während Vatcher den impulsiven aber aufmerksamen Begleiter am rechten Rand gab. Sie alle bewegen sich in ihrem Spiel jenseits gängiger Konventionen – dass sie auf diese Weise zusammenfanden, war das pure Glück!

    Zum Abschluss dann – „ladies, motherfuckers, jazz fans!“, so die charmante Begrüssung – The Thing & Joe McPhee. Das Trio um Mats Gustafsson (ts, bari), Ingebrigt Haker Flaten (b, elb) und Paal Nilssen-Love (d) hat natürlich schon öfter mit Joe McPhee gearbeitet, einer Ikone des afro-amerikanischen Free Jazz, deren Verbindungen zu Europa weit zurückreichen (zwei Stichworte nur: Hat Hut, Peter Brötzmann). Das Quartett entpuppte sich – ganz wie erhofft, ich hatte The Thing bisher nie live gesehen – als musikalischer Taifun. McPhee spielte Tenorsaxophon und Pocket Trumpet, sein Mikrophon schien leider etwas zu leise (oder Gustafsson, der Berserker, spielte im Konzert doppelt so laut wie beim Soundcheck, zuzutrauen ist es ihm, dem Mann ist ja überhaupt fast alles zuzutrauen), doch die beiden steigerten sich immer wieder in intensive Sax-Battles (Gustafsson auch am Bariton), während die Trompete eher dem Kontrast diente, spielerische Elemente hineinbrachte, die dem brachialen Trio zwar nicht abgehen, die aber doch beim konstant hohen Energie-Level nicht auf den ersten Blick hörbar werden. Die Stücke waren zugleich sehr konzis, auf den Punkt – was in erster Linie Haker Flaten und Nilssen-Love zu verdanken war -, liessen aber auch viel Raum für Soli.

    So endete der erste Abend also direkt mit zwei Highlights am Stück – und einen Ausfall gab es nicht zu vermelden, dazu waren auch Louis Minus XIV zu stark. Ein beglückender erster Tag, der bei mir am Rand der Erschöpfung endete.

    Am Donnerstag 25.8. liess ich es dann etwas ruhiger angehen – ein Besuch in der Librairie Bisey an der Place de la Réunion brachte Zuwachs fürs Bücherregal (einen Band mit Notizen von Paul Valéry und die neue Biographie von René Urtreger), um 11:30 ging es in die Bibliothek zum Solo-Konzert von Per Ake Holmlander, der mit seiner Tuba schon eine halbe Stunde früher dort sass und einspielte. Das Konzert dauerte wohl zwanzig Minuten und endete mit einer tollen Version von Dollar Brands „Jabulani“, in halsbrecherisch schnellem Tempo gespielt.

    Dann ging es die paar Schritte hinüber zur Chapelle Saint-Jean, wo der Schlagzeuger und Percussionist Alexandre Babel ein Solo-Set spielte. Dieses war zwar klanglich durchaus attraktiv (er hatte allerlei Alltagsgegenstände dabei, die teils wohl auch verkabelt/verstärkt waren), aber am Ende keine Linie zu finden schien, etwas skizzenhaft blieb – und auch nur eine halbe Stunde dauerte.

    Die Nachmittagskonzerte (Hélène Breschand/Kerwin Rolland im Duo und Mathias Delplanque solo – also Harfe und dazu viel Elektronik) liess ich dann bleiben, zog stattdessen ein wenig durch Mülhausen, besuchte auch das (kostenlose!) Musée des Beaux Arts, in dem neben einer sehenswerten Gemäldesammlung (die einiges Licht auf die wechselhafte Geschichte des Elsass wirft) im oberen Stock auch die ziemlich interessante Biennale de la Photographie de Mulhouse zu sehen war, mit vor allem zeitgenössischen aber auch einigen älteren Arbeiten von etwa einem Dutzend Photographinnen und Photographen.

    Am Abend ging es dann wieder ins Noumatrouff (zu Fuss bei der sengenden Hitze ein Spaziergang von 20 Minuten, raus aus dem Zentrum durch ein Viertel, in dem sich Migranten angesiedelt haben, auch quer durch ein paar Wohnsiedlungen mit Kinderspielplätzen). Als erstes gab es zwei halbe Sets: Agustí Fernández/Kjell Nordeson + Dieb13 Solo. Der beeindruckende katalanische Pianist Fernández (ich hörte ihn schon ein paar Mal mit Barry Guy) spielte im Duo mit Nordeson an Percussion (inklusive Vibes), danach hatte Dieb13 Mühe, an den fabelhaften DJ-Auftritt von Joke Lanz anzuknüpfen. Dem Duo hätte ich gerne länger gelauscht, es war klasse; das DJ-Set überzeugte am Ende einigermassen, es gab auch ein paar Jazz-Samples (ich erkannte aber nur gerade Ornette Colemans „Lonely Woman“).

    Das mittlere Set gehörte dann Mats Gustafsson’s Nu Ensemble, fraglos die Hauptattraktion des Abends. Nicht nur The Thing und McPhee spielten mit sondern auch Fernández, Nordeson, Dieb13, Holmlander und der am Vortag aufgetretene Bothén. Zu ihnen stiessen noch Jon Rune Stom am zweiten Kontrabass und die Sängerin Mariam Wallentin. Das eine lange Stück, das zur Aufgeführung gelange, war Little Richard gewidmet. Das ergab nicht direkt Sinn, doch Wallentin – mit tollem Timbre und überhaupt feinem Gesang, der für mein Empfinden leider etwas unter ihrem Akzent litt. Und da kommt wohl Richard Wayne Penniman aus Macon, Georgia ins Spiel: Die Worte, die Wallentin zu singen hatte, waren eine lange Aneinanderreihung von Blues- und Rhythm & Blues-Klischees … da es auf die Worte sowas von nicht ankam bzw. es die Art von Worten waren, die man versteht, ohne die Sprache zu kennen, fand ich es schade, dass Wallentin nicht einfach Schwedisch singen durfte/konnte/mochte. Insgesamt gefiel mir das Set sehr gut, es war abwechslungsreich und machte (aber?) kaum von der geballten Power der versammelten Musiker Anwendung – erwartet hatte ich eher ein ohrenbetäubendes, in die Magengrube fahrendes Power-Set. Aber zu den Top-Konzerten des Festivals (oder Jahres) reichte es dann doch nicht.

    Den Abschluss machten dann nochmal halbbatzige Drone-Klänge, diesmal aus Österreich, dargeboten von der Gruppe Ventil, die mit drei Gitarristen/Sythesizer-Spielern (mit weiterer Elektronik) sowie einer Schlagzeugerin und Video-Projektionen auffuhren. Die Stühle wurden dazu entfernt, die Bässe hochgeschraubt so weit es möglich war, das ging nun in die Magengrube, war aber nach einer Viertelstunde schon ziemlich ermüdend – vor allem irritierte mich, dass die Stücke (es schien sich um solche zu handeln) recht kurz gehalten wurden, und dass solche Musik dann einfach, nach einer knappen Stunde, ohne weitere Konsequenzen (ein Erdbeben, ein Flächenbrand, wenigstens eine Wunderkerze in die Nacht gehalten) zu Ende gehen kann, verstehe ich dann erst recht nicht mehr.

    Der Freitag 26.8. ging los mit William Parker in der Bibliothek. Er spielte Fetzen von „‚Round Midnight“ auf der Pocket Trumpet, griff zur Shakuhachi (Photo) – und hatte leider wieder seinen schwarz-rot bemalten körperlosen Kontrabass dabei (scheint sein Reise-Instrument zu sein – ich warte weiterhin auf die Chance, ihn mal live auf einem anständigen Instrument zu hören). Was allerdings sehr toll war: wie er sich um die Kinder bemühte, sie zum Mitmachen animierte. So richtig gelang die Lektion in Siebner-Takt allerdings nicht. Parker spielte eine Phrase (2-2-3) und sang dazu: „Hap-py hap-py Kan-ga-roo“, die Kids sollten nun jeweils auf 1 in die Knie und auf 2 hochspringen – wie ein Känguruh halt. Dass sie bei „roo“ aber nicht schon wieder von vorne anfangen sollten, merkten sie natürlich nicht und die Sprachbarriere war wie am Vortag mit Holmlander nicht zu überwinden. Ein Konzert war das nicht, aber es berührte mich doch sehr, zu sehen, wie Parker sich Mühe gab und wie die Kinder von der Klangvielfalt fasziniert waren, die er bot (er griff erst ganz zum Schluss für ein kurzes Stück zum Bass).

    Weiter ging es mit einem halb erwarteten Höhepunkt: Joachim Badenhorst spielte solo in der Kapelle, begann an der Klarinette, nutzte Loops und ein paar Effekte, sparsam und geschickt eingesetzt. Später griff er auch zum Tenorsax und zur Bassklarinette, improvisierte, spielte Liefhaftes, Repetitive, Freies. Ich kannte ihn aus dem Konzert (eines mit einem mittelprächtigen Ensemble, in dem er herausragte) und von einer CD (Samuel Blasers Consort in Motion mit Paul Motian und Musik von Guillaume de Machaut, „A Mirror to Machaut“ auf Songlines), wusste nicht so genau, was mich solo erwarten würde. In einer sympathischen Ansprache erzählte er gegen Ende des Konzertes, dass er schon länger solo unterwegs sei, die Musik sich auf diesem Weg verfestigt habe, er von der völlig freien Improvisation weg gekommen sei, und er erzählte von einem Aufenthalt in Japan, bei dem ein Stück entstanden ist, das er an der Klarinette präsentierte (wie den wohl grösseren Teil des Sets ganz ohne Effekte).

    Am Nachmittag fanden die Konzerte diesmal in der Église Sainte-Geneviève statt, ganz in der Nähe vom Entrepot – der Eintritt war frei (wie auch bei den Mittagskonzerten) und es sassen wohl auch Leute aus der Stadt da, die sonst nicht zum Festival gingen. Ich kam jedenfalls mit einer Dame ins Gespräch, die meinte, sie sei aus Metz und lebe jetzt in Mülhausen, und die Elsässer hätten doch alle einen an der Waffel (sie hat das etwas vornehmer ausgedrückt), leider ging dann die Musik los bevor ich nachfragen konnte, weshalb, aber wenn man mal das Wahlverhalten anschaut … nunja. Den Auftakt machte Áine O’Dwyer, die sich auf der Orgelempore eingerichtet hatte, zunächst mit langen Glocken spielte, allmählich zur Orgel überging, dabei eins ums andere Blätter (mit wenigen Bleistiftkritzeleien drauf, Spielanweisungen wohl, ich konnte nur einen flüchtigen Blick darauf erhaschen nach dem Konzert) mit nonchalanter Geste über die Schulter nach hinten und unten ins Kirchenschiff warf. Ihr Set entwickelte sich langsam, aber es nahm einen gefangen. Sie spielte wieder mit Drone-Sounds, hielt lange, durchdringende Töne oder auch schwere Akkorde. Am Ende stieg sie tanzend herab, bewegte sich durch den Mittelgang nach vorne, sich dabei um ihre eigene Achse drehend, dabei die Glocken vom Beginn aneinander schlagend (mehrere in jeder Hand). Ein etwas seltsamer, irgendwie ritualisiert scheinender Auftritt, der mich aber überzeugte.

    Nach der Pause ging es mit Mike Majkowski solo weiter – Kontrabass. Sein Spiel nahm keinen Schwung auf, es blieb wieder im Fragmentarischen stecken, erweckte eher den Eindruck als höre man ihm beim Üben zu als den eines Konzertes vor Publikum.

    Am Abend machte ein phänomenales Trio den Auftakt: Hamid Drake/William Parker/Pat Thomas. Ich habe ja meine liebe Mühe mit William Parker, aber zusammen mit Hamid Drake ist er eigentlich immer ganz gut. Vom englischen Pianisten Pat Thomas hatte ich noch nie gehört – ein grober Fehler! Das Trio funktionierte hervorragend, kraftvoll, frei und groovend im dicht-verzahnten Interplay. Parker setzte sich später auf den Stuhl und griff die Rahmentrommel (die im Bild noch auf dem Stuhl angelehnt steht), Parker wechselte zur Gimbri (ob er das spontan tat, es handelte sich ja wohl um Bothéns Instrument, das in dessen Händen auch am Vorabend in Gustafssons Nu Ensemble zum Einsatz kam) – und Drake begann einen arabischen „chant“ mit seiner hellen Stimme – das war berührend und bewegend und verfolgte einen noch eine ganze Weile.

    Nach einer Umbaupause folgte Green Dome, ein Trio um Zeena Parkins und zwei bärtige Hipsters namens Ryan, der eine (Ryan Ross Smith) an Klavier und Synthesizer, der andere (Ryan Sawyer) am Schlagzeug. Das ging den Bärten und Holzfällerhemden gemäss ruppig zu, laut, aber etwas zu absehbar und am Ende ziemlich plump, da vermochte auch Parkins selbst kaum zu glänzen. Alles schien in ein Korsett gezwängt, notiert – es gab keine Luft, die die Musik hätte atmen können. Aber ich war im Nachhinein sehr froh, dass ich geblieben bin, denn das dritte Set hatte es in sich!

    Den Abschluss machte das Ensemble Zeitkratzer mit dem Programm Lou Reed „Metal Machine Music“ Parts 1-4 – ich hatte keine Ahnung, was einen da erwarten würde … und war umso beeindruckter von dieser so konsequenten, minimalistischen, treibenden Musik. Pianist Reinhold Friedl, der die Gruppe auch leitet, spielte eigentlich eine Art freies Klavierkonzert (die meiste Zeit stand er über den offenen Flügel gebeugt und spielte drinnen wie auf den Tasten, präparierte die Saiten, erzeugte viele überraschende Klänge), ausser ihm hatte Schlagzeuger Maurice de Martin ordentlich die Hände voll, die Bläser brachen hie und da kurz aber heftig aus, spielten aber sonst ganz wie die Streicher es durchgehend taten, einfache Riffs aus zwei, drei Tönen. Das Ding konnte natürlich erst beginnen, nachdem Frank Gratkowski nochmal nach hinten ging, um seine Noten zu holen (er meinte im Vorfeld zu einem der anwesenden Bekannten auf die Frage, ob das Konzert denn gut würde, er hätte ja bloss zwei Töne zu spielen … aber auch da muss man natürlich wissen, wann man ein- und wann wieder aussetzen muss, wo man mal kurz von der Routine abweicht). Das Stück mit seinem beharrlich stapfenden Beat entwickelte einen unaufhaltsamen Drive, der mich immer wieder an Terry Rileys „In C“ denken liess. Die Performance dauerte 66 Minuten – und war ein eindrückliches Erlebnis und ein schöner Abschluss eines tollen, an Musik überreichen Tages.

    Auch für Samstag hatte ich mir vorgenommen, fast das komplette Programm anzuschauen. Vom Kinderkonzert Erwan Kerawecs am Dudelsack hörte ich nur auf dem Weg zur Kapelle ein paar Töne, die natürlich locker über das Dach auf die Strasse schallten. In der Chappelle Saint-Jean spielte als letztes Clayton Thomas, der zweite Kontrabassist, den man am Festival solo hören konnte. Und dieses Mal war er nun zu erleben, wie er mit dem Bogen, mit verschiedenen Schlegeln, Drumsticks und anderen Gegenständen den Bass bearbeitete – ein feines, sehr stimmungsvolles, aber nicht unbedingt überragendes Set, das nach dem enttäuschenden Majkowski umso überzeugender wirkte.

    In die Bibliothek ging ich aber auch an diesem Tag noch einmal, denn um 14:30 gab es ein Gespräch mit Roscoe Mitchell, geführt von Alexandre Pierrepont, der ein Buch über die AACM geschrieben hat. Er sprach zunächst länger zur Einführung, gab einige Plattheiten über die AACM zum Besten, begründete aber auch überzeugend, warum sein Buch neben dem von George Lewis bestehen dürfe (einerseits natürlich die Insider/Outsider-Perspektive, andererseits aber auch sein Interesse an anthropologischen Fragen – ich werde mir das Buch – „La Nuée – L’AACM: un jeu de société musicale“, bei Parenthèses – wohl gelegentlich anschaffen). Das eigentliche Gespräch musste dann zum Glück nicht übersetzt werden (die Frage ging ans Publikum und kein Franzose oder Italiener hat sich gewagt zuzugeben, dass er des Englischen nicht mächtig sei) und war ordentlich interessant, vor allem weil Mitchell einfach etwas erzählte, über seine Einstellung zur Musik, seine Erfahrungen beim Vermitteln von Musik (auch er unterrichtet an einer Hochschule), darüber, wie sie in den späten Sechzigern nach Europa gekommen seien usw. Pierrepont hätte sich aber etwas klügere und weniger erwartbare Fragen einfallen lassen können, am Ende war es natürlich toll, eine Legende wie Mitchell sprechen zu hören, aber das blieb alles recht höflich und etwas unverbindlich. Die Publikumsfragen hätte man besser ganz weggelassen, eine Italienerin laberte was und wollte andeuten, dass die AACM eine rassistische Politik vertreten hätte (Mitchell entgegnete darauf aber rasch, dass es doch bedenkenswert sei, wie immer nur die Mehrheitsgesellschaft die Frage stelle, warum die Minderheiten eigene Räume brauche, in denen sie ihre Kultur ausleben könne … so wurde aus dem ärgerlichen Votum der neunmalklugen Dame ein Schuh, die Dame wurde denn auch ziemlich kleinlaut und meinte, sie sei natürlich „völlig einverstanden“ mit allem, was er sage. Ein anderer, der das ganze Festival im Sun Ra T-Shirt (hoffentlich nicht im selben einen!) rumlief meinte, es hätte doch Verbindungen zwischen Sun Ra und der AACM gegeben, ob Mitchell dazu was erzählen könne. Er meinte dann trocken, einer der AACM-Musiker, der in den Chicagoer Anfangszeiten des Arkestra bei Ra gewesen sei und danach zur AACM stiess, hätte gesagt, das sei im Vergleich wie ein Gefängnis zur Freiheit. Wohl nicht die Antwort, die Sun Ra-Fanboy hören wollte …

    Am Nachmittag ging es ins La Filature, einen tollen Saal, der sonst wohl in erster Linie für klassische Konzerte genutzt wird. Es gab diesmal nur ein Set, gespielt vom Quartett Der Verboten. Der Bratschist Frantz Loriot trat schon einige Male am Météo auf und wurde eingeladen, um ein neues Projekt auf die Beine zu stellen. Dieses Quartett mit Loriot an der  Viola, Antoine Chessex am Tenorsax, Cédric Piromalli am (offenen) Flügel und Christian Wolfahrt an Percussion spielte eine lange Improvisation, inmitten des kreisförmig angeordneten Publikums. Sehr faszinierend, wie die vier den Raum bespielten, schade dass man nicht zirkulieren konnte (stattdessen war man angewiesen, sich ruhig zu verhalten, da France Musique anwesend war, um für „A l’improviste“ aufzuzeichnen … dumm nur, dass die Konzerte sonst um 17:30 begannen, dieses aber schon für 17:00 angesetzt war, und daher hordenweise Leute zu spät kamen, die leider auch alle noch in den Saal gelassen wurden). Ein kleines aber feines Highlight des Festivals für mich – ich bin auf die Übertragung gespannt (Badenhorst wurde schon ausgestrahlt, Drake/Parker/Thomas gibt es am 22.9., für Der Verboten und Green Dome stehen die Termine noch nicht fest – soweit ich sah wurde praktisch alles mitgeschnitten, aber diese vier wurden nach Festival-Ende per Email mitgeteilt).

    Dann ging es gleich weiter ins Noumatrouff, wo es um 21 Uhr nur noch zwei Gruppen zu hören geben sollte, wo dafür um 19 Uhr nochmal ein kleines (kostenloses) Konzert stattfand. Native Instrument spielten in der teils ungestuhlten Halle, mittendrin: Stine Janvin Motland an Stimme und Elektronik und Felicity Mangan, die field recordings einspielte und weiteres electronisches Equipment vor sich auf dem Tisch liegen hatte. Die Musik – die eine Art künstliche Rekonstruktion von Naturgeräuschen, gesampelt und geloopt, sein wollte (was auch durchaus gelang!) – entpuppte sich als nahezu tanzbar, ziemlich laut und einmal mehr nichts für die traditionelleren Jazzheads im Publikum (für einmal waren die Horsts, die in der Reihe vor uns sassen, vier ältere Schweizer, Fremdschämen angesagt). Für mein Empfinden aber ein weiteres, faszinierendes Set, das mit einer guten halben Stunde gerade richtig lang war.

    Dann ging es ein letztes Mal zum Essensstand … das Bier war inzwischen aus („Bier“ bestenfalls, es handelte sich um Heineken), die Alternative, ein französisches Blanche, war höchstens zum Zähneputzen geeignet … und Wein ist bei der Hitze nichts für mich. Aber gut, nüchtern Musikhören ist auch nicht übel, gerade wenn Roscoe Mitchell ansteht … die Vorfreude war gross, ich hatte ihn davor gerade mal einmal gehört, solo am Unerhört 2004, ein unglaublich intensives und eindrückliches Konzert, bei dem er zwischen dem Alt und dem Sopransaxophon wechselte.

    Draussen, auf dem Vorplatz zwischen den Ständen und Festbänken, trieben sich öfter auch die Musiker herum … und unter ihnen war dieser kleine Mann mit der immensen Stimme – Douglas Ewart. Noch einer der alten Chicagoer Garde, den ich natürlich auch noch nie live hören konnte.

    Das erste Set des Schlusskonzertes spielte die Combo Sonic Communion mit Jean-Luc Cappozzo an der Trompete, Douglas Ewart in bester AACM-Manier mit einem (für seine Verhältnise kleinen) Instrumentarium: Sopraninosaxophon, Hölzflöten, Glocken, Englischhorn), Joëlle Léandre und Bernard Santacruz an zwei Kontrabässen, Michael Zerang am Schlagzeug. Im Gegensatz zu einem Bekannten aus der Gegend um Paris, den ich nicht zu treffen erwartet hatte und neben dem ich dann zufällig im Shuttle-Bus zurück ins Stadtzentrum sass, fand ich dass das Zusammenspiel der Franzosen mit den beiden Chicagoern hervorragend funktionierte. Es zeigte am Ende wohl, dass die Konzepte, die aus dem AACM-Umfeld stammen, durchaus offen sind für Stimmen, egal woher sie sind, wenn sie denn mit dem offenen Spielkonzept (offen heisst wohlgemerkt nicht: frei) zugange kommen. Die beiden Bässe – Léandre mit Pick-Up, Santacruz (1956 in Algiers geboren, mir zuvor unbekannt) mit Mikrophon vor dem Bass, was leider dazu führte, dass sein Bass etwas zu leise war – fungierten als eine Art Anker, sie öffneten Räume, über denen sich Cappozzo und Ewart auf ihre verspielte und dennoch ernsthafte Weise entfalten konnten. Räume, die man nutzen kann, die man aber auch einmal leer bleiben lassen kann. Dahinter Michael Zerang am Schlagzeug, der sich wie die anderen auch sichtlich wohlfühlte, wenngleich die Konzentration vor allem bei Léandre auch als Anspannung greifbar schien. Gegen Ende begann Léandre dann auch, ihre Stimme einzusetzen (ich hörte sie eins im Duo mit Lauren Newton … und fragte mich damals einige Male, warum die beiden eigentlich nicht zur Oper gegangen sind). Sie schnaubte, sprach, sang – aus den wild dahinströmenden und ruppig ausgespuckten Silben wurden Worte, und schliesslich gesellte Ewart sich dazu. Ein fröhliches Ende eines guten Sets – das pünktlich zum Jubiläum bewest: Dada lebt.

    Schliesslich, Samstag 22:30, das letzte Konzert – und jenes, das mich überhaupt zur Fahrt nach Mulhouse bewegt hatte (zusammen mit The Thing, die ich in Zürich wenigstens einmal verpasst hatte): Roscoe Mitchell Trio mit Mark Sanders am Schlagzeug und dem John Edwards am Kontrabass. Edwards halte ich weiterhin für den derzeit besten Bassisten für freien Jazz von Evan Parker über Roscoe Mitchell hin zu Peter Brötzmann – und er bot auch mit Mitchell wieder Erstaunliches, spielte wie ein besessener und bot dem zirkuläratmenden Saxophonisten mit seinen Klangkaskaden und -attacken munter Paroli. Mark Sanders sass etwas gar weit hinten, die Rollenverteilung war jedenfalls schon von der Anordnung her klar: da der Star, dort die Begleiter. Mitchell schien sich nicht zu kümmern, zog sein Ding durch – doch er tat das mit der Sicherheit, die eine so luxuriöse, so alerte Rhythmusgruppe eben bieten kann. Und er tat es im Wissen, dass diese den Karren auch nicht in den Dreck fahren würden, wenn er sich mal zurückzog, sich hinsetzte, tief konzentriert und dennoch entspannt. Das Trio kehrte am Ende sogar noch zu einer kurzen Zugabe zurück auf die Bühne – und keine Angst, wie schon beim Haupt-Set: BAMM! Und sie waren da, von Null auf Hundert buchstäblich innert eines Augenblickes. So wurde das Abschlusskonzert ganz zum erhofften Höhepunkt, das für mich so ziemlich alles in den Schatten stellte (auch wenn das Vergleichen von so unterschiedlichen Konzerten verdammt schwer fällt).

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    vorgarten

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    wow, super, vielen dank! hört sich alles sehr toll an. die these mit parkers reise-bass müsste man mal überprüfen. pat thomas kann man – ganz anders wahrscheinlich, mit synthesizer – auf einigen grandiosen tony-oxley-quartett-aufnahmen aus den 90ern bewundern (mit derek bailey und matt wand, ebenfalls synthesizer). als akustischen pianisten kenne ich ihn gar nicht. schade, dass clayton thomas offenbar nicht in topform war – ich habe eigentlich keinen schlechten auftritt von ihm erlebt (und das waren mindestens so um die 30).

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    gypsy-tail-wind
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    Jazzfestival Willisau, Samstag 3. September

    In Mülhausen schautemei ein enger Freund des einen Bekannten vorbei, den ich ebenfalls seit einigen Jahren kenne und mit dem ich einige tolle Konzerterlebnisse teile (die anderen beiden gehen bis in die Siebzigerjahre zurück). Der fragte mich (das war vor dem Solokonzert von Clayton Thomas), ob ich denn am darauffolgenden Samstag nach Willisau ginge, da gäbe es einen John Zorn-Marathon … ich sah zunächst nur den Konzertblock um 14 Uhr und war noch viel zu absorbiert vom Météo (das ja noch nicht einmal zu Ende war). Auf dem Zug heim, am Sonntagmittag, buchte ich dann ein Zimmer und kaufte Tickets für die beiden Hauptkonzerte am Samstag, das Schlusskonzert am Sonntagnachmittag und für John Edwards, der am Samstag um 11 Uhr im Rathaus solo spielen würde. Letzteres war sehr passend, denn Edwards ist nicht nur zweifelsfrei jener Musiker, den ich dieses Jahr am häufigsten gehört habe, er ist wohl auch mein derzeitiger Lieblingsbassist (nicht dass ich sowas wirklich habe, aber …) – und wir unterhielten uns in Mülhausen nach den Solo-Sets von Majkowski und Thomas (und Parker, der ja solo kaum Bass spielte) darüber, dass es doch toll wäre, nun auch noch John Edwards solo zu hören.

    Es galt also, früh aufzustehen, um acht Uhr einen von Wandergruppen, Rotwein saufenden Senioren eines Männerturnvereins auf Wochenendausflug etc. völlig überfüllten Zug zu besteigen, in Luzern am Bahnhof mich durch die alle diese in Funktionskleidung gehüllten Stadtflüchtlinge und Landverklärer zu kämpfen und den Bummelzug ins Hinterland nach Willisau zu nehmen. Dort rein ins hübsche alte Städtchen (eine breite Gasse, Samstagmorgen mit Bauernmarkt … und Strassencafés, bei denen die örtlichen Rentner ihren Frühschoppen tranken … ich lief direkt in John Edwards rein, der mit einer roten Plastic-Sonnenbrille aus dem Rathaus kam und mich erkannte, wir quatschen ein wenig, er ging dann in ein anderes Café, wo die vom Festival sassen, ich trank einen doppelten Espresso …

    Erst kurz vor 11 füllte sich der Theatersaal im Dachstock des Rathauses – drei Treppen hoch (für den Kontrabass gibt es einen Lift), ein witziger Saal mit naiven Trompe-l’oeil-Malereien (die natürlich kein Auge zu täuschen vermögen), Helvetia in Stein aufs Holz gemalt. Edwards spielte ein Solo-Set, das so ziemlich alles in den Schatten stellte, was ich an Bass-Solo bisher gehört habe (die Ausnahme ist Christian Weber) – und das frühe Aufstehen und leiden im Zug hatte sich schon einmal gelohnt. Unter den anderen Frühankömmlingen fand sich auch der Herr, der die Fabrikjazz-Konzerte und das Taktlos organisiert sowie seine Frau (Partnerin, das weiss ich so genau nicht, aber Frau an seiner Seite jedenfalls, das ist es ja worum es geht) und als wir herausfanden, dass ich im selben „B&B“ ein Zimmer hätte, erzählten sie mir belustigt vom Weg dahin … ca. ein Kilometer aus dem Dorf heraus, der Landstrasse entlang (zum Glück heute mit Fahrradweg auf beiden Seiten – in der Gegend ging ich auch schon mitten in der Nacht direkt am Strassenrand, wo die Autos 80 fahren dürfen, aber wenn es gerade aus geht auch gerne etwas tiefer drücken – selbstmörderisch, aber als Soldat nach einigen Bieren und einem guten Abend mit Kollegen, was tut man da nicht alles für besagte Helvetia? In der Wiese gehen? Bestimmt nicht, dann müsste man die Schuhe putzen …). Also: Supermarkt rechts, Bahnübergang, Solarium links, Aldi links, nächster Supermarkt links, dann nichts und schliesslich rechts ein Komplex in dem gerade irgendwelche „ladies“ angefeuert werden, die vor dem Fitness-Studio einer tumben Samstagnachmittagsbeschäftigung nachgehen … dahinter ein Laden für Biker, darüber das Hotel, und noch weiter hinten, wie könnte es anders sein, nicht nur ein Bauernhof sondern gut Schweizerisch auch das Schützenhaus. (Zimmer war aber völlig okay, Service nett, Sonntagsbrunch spitze, Preis insgesamt völlig im Rahmen.)

    Gut, dann wieder an der prallen Sonne (dafür hatte ich ja in Mulhouse schon geübt) zurück zum Festivalgelände gehetzt, das etwas ausserhalb des Dorfzentrums, natürlich auf der anderen Seite, liegt. Auf den Tickets stand schliesslich was von Türöffnung 12:30. Konzertbeginn war auf 14 Uhr angesetzt, bald klebten da Zettel, dass Türöffnung um 13:30 sei, man sich für den Fehler auf den Print-at-home-Tickets entschuldige. Ebenfalls hingen da Zettel, auf denen im Namen von John Zorn jegliches Photographieren und Mitschneiden untersagt wurde: man sei schliesslich hier, genau um zusammen hier zu sein, jetzt, und zu erleben, was man erlebt. Gut. Das hat dann auch geklappt, nicht einmal die Pressephotographen durften tätig werden, bloss einer vom Festival schlich am Bühnenrand herum und auch mal kurz vor dem Publikum. Wäre schön, wenn das immer so zurückhaltend wäre und v.a. wenn die Leute ihr zwanghaften Handy-Filmen ausschalten könnten (klar, ich habe oben auch ein paar Photos eingestellt, ich nerve mich wenn ich welche mache und ich nerve mich wenn ich keine mache, im Normalfall zücke ich das Ding, drücke fünfmal, stecke es wieder ein, eine Sache von 10 Sekunden, redbeans hatte z.B. nicht mal mitgekriegt als ich neulich in Brüssel bei Rhoda Scott ein paar Photos machte – geht also).

    Beide Konzertblöcke dauerten ca. zwei Stunden, es gab je drei etwa 40minütige Sets, die Instrumente waren allesamt nebeneinander aufgestellt (was beim ersten Block mit zwei Drum-Kits und Cyro Baptistas riesigem Percussion-Arsenal ziemlich eindrücklich war, auch die B3 stand schon da und der Leslie drehte, obwohl sie erst am Abend zum Einsatz kam).

    Masada Quartet
    John Zorn (as), Dave Douglas (t), Greg Cohen (b), Joey Baron (d)

    Den Auftakt machte die Kernformation des Zorn’schen Universums, Masada. Diese Gruppe spielte in den späten Neunzigern in Willisau ein etwa doppelt so langes Set, das meine erste Begegnung mit Zorn und seiner „Radical Jewish Culture“ war – und nachhaltig einschlug. Dave Douglas hörte ich wenige Jahre später im Konzert mit seinem elektrischen Projekt mit Craig Taborn und Jamie Saft an Fender bzw. Wurlitzer, Chris Speed, Ikue Mori etc., später auch mit seinem eher langweiligen Quintett mit Donny McCaslin und Uri Caine. Aber mit Zorn hat es tatsächlich erst jetzt geklappt. Ebenfalls mit Greg Cohen, der ja wohl, so gefragt wie er ist, kaum je auf Tour gehen dürfte. Joey Baron hingegen war neulich ja etwas enttäuschend, im Duo mit Irène Schweizer eigentlich eine Fehlbesetzung (auch wenn das wohl beide nicht so sehen würden) und im Quartett mit Copland, Alessi und Gress zwar mit letzterem eine tolle Rhythmusgruppe bildend, aber insgesamt klappte auch das nur halb. Aber mit Masada war nun alles so perfekt wie erhofft. Das Quartett spielte druckvoll und präzise, gerade so, wie man es von den Aufnahmen her kennt. Dabei gab es genügend Raum für Soli von allen vieren und keiner gab sich eine Blösse. Da passte einfach alles. Etwas schade nur, dass es so kurz war, dass es auch diesen Höhepunkt gleich zum Auftakt gab.

    Banquet of the Spirits plays Masada — The Book Beriah
    Shanir Blumenkranz (b) Tim Keiper (d) Brian Marsella (keys) Cyro Baptista (perc)

    Doch auch das zweite Set war toll. Blumenkranz am Bass war das eigentliche Zentrum der Musik, der jugendliche Keiper spielte ausgespaarte aber druckvolle Beats, die sich sehr schön mit Baptistas Spiel – das von Glockenklängen über Berimbau bis hin zu heftigen Timbales-Passagen alles zu bot, was die Latin Percussion hergibt – verzahnte. Marsella (der primär den grossen Flügel spielte, der links auf der Bühne stand und im ganzen Zorn-Teil nur hier zum Einsatz kam) glänzte mit Soli, die haarscharf an den üblichen Latin-Klischees vorbeidonnerten, ohne je in die Falle zu tappen. Im Gegenteil, er brach immer wieder aus, spielte dichte Cluster, schichtete Arpeggios übereinander. Eine durchaus melodieselige Musik, die aber sehr überzeugend dargeboten wurde, in der sich Melancholie und Freiheitswille gewissermassen ausglichen.

    Cleric plays Masada – The Book Beriah
    Matt Hollenberg (g) Nick Shellenberger (keys, voc) Dan Kennedy (b) Larry Kwartowitz (d)

    Alles andere als melodieselig war dann das letzte Set des Nachmittags. Zorn scheint an Metal-Band Cleric einen Narren gefressen zu haben. So ganz begreife ich nicht, warum. Hollenberg ist als Gitarrist zwar durchaus ordentlich, aber sein Spiel war eben auch wieder von solcher Harmlosigkeit, dass ich nicht umhinkam, mir vorzustellen, wie lustig es wäre, wenn ihm jemand den Strom abdrehen würde … der Widerspruch, der sich bei mir so oft einstellt, wenn „harte“ Musik gespielt wird: das ist Kinderkram, Sandkastenspielen für grosse Jungs. Shellenberger schrie und brüllte und grochste sich, hinter seinem Plastic-Clavier stehend, die Seele aus dem Leib, schwang die langen Haare, während Kennedys Bass in den Magen ging und Kwartowitz für starre Beats sorgte. Zorn sass derweil die ganze Zeit links am Bühnenrand (versteckt, aber im ersten Teil sass ich in der Mitte und konnte ihn gerade noch sehen) und grinste sich einen ab. Es gab dann die, nennen wir sie mal „Masada-Momente“, in denen das Plastic-Metall-Strom-Gewitter kurz aufhellte und Hollenberg eine dieser auf leicht fremd klingenden Skalen beruhende Zorn-Melodie spielte … aber das fiel völlig aus den Stücken heraus, die so gesehen in meinen Augen nicht erfolgreich waren.

    Das „Book Beriah“ ist übrigens wie es scheint das dritte Buch Masada. Das zweite, das „Book of Angels“, scheint demnächst mit der dreissigsten Veröffentlichung abgeschlossen zu sein. Auch bei Baptista sass Zorn am Bühnenrand (und am Abend wohl auch wieder, aber da sass ich etwas weit auf der linken Seite und konnte ihn nicht sehen), aber er schien nur zuzuhören, wie die Musiker sein Material umsetzten, ohne einzugreifen.

    Ich unterhielt mich nach dem Konzert noch eine Weile mit meinem Sitznachbarn, einem Zorn-Fan aus Freiburg, der davor auch schon am Festival in Saalfelden gewesen ist und zu Zorn (und wohl dem Jazz) eher vom Rock her gekommen ist. War aber sehr interessant, sich ein wenig auszutauschen (wir sassen am Abend erneut nebeneinander in der vordersten Reihe, waren aber im Gegensatz zu vielen anderen nicht so frech, nach 16 Uhr was auf den Stühlen liegen zu lassen, so waren die Plätze in der Mitte denn bis dahin vergeben. Typisch schweizerisch das (aber in Mulhouse sass auch mal eine impertinente Dame – „je m’en fous, je m’en fous, je m’en fous“ auf einem Platz, den wir sogar noch mit Wasserflasche und anderem Kram besetzt hatten, da gab es ja auch nur kurze Pausen zwischen den Konzerten … Höflichkeit ist kein alemannisch Ding und anstellen können die Schweizer sich nun gar nicht, pöbelhaftes Bauernvolk).

    Asmodeus plays The Bagatelles
    Marc Ribot (g) Trevor Dunn (b) Tyshawn Sorey (d) John Zorn (cond)

    Beim zweiten Block gab es eine Umstellung, bei deren Ansage Zorn einen Blödsinn erzählte (er hätte gehört, viele wollten Simulacrum nicht hören, daher spielten die jetzt am Schluss und alle müssten sie hören, hä hä hä … ich weiss nicht, ob er Asmodeus meinte, denn dazu sassen nun alle drin, sie spielten statt Simulacrum das erste Set, doch mit Ribot und Sorey, wer wollte sie Gruppe denn nicht hören, sie versprach doch – wenn man nicht dank redbeans um Julian Lage gewusst hätte – am meisten). Egal, es ging also gleich wieder verdammt laut und intensiv los. Leider stand die Orgel zwischen mir und Sorey, doch dieser entpuppte sich als echte Naturgewalt, dabei all den Sinn für Differenzierung mitbringend, der den Drummern der anderen beiden „lauten“ Gruppen etwas abging. Wahnsinn! Zorn sass rechts vorn, auf einem Stuhl direkt neben Ribot, hatte ein Notenpult vor sich, gab Einsätze und Anweisungen – manchmal sagte er was, manchmal fuchtelte er herum, ein paar Male zupfte er Ribot am Ärmel, wenn dieser völlig versunken solierte und Zorn die Musik wieder in eine andere Richtung lenken wollte. Das klappte alles erstaunlich gut, Zorn griff zwar dosierend ein, aber er tat das so, dass am Ende alles passte, dass die Ribot zwar viel solistischen Raum kriegte, dass das Set aber nie ausuferte. Dunn gelang dabei das Kunststück, direkt in der Magengrube zu landen, völlig verzerrte dröhnende Klänge zu produzieren und dabei doch immer auch melodisch ins Geschehen einzugreifen.

    Gyan Riley and Julian Lage play The Bagatelles
    Gyan Riley (g) Julian Lage (g)

    Der Höhepunkt des zweiten Teiles war dann aber das zweite Set – zwei Jungs mit akustischen Gitarren, zwei Stühle, zwei Mikrophone (die Gitarren selbst unverstärkt – der Sound in der Halle war übrigens hervorragend, bei allen Sets, auch da wo es mächtig laut wurde). Gemäss Programmheft spielt Riley (Sohn von Terry Riley) auf Nylon-, Lage auf Metallsaiten. Die beiden hatten sichtlich Freude am gemeinsamen Spiel, spornten sich an, wechselten sich ab, traten in einen dichten Dialog, gewährten einander aber auch immer wieder Freiräume zur eigenen Gestaltung. Das Repertoire stammt dabei wie bei Asmodeus aus „The Bagatelles“, einer Gruppe von Miniaturen, die Zorn gemäss dem Zorn-Fan aus Freiburg nicht aufgenommen haben will. Sowohl Riley als auch Lage sind phantastische Gitarristen, es wäre schon ein Ereignis gewesen, einen von ihnen zu erleben, aber sie beide zusammen zu hören – und dann auch noch zu sehen, wie perfekt sie aufeinander abgestimmt sind – war wirklich phantastisch. Am Ende für mich noch vor dem Masada-Set das Highlight des Zorn-Programmes.

    Simulacrum John Medeski (org) Matt Hollenberg (g) Kenny Grohowski (d)

    Den Abschluss machte dann das Orgeltrio Simulacrum mit John Medeski, erneut Matt Hollenberg an der Gitarre und Kenny Gohowski am Schlagzeug. Da ging es einmal mehr ordentlich zur Sache, Gohowski war aber ordentlich nuanciert bei aller rohen Kraft, Hollenberg entpuppte sich jetzt als durchaus hörenswerter Musiker und Improvisator, auch wenn er natürlich nicht ohne einige der üblichen Stromgitarren-Rock-Klischees auskam. Medeski jedoch war eine echte Überraschung. Ich fand Medeski-Martin-Wood immer todlangweilig, auch wegen des Basses (ein Organist mit Selbstachtung braucht keinen Bass, verdammt! – gut, es gibt wenige Ausnahmen wie Freddie Roach, oft aber nicht immer Shirley Scott … aber andere mag ich kaum gelten lassen). Einen Bass statt einer Gitarre in ein Orgeltrio zu packen halte ich für keine gute Idee, aber der Erfolg mag ihnen Recht geben. Entsprechend jedoch war mir Medeski nur schlecht vertraut, u.a. von der phantastischen Scheibe mit Nova Express auf Tzadik von ein paar Jahren – aber Orgel auf Konserve (edit: er spielt eh Klavier auf dem Album, daher hatte ich auch keine Erinnerung an seine Orgel dort…) und Orgel live ist ja wirklich nicht vergleichbar und so war ich aus schönste überrascht davon, wie toll Medeski seine unförmige Kommode zu bedienen wusste und wie toll das Trio insgesamt funktionierte. Das Set war allerdings kurz (eher 30 Minuten, das Gitarrenduo hatte wohl etwas länger gedauert) – und es entpuppte sich auch als sehr gute Idee von Zorn, die Sets ohne Unterbruch zu programmieren und kurz zu halten. Denn nach sechs Gruppen in vier Stunden war man doch ganz ordentlich mit Musik gefüllt (mit knapp vier Stunden Pause dazwischen, die „ladies“ waren mit den Hanteln und dem anderem Foltergerät durch als ich mich nachmittags eine Stunden hinlegen ging).

    Ich blieb dann noch zum „Late Spot“, der im ersten Stock der Festhalle stattfindet, in einem kleinen Saal mit Bar. Da spielte das Duo Qoniak (aka Cognac), zwei Romands, von denen ich schon als sie beim Soundcheck waren ein Ohr voll nahm. Vincent Membrez machte sich an Synthesizern zu schaffen während der phantastische Drummer Lionel Friedli für tolle Beats sorgte. Das ganze war einigermassen tanzbar und ziemlich gut. Als sie dann den finalen Rausschmeisser anstimmten, machte ich mich auf den Heimweg, vorbei an Aldi und dem Solarium, in der Hoffnung die Biker würde in der Nacht und die Schützen am Sonntagmorgen ruhen – so war es denn zum Glück auch. (John Edwards hatte übrigens am Vorabend beim Spätkonzert mit Phall Fatale gespielt, einer Band, die ich nicht wirklich verstehe, habe sie mal in Zürich gehört vor ein paar Jahren – andernfalls hätte sich seine Anreise für das Solo-Konzert kaum gelohnt.)

    Jazzfestival Willisau, Sonntag 4. September

    Am nächsten Morgen war ich früh genug auf, als dass ich auch wieder zum Konzert um 11 Uhr ging, es spielte Im Wald, die Gruppe um den Altsaxophonisten Tobias Meier, die ich vor einigen Monaten bei einem Stubenkonzert eines Freundes gehört hatte. In der Rathausbühne in Willisau – trotz merklicher Abkühlung draussen unter dem Dach noch unerträglich heiss – spielte das Quintett allerdings vergleichsweise befreit auf, warf die Kontrolle, die mir bei Meier manchmal etwas zu stark schien, über Bord. Es gab eine Art zeitgenössische, improvisierte Kammermusik mit Meier, dem Trompeter Matthias Spillmann, Frantz Loriot an der Bratche, Nicola Romanò am Cello und Raffaele Bossard am Kontrabass – im Halbkreis links das Saxophon, rechts die Trompete, dazwischen die drei Streicher. Ein sehr schönes, ziemlich langes Konzert. Gut, dass ich hin bin (hätte eh um 11 oder 12 auschecken müssen, aber wach war ich dann sowieso schon längst, obwohl keine Schützen zugange waren).

    Auf dem Festivalgelände gibt es auch in Willisau Stände mit Essen und Getränken (richtiges Bier und sogar von einer unabhängigen kleinen Brauerei aus der Schweiz – so macht man das) und in einem Zelt auch Bands, die zwischen den Haupt-Sets aufspielen. Am Samstagmittag war das Gabriela Krapf & Horns, die Pianistin/Sängerin Krapf mit drei Bläsern (t, tb, ts) – das war mir etwas zu harmlos-hübsch, aber es hat wohl seinen Zweck erfüllt … musique d’ameublement, wie man mit der Formulierung eines anderen Jubilars sagen könnte. Am Samstagabend gab es (vor dem zweiten Zorn-Konzert) dann einen jungen Singer/Songwriter, der sich Long Tall Jefferson nennt – nicht für mich, pardon. Sonntag spielte dann eine Gypsy Jazz-Kapelle auf, Vendredi Soir Swing (mit Gitarre/Gesang, Gitarre, Kontrabass, Tenorsax/Klarinette) – das war zwar kompetent gemacht, der Frontmann hat eine gute Stimme, aber rhythmisch passte für mich so einiges nicht (sowohl beim Spiel wie auch beim Gesang) – irgendwie für mein Empfinden falsch phrasiert, keine Ahnung – kam mir jedenfalls leider ziemlich swingfrei vor, obwohl die Jungs einen sympathischen Eindruck hinterliessen und fraglos was konnten.

    Das Hauptkonzert begann dann um 14 Uhr, ich schaffte es wieder in die erste Reihe. Von aufgeschnappten Gesprächsfetzen wurde klar, dass die meisten wegen Joachim Kühn da waren – ich nicht. Ich wollte mir, wenn ich schon in Willisau war, die Chance nicht entgehen lassen, das Duo Mat Maneri/Randy Peterson zu hören. Maneri kenne ich – ab CD – schon sehr lange, es gibt ja einige Hat-Veröffentlichungen von und mit ihm und denen steige ich schon seit dem Ende meiner Gymnasiastenjahre hinterher (von „The Long March“ habe ich sogar noch die alten harART-CD-Ausgaben, nie durch irgendein Remaster ersetzt). Maneri sass mit seiner elektrischen Geige auf einem Stuhl, schräg rechts hinter ihm Randy Peterson am Schlagzeug (am Vortag gab es ein Rock- und ein Jazz-Kit für die Zorn-Gruppen, Peterson spielte glaube ich einen Hybrid von beiden, wohl mit weiteren Teilen ergänzt, Eric Schaefer  spielte dann ein eigenes, das auf einem separaten Bühnenelement stand, er war also leicht erhöht neben dem Bass). Peterson langte heftig zu, doch die Musik des Duos hatte etwas Impressionistisches, etwas Verspielt-Introvertiertes. Einmal intonierte Maneri – wie durch Zufall im freien Ideenfluss dahin gelangt – die Melodie eines Standards (ich hatte gedacht, es sei „Body and Soul“, aber in der Zeitung stand es sei „Ain’t Misbehavin'“ gewesen, bin mir nicht mehr sicher, das Flüchtige des Augenblickes in der Improvisation lässt sich ja schwer festhalten). Jedenfalls war das ein intimes Set, schnörkellos, direkt, aber auch nebelverhangen – dass es draussen grau und regnerisch wurde, passte sehr gut.

    Danach folgte eine längere Umbaupause, der grosse Flügel musste in die Mitte, das andere Schlagzeug aufgebaut oder hingeschoben werden, ein grosser Bass-Verstärker … und wie es dann weiterging (oder auch nicht) steht ja bereits ein paar Posts weiter oben. Schlecht war das Kühn-Set nicht gerade, aber nach all der feinen Musik, auch am Sonntag mit „Im Wald“ und Maneri/Peterson war es halt doch ein Antiklimax zum Ausklang – und das ist natürlich sehr, sehr schade.

    Das nächste Konzert steht übrigens in exakt einer Woche an: Barry Guys Blue Shroud Band spielt hier um die Ecke, CD-Taufe, dasselbe Programm wie im letzten Herbst am Unerhört. Ich gehe wieder hin, Barry Guy ist eine Bank. Und ein Freund, der auch mit will, war im November nicht dabei.

    zuletzt geändert von gypsy-tail-wind

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